Forscher: Mehr Bildung mindert Geburtenrate

Reiner Klingholz im Gespräch mit Katrin Heise · 31.10.2011
Wie viele Menschen erträgt die Erde? Reiner Klingholz plädiert am Tag der Geburt des siebenmilliardsten Bewohners vor allem für eine längere Sekundarschulbildung von Mädchen in ärmeren Ländern. Sie würden dann nicht mit 13 oder 14 Jahren die Schule verlassen, sondern erst mit 16 "auf dem Heiratsmarkt landen" und wären dann noch eher in der Lage, "ihr Leben auf eigene Beine zu stellen".
Katrin Heise: Nach Hochrechnungen der Vereinten Nationen wird heute der siebenmilliardste Mensch geboren. Während in einem Teil der Welt mit einer zu niedrigen Geburtenrate gerungen wird und die Alterspyramide sich umdreht, ist der andere Teil durch die Überbevölkerung vor kaum zu überwindende Probleme gestellt. Reiner Klingholz beschäftigt sich seit Jahrzehnten schon mit den Herausforderungen des Bevölkerungswachstums. Von ihm stammt das 1994 veröffentlichte Buch "Wahnsinn Wachstum". Inzwischen leitet er das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, ich grüße Sie, Herr Klingholz!

Reiner Klingholz: Guten Tag!

Heise: Zu diesem symbolischen Datum mal, dem Geburtstag des siebenmilliardsten Menschen, da frage ich Sie: Wie viele Menschen erträgt die Erde eigentlich, was glauben Sie?

Klingholz: Das hängt sehr davon ab, was diese Menschen tun. Wenn man jetzt so den durchschnittlichen Konsumstatus eines Weltbürgers nimmt, dann sind wir ungefähr um den Faktor zwei überbevölkert. Also, wir dürften uns nur halb so viele Menschen erlauben, weil wir schlicht und einfach insgesamt als Menschheit zu viele Rohstoffe verbrauchen und zu viel Müll produzieren, den wir unter anderem in der Atmosphäre lassen.

Heise: Wie schnell wächst die Bevölkerung eigentlich noch weiter? Denn wenn man sich mal anguckt: 1804, da gab es eine Milliarde Menschen, über hundert Jahre später zwei Milliarden und inzwischen kommt fast alle zwölf Jahre eine Milliarde hinzu!

Klingholz: Richtig, diese zwölf Jahre, die wir gebraucht haben von sechs auf sieben Milliarden, das ist Rekordniveau. Der nächste Schritt, der geht ein bisschen langsamer, da ist man vermutlich in 14 Jahren angekommen. Aber das zeigt, dass das Bevölkerungswachstum nach wie vor stark ist und vor allem die Länder trifft, die es am wenigsten vertragen können.

Heise: Ich habe sie ja schon ein bisschen gegenübergestellt, die Gegensätze: einerseits die reichen Länder mit ihrem Ressourcenhunger, die für ihre eigene Wirtschaft auf längere Sicht zu niedrige Geburtenraten haben, und dagegen die armen Länder, wo durch Überbevölkerung schon beispielsweise der Kampf ums Wasser absehbar ist. Wo ist dringender eine Lösung vonnöten?

Klingholz: Beides ist dringend zu lösen. Wir haben im Grunde zwei Probleme der Übervölkerung: Das eine ist ein Überkonsum, den wir in den reichen Ländern vormachen, weil wir schlicht und einfach zu viel konsumieren und zu viel Abfallstoffe produzieren, damit richten wir einen Schaden auf der ganzen Welt an. Und auf der anderen Seite haben wir das starke Bevölkerungswachstum in den armen Ländern und dieses Wachstum raubt diesen Ländern praktisch jede Entwicklungschance. Also, die machen sich selber Probleme und wir Reichen machen der ganzen Welt Probleme.

Heise: Wenn wir jetzt mal zu den armen Ländern gucken: Besonders problematisch scheint mir ja zu sein, dass in Ländern mit Überbevölkerung die Anzahl der Menschen, die zu jung ist oder zu alt ist, um zu arbeiten, also die Menschen, die versorgt werden müssen, dass diese Zahl besonders hoch ist und dadurch eben keine wirtschaftliche Entwicklung zustande kommt. Gibt es eigentlich Beweise, dass bei sinkender Geburtenrate tatsächlich die wirtschaftliche Entwicklung wächst?

Klingholz: Beweis ist schwer, aber man kann es umgekehrt formulieren: Es gibt kein Land, das sich in den letzten 50, 60 Jahren entwickelt hat, ohne dass da mal gleichzeitig die Kinderzahlen je Frau, das Bevölkerungswachstum zurückgegangen ist. Also, da gibt es einen ganz klaren Zusammenhang. Und man weiß, dass die Länder, die das relativ gut geschafft haben, durch Programme für Familienplanung, durch Bildung und durch die Schaffung von Arbeitsplätzen den Menschen schlicht und einfach andere Optionen gegeben haben, als ganz viele Kinder zu kriegen. Und dann kommen die Menschen ganz alleine auf die Idee, weniger Kinder zu haben als zu früheren Zeiten.

