Historiker-Konferenz in München

Wie die Geschichte den Brexit beeinflusst hat

Belgien: Union Jack Flagge vor Europäischer Kommission in Brüssel.
Der Brexit ist für viele immer noch ein Rätsel. Historiker versuchten auf einer Konferenz in München, den Gründen für das Votum näher zu kommen. © picture alliance / dpa
Von Mathias von Lieben · 25.04.2018
Die Briten sind Eigenbrötler - so wird das Votum für den Brexit gerne begründet. In München haben britische, deutsche und amerikanische Historiker nun nach weiteren Gründen für den geplanten EU-Austritt gesucht. Die Erklärungsversuche waren teilweise überraschend.
Oktober 2016. Drei Monate nach dem Brexit-Referendum: Der britische Außenminister Boris Johnson äußert sich im Unterhaus: Wenn jemand für die Queen eine neue Yacht bauen möchte, würde er das nicht verhindern. Johnson meinte die "Royal Yacht Britannia", mit der die Queen bis 1997 durch die ehemaligen Kolonien Großbritanniens geschippert ist. Wünscht er sich ein British Empire 2.0? Das fragten sich viele. Nicht nur Boris Johnson bediente diese Lesart des Brexit-Votums. Auch andere Politiker kokettierten mit vergangenen Empire-Zeiten.
"Glauben diese Menschen, dass sie das britische Empire wieder aufbauen werden? Nein, das glaube ich nicht. Aber es ist Teil ihrer politischen Agenda", sagt Dane Kennedy, Professor für Geschichte und Internationale Beziehungen an der US-amerikanischen George-Washington-Universität. Er glaubt, dass Johnson und Co aus Kalkül handeln. Denn sie wissen: Trotz der Kolonialvergangenheit sind viele Briten stolz auf ihre Geschichte.

Kolonialzeit-Verbrechen? Vielen keine Entschuldigung wert

Daher empfanden einige von ihnen die öffentlichen Entschuldigungen dreier ehemaliger Premierminister für britische Verbrechen während der Kolonialzeit als Affront: Tony Blair entschuldigte sich 2006 für die britische Beteiligung am Sklaven-Handel, Gordon Brown 2010 für das Umsiedlungsprogramm von Kindern im 19. Jahrhundert - und ebenfalls 2010 hat David Cameron für den sogenannten Blutsonntag in Nordirland um Verzeihung gebeten. Es folgte heftige Kritik.
Der britische Premier Cameron verlässt Downing Street.
Der britische Premier David Cameron entschuldigte sich 2010 für den sogenannten Blutsonntag in Nordirland.© picture alliance / dpa / Andy Rain
Dane Kennedy: "Für sie war das eine Abwertung der britischen Geschichte und des britischen Stolzes. Und eine Ablehnung dessen, woraus sie sich ihre britische Identität geformt hatten. Und da ist die Verbindung zum Brexit, weil diese Äußerungen eine Reaktion provoziert haben. Und Teil dieser Reaktion war, zu fordern, dass Großbritannien wieder mehr zu sich selbst finden müsse, indem es Kraft aus seiner imperialen Vergangenheit zieht."

