Fordern oder fördern?
Seitdem der Staat seine heranwachsenden Bürger der allgemeinen Schulpflicht unterworfen hat, seit rund 200 Jahren also, gilt auch in der Erziehung das Schema. Denn ohne Schema keine Verwaltung, auch keine Schulverwaltung.
Schematisch ist die Einteilung in Schulbezirke, schematisch ist das Zeugnis- und Zensurenwesen, schematisch ist die Gliederung in Klassen, die nach dem äußerlichsten von allen Merkmalen, dem Geburtsdatum, zusammengesetzt werden. Schematisch ist deswegen auch die Strafe, die denjenigen trifft, der in der Klasse nicht mitgekommen ist, der das Pensum nicht geschafft hat und darum sitzen bleibt.
Schematisches Vorgehen ist meistens grob und selten hilfreich. Das gilt auch für das Sitzenbleiben. Wer sitzen bleibt, wird nicht als Einzelfall betrachtet, sondern als Typ. Er gilt als Versager, dessen weiteres Leben unter der Drohung steht: Wer einmal aus dem Blechnapf fraß … soll heißen: Wer es beim ersten Mal nicht geschafft hat, der schafft es auch beim zweiten Anlauf nicht; der schafft es eben nie. Tatsächlich ist die Menge der Sitzenbleiber, die in der Schule von einem Misserfolg zum nächsten stolpern, ja auch erheblich größer als die Zahl derjenigen, die sich zusammenreißen und wenn schon nicht zur Spitze, so doch zum Klassendurchschnitt aufschließen.
Das gilt jedoch ganz offenbar nur in der Schule. Im Leben geht es vielfach anders zu und oft genug genau umgekehrt. Da hat der Sitzenbleiber Erfolge, von denen der ehemalige Klassenprimus nur träumen kann. In der Schule gescheitert zu sein, ist dann kein Makel mehr, sondern ein Beweis dafür, dass man sich durchbeißt und es trotzdem schafft. Die Schule ist nun mal nicht das Leben selbst, sondern nur eine Vorbereitung aufs Leben, und zwar nicht unbedingt die allerbeste. Es ist ein Zeichen von Selbstüberschätzung, wenn den Kultusministern immer wieder ausgerechnet das Sitzenbleiben als Indiz für den dringenden Reformbedarf des deutschen Schulwesens einfällt. Sie sollten die Schule endlich einmal in Ruhe lassen und mit der nächsten Reform bis übermorgen warten.
Das wollen sie aber nicht. Politiker fühlen sich überall gefordert, auch da, wo sie kein Mensch vermisst hat. Jetzt hat die schleswig-holsteinische Kultusministerin Erdsiek-Rave angekündigt, die Zahl der Sitzenbleiber, zurzeit rund drei Prozent der Schülerschaft, drastisch zu reduzieren. Sie hat sogar verraten, wie sie das machen will: durch Förderunterricht. Leider hat sie nicht mehr hinzugesetzt, woher die Lehrer kommen sollen und wie sie die bezahlen will. Das war wohl auch nicht nötig, da die Botschaft auch so klar war. Sie hieß: Schuld am Versagen sind die anderen, die Lehrer, die Gerhard Schröder faule Säcke nennt, oder die Eltern, die von Erziehung und von Förderung keine Ahnung haben. Unschuldig ist nur der Sitzenbleiber. Er ist ein Opfer, das Förderung verdient, keine Forderung.
Vielleicht sollte man es aber trotzdem einmal mit dem Fordern versuchen; auch das könnte ja dazu beitragen, die Sitzenbleiberquote wie erhofft zu senken. Denn gefordert wird unter dem Einfluss der Schonraumpädagogik, der sich immer noch viel zu viele Lehrer verpflichtet fühlen, zu selten und zu wenig. Dabei spricht alles dafür, dass höhere Anforderungen die Leistung nicht etwa sinken, sondern steigen lassen, weil Ansprüche die Kräfte wecken. Aufmerksamkeit, Fleiß und Ordnungsliebe sind höchst persönliche Eigenschaften, über deren Ausbildung der Einzelne im Wesentlichen selbst verfügt. Er selbst, und keiner sonst.
Das Sitzenbleiben leidet unter seinem Namen. Wer es im Sport nicht gleich beim ersten Anlauf schafft, bleibt doch nicht einfach sitzen, vielmehr bekommt er eine zweite Chance. Das sollten sich die Schulexperten merken. Denn sie verstehen sich doch auf die Kunst des Neuetikettierens. Haben sie nicht die Volksschule in Hauptschule und die Hauptschule in Oberschule umgetauft? Könnten sie es mit dem Sitzenbleiben nicht genauso machen und in Zukunft von Förder-, von Probe- oder von Bewährungsjahren sprechen? Damit wäre das Problem zwar nicht gelöst, aber die Schulexperten gäben endlich Ruhe. Und das wäre doch ein Gewinn.