Heise: Die Senkung der Geburtenrate durch Aufklärung, durch Verhütung, und andererseits die Bildung vor allem für Frauen – das zusammen als Baustein zur Entwicklung, das versucht ja die institutionalisierte Entwicklungshilfe schon seit Jahrzehnten.

Klingholz: Nicht unbedingt. Also, was die Gleichstellung von Frauen in der Gesellschaft anbelangt, ist man jetzt noch nicht so wesentlich vorangekommen. Und was die Bildungsfragen anbelangt, auch nicht. Es ist eins der Millenniumsentwicklungsziele, allen Kindern eine Grundschulbildung zu ermöglichen. Wir wissen aber, dass das nicht ausreicht, um das Bevölkerungswachstum zu beeinflussen. Was es braucht, ist eine Sekundarschulbildung, also bis zum Alter von mindestens 16 Jahren, und zwar insbesondere für Mädchen. Das ist das wesentliche Element, um sowohl das Bevölkerungswachstum zu bremsen, als auch Entwicklung in diesen Ländern zu ermöglichen. Schlicht und einfach, weil dann die Mädchen nicht mit 13, 14 Jahren aus der Schule kommen, wo sie in den armen Ländern sofort auf dem Heiratsmarkt landen, sondern quasi blockiert werden bis zu einem Alter von 16, 17 Jahren und dann auch andere Möglichkeiten haben, ihr Leben auf eigene Beine zu stellen.

Heise: Reiner Klingholz, Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Heute wird der siebenmilliardste Mensch auf der Erde geboren. Herr Klingholz, in Ihrer jüngsten Studie zum Bevölkerungswachstum, da sehen Sie sogar noch Chancen in Afrika. Es wird der Vergleich zu den asiatischen Tigerstaaten genannt. Wie kommen Sie darauf?

Klingholz: Chancen haben alle Länder, die eine große Zahl von jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter haben, wenn gleichzeitig die Kinderzahlen zurückgehen, das heißt, wenn von unten weniger nachwächst. Wenn es diese Länder schaffen, über Bildung und über Investition in Arbeitsplätze ihre erwerbsfähige Bevölkerung auch erwerbstätig zu machen, dann können sie den Weg gehen, dem alle Länder, die sich entwickelt haben, in den letzten Jahrzehnten gefolgt sind. Das ist mustergültig in den asiatischen Tigerstaaten passiert, aber das ist in der jüngeren Vergangenheit auch in den lateinamerikanischen Ländern passiert und das könnte theoretisch auch in Afrika passieren, wenn die richtigen Investitionen getätigt werden.

Heise: Wir betrachten die Länder südlich der Sahara ja eigentlich immer als Problemfälle. Sie sehen da jetzt eben auch Ressourcen, Sie haben sie eben auch genannt, vor allem die jungen Generationen. Aber dann kommen wir ja zu dem Knackpunkt: Wo sind wirklich die zentralen Ansatzpunkte, was muss geschehen, damit es eben nicht Theorie bleibt?

Klingholz: Dass eben diese große junge Bevölkerung produktiv gemacht wird, produktiv genutzt wird. Vor allem braucht es eine Stabilität in diesen Ländern, damit Investitionen aus dem Ausland wahrscheinlicher werden. In Ländern, wo Korruption eine große Rolle spielt, wo die politischen Bedingungen nicht planbar sind, wird sich kaum ein großes Unternehmen bereit finden, dort langfristig Geld in Firmen zu investieren. Das gesamte Umfeld, auch das Bildungsumfeld, muss so sein, dass jetzt nach den ersten Phasen einer Industrialisierung, wo man viele Hände braucht in der Produktion, dann die zweite Phase, die relativ schnell danach folgt, nutzen zu können, wo man immer Köpfe und weniger Hände braucht. Also, die müssen auf der Bildungsleiter dann kontinuierlich nach oben steigen, um eben höher wertschöpfige Dinge zu produzieren in diesen Ländern. Und das heißt, wirtschaftliche Entwicklung. Und wie gesagt, das ist der Weg, dem alle Länder gefolgt sind, die sich entwickelt haben.

Heise: Aber im Moment sind doch die Länder in der Subsahara eher auf dem landwirtschaftlichen Niveau, also auch noch nicht auf dem Industrienationenniveau, oder?

