Formen der Lust
Normal oder pervers? Bisexuell oder asexuell? Fortpflanzung oder Vergnügen? Der Psychologe Peter Fiedler hat jetzt einen fachkundigen und stets um Toleranz bemühten Überblick über Geschichte, Forschungsstand und Zukunft der schönsten Nebensache der Welt vorgelegt.
Gleich zu Anfang stellt er klar, dass sexuelle Moral keinesfalls ewig, sondern stets ein Spiegel der politischen und kulturellen Verhältnisse ist. Bei den alten Griechen beispielsweise existierten vielfältigste Formen des Begehrens – Knabenliebe, Homosexualität und Bisexualität – schuldlos nebeneinander. Der Gott Eros weckte das Verlangen – dem Menschen blieb nur, ihm zu dienen.
Das änderte sich mit dem Aufkommen des Christentums, das Askese predigte und Sexualität dämonisierte. Die einzige Berechtigung sexueller Handlungen war fortan die Fortpflanzung innerhalb der Ehe. Alles andere war fortan sündig und bestrafenswert. Im Zuge der Aufklärung und des beginnenden Machtverlustes der Kirche bemächtigten sich die Medizin und die Psychologie der Deutungsherrschaft über sexuelle "Abweichungen". Was einst sündig war, wurde zur Krankheit erklärt. Diese Bedeutungsverschiebung führt Fiedler auch zu den dunkelsten Kapiteln der Medizingeschichte: Euthanasie und Menschenversuche.
Ein großes Anliegen seines klugen Buches ist es, die Beziehung zwischen geistiger Gestörtheit und gewisser sexueller Präferenz endgültig aufzuheben. Fiedler betont, dass nach dem heutigen Stand der Forschung weder Fetischismus, Transvestismus noch in gegenseitigem Einvernehmen durchgeführtes BDSM Ausdruck einer seelischen Störung seien.
In einem Kapitel beschäftigt er sich mit den Formen des Begehrens, die immer noch als krankhaft zu bezeichnen sind, dazu zählen Exhibitionismus, Pädophilie und Vergewaltigung. Zur Grenzziehung zwischen harmlosen und krankhaften Formen der Lust gibt er eine einfache Definition: Als psychische Störung ist alles anzusehen, was die Freiheitsrechte anderer Menschen einschränkt oder verletzt.
Fiedler untersucht weiterhin mögliche sexuelle Funktionsstörungen und aktuelle Behandlungsmöglichkeiten und widmet sich der Frage nach der Ursache sexueller Gewalt. An letzterer scheiden sich die Geister: Sind männliche Übergriffe evolutionsbedingt oder kulturell zu erklären? Auch hier plädiert Fiedler für eine integrative Lösung – der Mensch ist sowohl Produkt seiner Gene als auch seiner Erziehung. Interessant ist an dieser Stelle, dass es - so der Autor - keinen belegten Zusammenhang zwischen Erziehungsstil und sexueller Präferenz gibt.
Im letzten Kapitel sinniert Fiedler über die Zukunft der Sexualität – eine Übersexualisierung der Wirklichkeit scheint mit einem stetigen Nachlassen des tatsächlichen Begehrens einherzugehen. Ein Grund zur Sorge? Fiedler winkt ab – rund zwei Drittel aller Befragten seien mit ihrem Sexleben zufrieden. Was auch immer das im Einzelfall bedeutet. Denn eines ist nach der Lektüre dieses feinen kleinen Buches klar: Jedem Tierchen sein Pläsierchen.
Zum Autor:
Peter Fiedler, geboren 1945, ist ein deutscher Psychologe. Seit 1980 lehrt er als Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg; außerdem ist er als psychologischer Psychotherapeut und Supervisor mit verhaltenstherapeutischer Ausrichtung tätig.
Bekannt geworden ist er vor allem durch zahlreiche klinisch-psychologische Lehrbücher. Seine Monografie "Persönlichkeitsstörungen" gilt im deutschsprachigen Raum als Standardwerk. Zu seinen Tätigkeitsschwerpunkten gehört die Forschung über sexuelle Orientierung und sexuelle Abweichung. Sein neues Buch "Sexualität" gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und ist zugleich ein kluges Plädoyer für Toleranz und sexuelle Selbstbestimmung.
