Folklore war gestern

Von Volkhard App |
Was ist typisch türkisch? Die Ausstellung „Design Istanbul“ im Museum Marta Herford sucht nach Antworten. Doch das Design, wie es in dieser Auswahl erscheint, ist keine Botschaft aus einer völlig fremden, womöglich beunruhigenden Welt, sondern eher schon eigenwilliger Teil einer internationalen Formensprache.
Akustische Grüße vom Bosporus, Geräusche und Stimmen aus Istanbul vor der hohen Museumshalle. Und bei der Einstimmung hilft auch ein Gemälde, auf dem Bayram Gümüs Häuser der Metropole pittoresk aneinandergereiht hat.

Das türkische Design, das selbstverständlich die Hauptrolle spielt, zeigt sich in einer abenteuerlichen Bandbreite: vom quietschbunten Plastiknippes, den man auf der Straße kaufen kann – Spielzeug, Strohhalme und Fliegenklatschen – bis zu gediegenen Objekten, die der Wohnungsverschönerung dienen: Wandmosaike aus geometrischen Elementen, markant geschnittene Sitzmöbel, elegante Gläser und Vasen. Marta-Direktor Roland Nachtigäller hat in der großen Halle Wohnräume simuliert, damit das Design aus Istanbul, das ihn begeistert, wirklich zur Geltung kommt:

„Wenn ich sehe, was hier zusammengekommen ist, dann fasziniert mich das Lebendige, die Vielfalt, der Aufbruch-Charakter. Die aus vielen Zusammenhängen stammenden Objekte konstruieren eher eine Welt, als dass man das Ganze in musealer Präsentation zeigen sollte.“

Von Gürsan Ergil stammt ein hohler, mit Sackleinen ausgelegter Baumstamm, in dem man ungestört ruhen kann. Während man sich auf einem sehr ungewöhnlichen Sessel wie ein Fakir fühlt: grün angestrichene Metallstäbe dicht an dicht, die Enden weisen nach oben, eine Sitzfläche ist zunächst nicht erkennbar. Und doch findet man auf den Spitzen Halt. Ein Stuhl wirkt wie ein Vogelkäfig. Und auf einer ausgedehnten Holzbank können Menschen gleich auf verschiedenen Seiten Platz nehmen: bestens geeignet für den Plausch mit Nachbarn, wenn das Fleisch auf dem Grill liegt. Der Herforder Kurator Thomas Niemeyer über Trends und Tendenzen des Designs:

„Es ist eine Suche nach modernen, zeitgemäßen Formen – aber oft auf der Basis abstrahierter traditioneller Motive – von bildhaften Elementen, Naturformen und Ornamenten, wie sie sich in überlieferten, lange gebräuchlichen Typologien finden.“

Natur und Geometrie seien keine Gegensätze im Denken dieser Designer, unterstreicht Max Borka, der diese Schau in Istanbul konzipiert hat – und der erstaunt ist, wenn man nach einem zwingenden Grund für eine solche Präsentation fragt. Können hiesige Designer von den türkischen lernen?

„Absolut. Und es erstaunt mich ein bisschen, dass Sie ‚warum Istanbul?‘ fragen. Das ist eine Stadt mit vielen Millionen Einwohnern. Die letzten sechs Monate, bevor ich in Istanbul gewohnt habe, habe ich in Berlin gelebt. Ich finde, Berlin ist eine superschöne Stadt. Aber wenn man von dort nach Istanbul geht, hat man den Eindruck, dass man von einem Friedhof kommt. Istanbul ist so lebendig, eine Stadt mit ganz eigener Identität.“

Das Wort Spagat im Titel der Ausstellung entstammt der Sphäre des Tanzes und zielt auf die Charakteristika der Millionenstadt. Thomas Niemeyer:

„Spagat zwischen Ost und West, zwischen Tradition und Moderne, zwischen säkularem Staat und Religion, zwischen wirtschaftlichem Aufbruch und einer Arbeiterschaft und einer Armut von nicht-registrierten Einwohnern in den Istanbuler Vororten – eine Stadt ganz großer Gegensätze. Und die Anspielung aufs Tänzerische hat Max Borka bewusst in diese Ausstellung eingebracht, nämlich die Vorstellung von Istanbul als einer tanzenden, musikalischen Stadt, die immer in Bewegung ist und sich selbst, die Menschen und das Leben feiert.“

Es gibt einiges zu entdecken in Herford. Besonders spannend ist ein Interieur von Aykut Erol, das sich mit flacher Leselampe, Ablage und angedeuteter Garderobe aus einer einzigen Linie speist, von einer schmalen Stange ableitet, die an den Wänden entlangläuft.

Was ist typisch türkisch? Religiöse Einflüsse im Design, die man in einer solchen Ausstellung vielleicht erwartet hatte, Spannungen zwischen Tradition und Moderne und verschiedenen kulturellen Strömungen sind kaum erkennbar. Die Lust am Ornament scheint hier und da durch – selbst noch im Geflecht einer Hängematte –, und ein seitlich gekipptes Regal mag an einen Koranständer erinnern, aber das sind schon Ausnahmen auf der Suche nach dem „Typischen“. Dass die Türkei ein säkularer Staat sei, wird im übrigen immer wieder bekräftigt.

Das Design aus Istanbul, so wie es in dieser Auswahl erscheint, ist keine Botschaft aus einer völlig fremden, womöglich beunruhigenden Welt, sondern eher schon eigenwilliger Teil einer internationalen Formensprache. Ein Wandteppich mit dekorativen roten Fez-Motiven wirkt in dieser Schau wie eine folkloristische Randerscheinung.

Die Türkei selber erhält durch diese Ausstellung ein freundlich-lichtes Design. So entstehen lebhafte Bilder im Kopf des Besuchers – durch die Objekte, aber auch durch die Töne und die hinzugefügten Fotos vom urbanen Zusammenleben: mit Straßenszenen und Versammlungen auf der Wiese. Ist Istanbul mit seiner Vitalität, seinen Kulturen, den registrierten und nicht-registrierten Einwohnern und der täglichen Kunst des Improvisierens vielleicht ein Modell für andere europäische Metropolen? Borka:

„Wir denken immer, dass die ‘nach uns‘ kommen, aber es könnte gut sein, dass die eigentlich schon Jahrhunderte voraus sind.“

Link zur Ausstellung