Klingholz: Das ist ganz unterschiedlich. Das ist zum Teil von Land zu Land unterschiedlich, wir haben in Nordafrika oder in Südafrika Länder, die sind da schon wesentlich weiter, und auch innerhalb der Länder gibt es da große Unterschiede. Es gibt Länder wie Ghana, Nigeria oder Kenia, wo bereits eine Mittelschicht – die ist noch relativ klein – entstanden ist, die gut qualifiziert ist und die auch eigene Unternehmen gründet. Aber wir haben in diesen Ländern dann in der Tat noch einen großen Bereich, der in der Landwirtschaft tätig ist. Das sind natürlich Bereiche, die in Zukunft, wenn die Landwirtschaft intensiviert wird und produktiver wird – was sie werden muss, um die steigende Zahl an Menschen zu ernähren –, dann auch Leute auf den Arbeitsmarkt wirft, die nicht mehr in der Landwirtschaft arbeiten können, die dann aber anderswo unterkommen müssen.

Heise: Unser Gespräch dreht sich ja um Bevölkerung und Bevölkerungswachstum. Wenn wir jetzt am Schluss noch mal auf den Anfang des Gesprächs schauen: Also, kann eigentlich die Entwicklung, die Sie vorhersehen im südlichen Afrika oder auch Afghanistan und Pakistan, die Probleme der globalen Überbevölkerung lösen? Also, wenn man dort eben die Bildung vorantreibt und Bevölkerungswachstum eindämmt, reicht das aus, um den globalen Konflikt der Überbevölkerung zu entschärfen? Oder halten wir es einfach nur auf, die Entwicklung?

Klingholz: Wir können das natürlich nicht von heute auf morgen lösen, weil die Bevölkerungen dort so jung sind, dass, auch wenn sie weniger Kinder pro Familie bekommen, natürlich noch Jahrzehnte des Wachstums vor sich haben. Da gibt es ja ganz viele Leute, die noch gar nicht im potenziellen Elternalter angekommen sind. Aber es ist der einzige Weg, das Weltbevölkerungswachstum zu minimieren, zu bremsen, eben in diesen armen Ländern zu investieren, weil 99 Prozent des Weltbevölkerungswachstums eben genau in diesen Ländern stattfindet. In den früh industrialisierten Ländern gibt es ja praktisch gar kein Wachstum mehr oder, wie in Deutschland, schon einen Bevölkerungsrückgang.

Heise: Sie betrachten oder beobachten die Situation schon seit Jahrzehnten, wie ich gesagt habe. Wie hoffnungsvoll sind Sie da eigentlich?

Klingholz: Gespalten. Wir haben gesehen, dass die Fertilitätsraten, also die Kinderzahlen je Frau, in vielen Ländern deutlich schneller zurückgegangen sind, als man früher erwartet hat, und zwar im Gleichklang mit der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder und mit den Erfolgen in der Bildung. Aber es gibt ein paar Länder oder eine Reihe von Ländern – das sind noch so ungefähr 20 Stück –, die von dieser wirtschaftlichen Entwicklung und von dem Bildungsaufstieg viel zu wenig mitbekommen haben, und dort verdreifacht sich zum Teil die Bevölkerung bis 2050. Nehmen Sie den Niger, ein Land mit wenig eigenen Möglichkeiten, was Landwirtschaft anbelangt: Dort wird sich die Bevölkerungszahl bis 2050 verdreifachen. Überlegen Sie sich das Gleiche mal für Deutschland: Wir müssten in Deutschland bis 2050 die dreifache Zahl von Menschen dann, 250 Millionen hier, beherbergen und versorgen, das wäre für uns eine gewaltige Herausforderung, die wir ... Weiß ich nicht, wie wir das hinbekämen. Und jetzt überlegen Sie sich das Gleiche für ein Land wie Niger, wo es an allem mangelt. an Lehrern, an Schulen, an Gesundheitsdiensten, an Nahrungsmitteln, an Trinkwasser und so weiter. Diese Länder sind komplett damit überfordert. Und diese Länder, die häufig auch politisch gescheiterte Länder sind, stehen da vor einer sehr schwierigen Zukunft. Und deswegen ist da der Optimismus doch etwas begrenzt.

Heise: Aber Sie sind da trotzdem ... Also, Ihr Optimismus ist gebremst, aber Sie sehen trotzdem auch da eine Entwicklung, die möglich ist? Oder werden diese Länder abgehängt werden, komplett abgehängt werden?

Klingholz: Also, diese Länder sind jetzt komplett abgehängt. Es geht jetzt darum, die Länder, die schon etwas weiter sind, die bereits rückläufige Kinderzahlen je Familie haben, die in den wirtschaftlichen Sog hineinzuziehen und dann zu hoffen, dass nach und nach auch diese Länder, denen es heute richtig schlecht geht, auf diesen Weg kommen. Aber da spricht man nicht von Jahrzehnten, sondern von halben, ganzen Jahrhunderten, bis die auf den Weg kommen.

Heise: Reiner Klingholz, Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Vielen Dank, Herr Klingholz, für dieses Gespräch!

Klingholz: Gerne!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.



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UNO zählt 7.000.000.000 Menschen auf der Erde (DRadioWissen)