Viele Deutungsmöglichkeiten für den Brexit

"Understanding Brexit - den Brexit verstehen": So lautet einer Titel der Konferenz vergangene Woche im Münchner Institut für Zeitgeschichte: auch zwei Jahre nach dem EU-Austritt Großbritanniens versuchen sich daran noch viele. Dane Kennedy ist als amerikanischer Professor ein Exot unter den teilnehmenden Historikern. Die meisten sind Briten, einige Deutsche sind auch dabei. Die Ausgangsfrage für die zweitägige Veranstaltung: Müssen bisherige Narrative britischer Geschichte im Angesicht des Brexits überdacht werden?
Dass die Rückbesinnung auf das Empire beim Referendum eine Rolle gespielt hat, ist für viele der anwesenden Historiker unbestritten. Doch, wie es die Mitorganisatorin Martina Steber vom Institut für Zeitgeschichte formuliert: "Gleichermaßen zeigt die Tagung aber auch, wie komplex dieses Thema ist, mit dem wir uns auseinandersetzen."
Das wurde auf den sechs verschiedenen Panels und einer Podiumsdiskussion sehr deutlich. Zwei Erzählstränge dominierten die Konferenz. Mit dem einen wurde versucht, den Brexit rational und anhand geschichtlicher Ereignisse zu erklären: der Empire-Vergangenheit zum Beispiel, der britischen Insellage oder dem ausgeprägten Wunsch nach Souveränität. Mit dem anderen wurde diese Geschichte uminterpretiert, neu erzählt: Dabei spielten besonders kulturgeschichtliche Eigenheiten Großbritanniens eine Rolle.

Ist Charles de Gaulle mitschuldig am Brexit?

Der erste Redner: James Ellison, Historiker an der Queen Mary Universität in London. Sein Thema: Das Verhältnis von Großbritannien und Europa von 1945 bis 1973 neu gedacht:
"In den 50er-Jahren haben es die britischen Regierungen vermieden, eine öffentliche Debatte über Europa zu führen, weil sie fürchteten, dass die britische Gesellschaft noch nicht bereit dazu war, darüber nachzudenken in Europa zu sein. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg war auch noch zu frisch. Während den 60er-Jahren wurde es zu einer größeren öffentlichen Debatte, weil der erste britische Versuch, der Europäischen Gemeinschaft beizutreten, von den Franzosen blockiert wurde. Die britische Öffentlichkeit empfand das als Betrug, besonders weil sie Charles de Gaulle im Zweiten Weltkrieg unterstützt hatten. Die Idee, dass die Briten vom Start weg nie gewollt waren, ist immer noch wichtig für die ältere Generation der Wähler - nicht für die Jungen, aber die Älteren."
Charles de Gaulle in Hamburg 1962.
Die Franzosen unter Charles de Gaulle haben den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft zunächst abgelehnt. © picture alliance / dpa
Die Ablehnung de Gaulles verfängt im kollektiven Bewusstsein der älteren Generation. Ein möglicher Erklärungsansatz für das Wahlverhalten der älteren Briten beim Referendum. Dazu passt ein Zitat des ehemaligen britischen Premierministers Tony Blair: "Das größte Problem, dass die Briten mit der EU haben, ist, dass sie sie nicht selbst erfunden haben."
Als die Briten 1973 endlich Mitglied werden durften, konnte Ted Heath, damals Premierminister, das nicht mehr als großen Erfolg verkaufen. Seitdem sind Europa und die EU für viele Briten für immer "die anderen". Die gegen uns. Großbritannien gegen Europa. Der Beitritt damals war eine Zweckehe - keine Europa-Liebe.

"Im kulturellen Bereich viel europäischer geworden"

Von 1973 in die jüngere Geschichte. In der Berichterstattung kurz vor dem Referendum 2016 bestimmten euroskeptische Medien wie die Daily Mail oder der Telegraph die Agenda. Für viele ein Grund, dass die Briten für den EU-Austritt stimmten. In der Populärkultur hingegen beobachtet Tobias Becker, der am Deutschen Historischen Institut in London dazu forscht, eine so große Verfügbarkeit europäischer Kultur wie niemals zuvor:
"Im Fernsehen kann man viel deutsches, skandinavische, französische Serien sehen, zum Teil aus Tatort-Episoden, die dort mit Untertiteln da gezeigt werden und sich großer Popularität erfreuen. Auf dem Buchmarkt sieht man Phänomene wie Elena Ferrante und Karl Ove Knausgård, die sehr erfolgreich sind in Großbritannien. Es wird mehr und mehr europäische Literatur übersetzt und auch besprochen und gelesen. Insofern, in diesem kulturellen Bereich, ist Großbritannien viel europäischer geworden und Europa auch sehr viel enger zusammengekommen.
Die Frage ist natürlich, wie kann man das mit einer Sache wie Brexit vereinbaren und das vor allem jüngere Leute, die das konsumieren, die dann pro-europäisch sind und ja auch tendenziell eher Remain gestimmt haben und hat vielleicht diese Verfügbarkeit von anderen Kulturen zu einem Backlash bei älteren Leuten geführt, die vielleicht lieber britische Produkte im Fernsehen sehen."

