Folk-Album "Overnight"

Singen aus der Mond-Perspektive

Ein Gefährt mit Astronauten ist auf der Mondoberfläche unterwegs
Das Duo verdingt sich als Musik-Astronauten. "Overnight" ist ein Konzeptalbum über den Verlauf zwischen Tag und Nacht. © NASA
Von Mathias Mauersberger · 12.10.2016
Mittelalterlich anmutender Gesang, psychedelisch-buntes Albumcover: Das Londoner Duo Josienne Clarke und Ben Walker hat mit "Overnigt" ein nostalgisches Folkalbum gemacht, das charmant und erfrischend rüberkommt.
Josienne Clarke: "Mein Vater hatte viele Platten aus den Sechzigern und Siebzigern. Von Songwritern wie Don McLean, James Taylor oder Gordon Lightfoot. Irgendwann hörte ich dann Joan Baez, lernte und spielte einen ihrer Songs. Und irgendjemand sagte: 'Hey, du klingst wie Sandy Denny!' Ich fragte: 'Wer ist das?' Und dann fing ich an, Fairport Convention, June Tabor und Pentangle zu entdecken. All diese Folk-Musik, die ich heute höre."

Von der Oper zum Folk

Man muss Josienne Clarke wohl als "Folk-Nerd" bezeichnen. Die 34-Jährige jongliert nur so mit den Namen alter Folk-Helden, wenn sie von ihrem Idol Sandy Denny, der Sängerin von Fairport Convention erzählt, dann fangen ihre Augen an zu leuchten. Dabei hat Clark, die im südenglischen Sussex aufwuchs, eigentlich einen klassischen Hintergrund: Sie studierte Operngesang, lernte dann aber ihren musikalischen Partner Ben Walker kennen und entschied sich für die Karriere als Folksängerin.
"Auch wenn ich klassischen Gesang sehr mag: Für mich war das einfach nicht das Richtige. Ben spielte damals E-Gitarre in einer Indie-Rock-Band. Ein Freund von mir, ein Tontechniker, mischte die Songs für deren Album und hörte Ben zufällig Akustikgitarre spielen. Er fragte: 'Was machst du nur in dieser Band? Wieso gründest du nicht ein Akustik-Projekt?' Also probierten wir zusammen ein bisschen rum, und das ist jetzt sieben Jahre her."
Sieben Jahre nach Bandgründung haben sich Josienne Clarke und Ben Walker vom rein akustischen Folk ihrer Anfangstage verabschiedet. Für "Overnight" haben sie zum ersten Mal in einem großen Studio aufgenommen, mit Schlagzeuger und Streichensemble. Und auch thematisch loten die Londoner neue Bereiche aus: "Overnight" ist ein Konzeptalbum, über den Verlauf zwischen Tag und Nacht.

Album spannt Bogen vom Abend bis zum Morgen

"Das erste Stück steht für den späten Nachmittag. Dann geht es weiter in die tiefsten Stunden der Nacht, ein Song handelt vom Mond. Und dann reisen wir zurück Richtung Sonnenaufgang. "Light of day", Tageslicht. So heißt der letzte Song. Das Album spannt also einen Bogen vom Abend bis zum Morgen, und jeder Song steht für einen bestimmten Zeitpunkt."
"The Waning Crescent" – so heißt besagter Song über den Mond. Eine musikalische Hommage an Evergreens wie "Blue Moon" von Rogers & Hart, allerdings mit umgekehrter Erzählperspektive: Nicht der Mond wird hier besungen, sondern es ist der Mond, der vom Himmel herabschaut. Und über seine Rolle als Beobachter und ewige Projektionsfläche menschlicher Sehnsüchte sinniert.
"Ich hatte all diese düsteren Songs, aber mir fehlte noch ein Song über den Mond. Dann fielen mir Stücke ein, in denen Leute zum Mond wie zu einem Gegenüber sprechen. Und ich fragte mich, was dieser wohl entgegnen würde? Wir entwickelten für das Stück eine Art 50er-60er- Jahre-Pop-Sound, aus der Zeit des 'Space Race', des 'Wettlaufs ins All' zwischen den USA und der Sowjetunion. Das passt zum Thema und hält Erzählung und Musik zusammen."

Anleihen beim Barock-Komponisten John Dowland

Aber nicht nur der Pop der 50er und 60er, auch der britische Folk-Rock der 70er ist auf "Overnight" immer wieder ein Bezugspunkt. Der mittelalterlich anmutende Gesang, das psychedelisch-bunte Albumcover - all das erinnert an klassische Konzept-Alben von Bands wie Pentangle oder eben Fairport Convention, und wirkt natürlich etwas altmodisch. Wenn Clarke und Walker dann auch noch ein Stück des Barock-Komponisten John Dowland nachspielen, ist man schon versucht an Pop-Nervensäge Sting zu denken, der dem britischen Lautenisten vor einigen Jahren ein ganzes Album widmete. Aber Josienne Clarke begründet diese Wahl mit dem Konzept der Texte:
"John Dowlands Musik ist ja ziemlich alt und wird meist in einem klassischen Kontext aufgeführt. Die Herausforderung war, dem Stück einen modernen Anstrich zu verleihen und es auch heute noch relevant klingen zu lassen. Die Sprache ist ziemlich archaisch, der Text macht aber auch heute noch Sinn und passt zum Konzept unseres Albums. Es liegen zwar Jahrhunderte zwischen den Songs, aber jeder erzählt von einer ur-menschlichen Erfahrung: Dem zeitlichen Verlauf eines Tages."
Man kann "Overnight" von Josienne Clarke und Ben Walker sicherlich eine gewisse Rückwärtsgewandtheit vorwerfen. Wo andere junge Folkmusiker wie Bon Iver oder First Aid Kit Richtung Indie-Pop und Electro, also Richtung Gegenwart und Zukunft denken, da besinnen sich die beiden Londoner nostalgisch zurück, bieten handwerklich perfekte Tonkunst ohne popkulturelle Coolness-Accessoires. Es ist aber genau diese Naivität und Unbefangenheit, die die Songs auf "Overnight" auch so charmant und erfrischend machen. Und selbst wenn Josienne Clarkes Stimme noch nicht ganz an die ihrer großen Heldin Sandy Denny heranreicht, so sind sie und ihr musikalischer Partner Ben Walker doch auf dem besten Weg, sich in die britische Folk-Tradition einzuschreiben.

Das Album erscheint am 14.10.2016, Anfang November kommt das Duo nach Deutschland und spielt auf dem Rolling Stone Weekender am Weissenhäuser Strand.

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