Besprochen von Ariadne von Schirach
Peter Fiedler: Sexualität
Reclam, Stuttgart 2010
200 Seiten, 5,80 Euro
Das änderte sich mit dem Aufkommen des Christentums, das Askese predigte und Sexualität dämonisierte. Die einzige Berechtigung sexueller Handlungen war fortan die Fortpflanzung innerhalb der Ehe. Alles andere war fortan sündig und bestrafenswert. Im Zuge der Aufklärung und des beginnenden Machtverlustes der Kirche bemächtigten sich die Medizin und die Psychologie der Deutungsherrschaft über sexuelle "Abweichungen". Was einst sündig war, wurde zur Krankheit erklärt. Diese Bedeutungsverschiebung führt Fiedler auch zu den dunkelsten Kapiteln der Medizingeschichte: Euthanasie und Menschenversuche.
Ein großes Anliegen seines klugen Buches ist es, die Beziehung zwischen geistiger Gestörtheit und gewisser sexueller Präferenz endgültig aufzuheben. Fiedler betont, dass nach dem heutigen Stand der Forschung weder Fetischismus, Transvestismus noch in gegenseitigem Einvernehmen durchgeführtes BDSM Ausdruck einer seelischen Störung seien.
In einem Kapitel beschäftigt er sich mit den Formen des Begehrens, die immer noch als krankhaft zu bezeichnen sind, dazu zählen Exhibitionismus, Pädophilie und Vergewaltigung. Zur Grenzziehung zwischen harmlosen und krankhaften Formen der Lust gibt er eine einfache Definition: Als psychische Störung ist alles anzusehen, was die Freiheitsrechte anderer Menschen einschränkt oder verletzt.
Fiedler untersucht weiterhin mögliche sexuelle Funktionsstörungen und aktuelle Behandlungsmöglichkeiten und widmet sich der Frage nach der Ursache sexueller Gewalt. An letzterer scheiden sich die Geister: Sind männliche Übergriffe evolutionsbedingt oder kulturell zu erklären? Auch hier plädiert Fiedler für eine integrative Lösung – der Mensch ist sowohl Produkt seiner Gene als auch seiner Erziehung. Interessant ist an dieser Stelle, dass es - so der Autor - keinen belegten Zusammenhang zwischen Erziehungsstil und sexueller Präferenz gibt.
Im letzten Kapitel sinniert Fiedler über die Zukunft der Sexualität – eine Übersexualisierung der Wirklichkeit scheint mit einem stetigen Nachlassen des tatsächlichen Begehrens einherzugehen. Ein Grund zur Sorge? Fiedler winkt ab – rund zwei Drittel aller Befragten seien mit ihrem Sexleben zufrieden. Was auch immer das im Einzelfall bedeutet. Denn eines ist nach der Lektüre dieses feinen kleinen Buches klar: Jedem Tierchen sein Pläsierchen.
Zum Autor:
Peter Fiedler, geboren 1945, ist ein deutscher Psychologe. Seit 1980 lehrt er als Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg; außerdem ist er als psychologischer Psychotherapeut und Supervisor mit verhaltenstherapeutischer Ausrichtung tätig.
Bekannt geworden ist er vor allem durch zahlreiche klinisch-psychologische Lehrbücher. Seine Monografie "Persönlichkeitsstörungen" gilt im deutschsprachigen Raum als Standardwerk. Zu seinen Tätigkeitsschwerpunkten gehört die Forschung über sexuelle Orientierung und sexuelle Abweichung. Sein neues Buch "Sexualität" gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und ist zugleich ein kluges Plädoyer für Toleranz und sexuelle Selbstbestimmung.
Besprochen von Ariadne von Schirach
Peter Fiedler: Sexualität
Reclam, Stuttgart 2010
200 Seiten, 5,80 Euro