Der Brexit als Wett-Ergebnis?

Die Suche nach alternativen Deutungsmustern für den Brexit - sie beginnt erst jetzt so richtig. Viele Konferenz-Teilnehmer in München überraschen die Historiker-Runde mit neuen Impulsen. Zum Beispiel Christiane Eisenberg, Professorin für britische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Ihre These: Der Brexit sei das Ergebnis einer Wette. Denn schon im 17. und 18. Jahrhundert pflegten die Briten eine "Gambling-Culture":
"Man muss auch wissen, dass Sportplätze und insbesondere Pferderennplätze beliebte Orte waren, um Wahlkampf zu machen und politische Angelegenheiten zu besprechen, sodass der Wett-Ort und die Politik häufig sehr ineinander übergingen. Die königliche Rennbahn in New Market beispielsweise war ein Platz, wo das Parlament mehr oder weniger geschlossen hinging, wenn dort attraktive Rennen waren. Die Perspektive des Alles oder Nichts, des Gewinnens oder Verlierens ist vielen Briten und insbesondere den Eliten durchaus in Fleisch und Blut übergegangen."
Sie ordnet den Referendums-Entschluss des damaligen, britischen Premierministers David Cameron in diese historische Kontinuität britischer Wettkultur ein:
"Wenn man ein Referendum zu einer Frage mit so weitreichender Bedeutung wie der nach dem Verbleib in der Europäischen Union einfach in eine Ja/Nein-Frage kleidet, in der Hoffnung, dass die Leute schon die richtige Antwort finden werden, dann ist das ein außerordentliches Risiko. Und der Umstand, dass David Cameron eine Woche nach der Brexit-Entscheidung schon zurückgetreten ist, kam im Grunde einem Eingeständnis der Wett-Niederlage gleich."

Den Brexit Schicht um Schicht analysieren

Kurz nach dem Referendum gab sich David Cameron im britischen Unterhaus hingegen noch kämpferisch: Er forderte den Oppositionschef und Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn zum Rücktritt auf.
Lautstarke Auseinandersetzungen, hitzige Diskussionen, die Opposition steht der Regierung konfrontativ gegenüber. Das hat Tradition im House of Commons. Dominik Geppert, Geschichts-Professor an der Universität Bonn, deutet den Brexit auch als Produkt dieser politischen Kultur:
"Und dann schauen Sie auf das Europäische Parlament, das gar nicht so anders aussieht wie der Bundestag: ein großes Rund. Das ist ein ganz anders Politikverständnis. Vorsichtig ausgedrückt erklärt sich daraus, warum die Briten größere Schwierigkeiten haben aus diesem konfrontativen Politiksystem kommend sich im großen Rund der ganz großen Koalition auf europäischer Ebene zurechtzufinden."
Understanding Brexit. Die Historiker auf der Konferenz haben sich daran versucht: Das British Empire, die geografische Lage, kulturgeschichtliche Faktoren und Demütigungen in der Integrationsgeschichte. All diese Aspekte britischer Geschichte müssen im Angesicht des Brexits unterschiedlich gewichtet werden. Konferenz-Mitorganisatorin Martina Steber sagt, dass es für Historiker eigentlich dafür gehen muss, "ganz unterschiedliche temporale Schichten freizulegen, die in dieser Brexit-Entscheidung dann aufscheinen. Also so etwas wie ein Palimpsest des Brexits zu erzielen und freizulegen."
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