Konrad Adam wurde 1942 in Wuppertal geboren. Er studierte Alte Sprachen, Geschichte und Philosophie in Tübingen, München und Kiel. Mehr als 20 Jahre lang war er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", jetzt arbeitet er für die "Welt". Sein Interesse gilt vor allem Fragen des Bildungssystems sowie dessen Zusammenhängen mit der Wirtschaft und dem politischen Leben. Als Buch-Autor veröffentlichte er unter anderem "Die Ohnmacht der Macht", "Für Kinder haften die Eltern" und "Die Republik dankt ab". Soeben erschienen: "Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen".
Schematisches Vorgehen ist meistens grob und selten hilfreich. Das gilt auch für das Sitzenbleiben. Wer sitzen bleibt, wird nicht als Einzelfall betrachtet, sondern als Typ. Er gilt als Versager, dessen weiteres Leben unter der Drohung steht: Wer einmal aus dem Blechnapf fraß … soll heißen: Wer es beim ersten Mal nicht geschafft hat, der schafft es auch beim zweiten Anlauf nicht; der schafft es eben nie. Tatsächlich ist die Menge der Sitzenbleiber, die in der Schule von einem Misserfolg zum nächsten stolpern, ja auch erheblich größer als die Zahl derjenigen, die sich zusammenreißen und wenn schon nicht zur Spitze, so doch zum Klassendurchschnitt aufschließen.
Das gilt jedoch ganz offenbar nur in der Schule. Im Leben geht es vielfach anders zu und oft genug genau umgekehrt. Da hat der Sitzenbleiber Erfolge, von denen der ehemalige Klassenprimus nur träumen kann. In der Schule gescheitert zu sein, ist dann kein Makel mehr, sondern ein Beweis dafür, dass man sich durchbeißt und es trotzdem schafft. Die Schule ist nun mal nicht das Leben selbst, sondern nur eine Vorbereitung aufs Leben, und zwar nicht unbedingt die allerbeste. Es ist ein Zeichen von Selbstüberschätzung, wenn den Kultusministern immer wieder ausgerechnet das Sitzenbleiben als Indiz für den dringenden Reformbedarf des deutschen Schulwesens einfällt. Sie sollten die Schule endlich einmal in Ruhe lassen und mit der nächsten Reform bis übermorgen warten.
Das wollen sie aber nicht. Politiker fühlen sich überall gefordert, auch da, wo sie kein Mensch vermisst hat. Jetzt hat die schleswig-holsteinische Kultusministerin Erdsiek-Rave angekündigt, die Zahl der Sitzenbleiber, zurzeit rund drei Prozent der Schülerschaft, drastisch zu reduzieren. Sie hat sogar verraten, wie sie das machen will: durch Förderunterricht. Leider hat sie nicht mehr hinzugesetzt, woher die Lehrer kommen sollen und wie sie die bezahlen will. Das war wohl auch nicht nötig, da die Botschaft auch so klar war. Sie hieß: Schuld am Versagen sind die anderen, die Lehrer, die Gerhard Schröder faule Säcke nennt, oder die Eltern, die von Erziehung und von Förderung keine Ahnung haben. Unschuldig ist nur der Sitzenbleiber. Er ist ein Opfer, das Förderung verdient, keine Forderung.
Vielleicht sollte man es aber trotzdem einmal mit dem Fordern versuchen; auch das könnte ja dazu beitragen, die Sitzenbleiberquote wie erhofft zu senken. Denn gefordert wird unter dem Einfluss der Schonraumpädagogik, der sich immer noch viel zu viele Lehrer verpflichtet fühlen, zu selten und zu wenig. Dabei spricht alles dafür, dass höhere Anforderungen die Leistung nicht etwa sinken, sondern steigen lassen, weil Ansprüche die Kräfte wecken. Aufmerksamkeit, Fleiß und Ordnungsliebe sind höchst persönliche Eigenschaften, über deren Ausbildung der Einzelne im Wesentlichen selbst verfügt. Er selbst, und keiner sonst.
Das Sitzenbleiben leidet unter seinem Namen. Wer es im Sport nicht gleich beim ersten Anlauf schafft, bleibt doch nicht einfach sitzen, vielmehr bekommt er eine zweite Chance. Das sollten sich die Schulexperten merken. Denn sie verstehen sich doch auf die Kunst des Neuetikettierens. Haben sie nicht die Volksschule in Hauptschule und die Hauptschule in Oberschule umgetauft? Könnten sie es mit dem Sitzenbleiben nicht genauso machen und in Zukunft von Förder-, von Probe- oder von Bewährungsjahren sprechen? Damit wäre das Problem zwar nicht gelöst, aber die Schulexperten gäben endlich Ruhe. Und das wäre doch ein Gewinn.
Konrad Adam wurde 1942 in Wuppertal geboren. Er studierte Alte Sprachen, Geschichte und Philosophie in Tübingen, München und Kiel. Mehr als 20 Jahre lang war er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", jetzt arbeitet er für die "Welt". Sein Interesse gilt vor allem Fragen des Bildungssystems sowie dessen Zusammenhängen mit der Wirtschaft und dem politischen Leben. Als Buch-Autor veröffentlichte er unter anderem "Die Ohnmacht der Macht", "Für Kinder haften die Eltern" und "Die Republik dankt ab". Soeben erschienen: "Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen".