Folgen des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei

"Zuckerbrot für Diktaturen"

Afrikanische Flüchtlinge auf Sizilien sind in Wärmedecken eingehüllt.
Flüchtlinge in Italien: Es sind nach Angaben Christopher Heins derzeit mehr als 150.000. Die meisten kämen aus Afrika, zum Beispiel aus Eritrea, Sudan und Somalia. © picture alliance / dpa / Olivier Corsan
Christopher Hein im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 29.09.2016
Die EU tue alles, um Asylsuchende von Europa fernzuhalten, ist der Gründer des italienischen Flüchtlingsrates Christopher Hein überzeugt. Dies geschehe nach dem Vorbild des Türkei-Deals. Hein kritisiert, dass dabei auch Gelder an Diktaturen in Afrika fließen.
Christopher Hein nennt es "besorgniserregend", dass beispielsweise Italien auch auf Druck der EU damit begonnen habe, Sudanesen zwangsweise in ihre Heimat zurückzuschicken - "ohne ein Asylgesuch entgegenzunehmen und schon gar nicht ein Asylgesuch zu prüfen". Die EU wolle Vereinbarungen mit afrikanischen Ländern wie Ägypten treffen:
"Die ganze Linie seit dem Abkommen mit der Türkei im März geht darauf hin, bloß alles zu machen, dass die Flüchtlinge keine Möglichkeit mehr haben, nach Europa reinzukommen, oder dass sie solch schlechte Bedingungen hier vorfinden, dass sie lieber davon Abstand nehmen."

Finanzielle Zuwendung für Diktaturen

Das sei auch die Tendenz in den Finanzierungspaketen, die für afrikanische Länder geschnürt würden, so Hein:
"Da geht es nicht um wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung an sich, sondern da geht es um die Eindämmung von Migrations- und Flüchtlingsströmen. Es geht darum, (...) über das Zuckerbrot finanzieller Zuwendung auch in diktatorischen Regimes wie Sudan oder Eritrea die Regierung dazu zu bringen, ihre eigenen Mitbürger ohne bürokratische Schwierigkeiten zurückzunehmen."
Nach dem "Trauma", das Deutschland und andere Länder im vergangenen Jahr erlebt hätten, sei das zwar "in gewisser Weise politisch verständlich". Andererseits sei es keine Lösung:
"Das bedeutet nämlich nur, dass die Flüchtlingsfrage delegiert wird auf sehr viel ärmere und sehr viel weniger zum Rechtsschutz ausgerüstete Länder im Vorderen Orient und in Afrika."

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Gestern hat ja die EU wie jeden Monat eine Zwischenbilanz gezogen: Sie sieht den Pakt mit der Türkei also trotz aller Probleme als Erfolg, aber stimmt das denn? 160.000 Asylsuchende aus Griechenland und Italien sollen ja von September 2015 bis 2017 von anderen EU-Staaten aufgenommen werden. Die Hälfte der Zeit ist um, bis jetzt wurden aber gerade mal 5.651 Menschen in andere EU-Länder verteilt. Sie haben es gehört, in Italien kommen wieder mehr Flüchtlinge an, die die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer wagen. Christopher Hein, Gründer und strategischer Berater des Italienischen Flüchtlingsrates, ihn habe ich vor der Sendung gefragt, wie er die Bilanz bewertet, die die EU-Kommission da gerade gezogen hat.
Christopher Hein: Das hängt davon ab, von welcher Sichtweise man das betrachten will. Wenn die Vorgabe war, die Zahl der Asylbewerber, die nach Deutschland, Österreich, überhaupt nach Westeuropa kommen über Griechenland und über die Balkanroute, herunterbringen wollte und will mit diesem Abkommen mit der Türkei vom 18. März, dann ist es sicherlich ein Erfolg. Wenn man aber von der Betrachtungsweise der Menschen ausgeht, für die der Flüchtlinge, die in der Türkei sind, ist die Sichtweise ein bisschen anders.
Aus italienischer Sicht betrachtet würde man sagen, dass sich erneut der Schwerpunkt der Seeankünfte auf das mittlere Mittelmeer verlagert hat, also auf die Route vor allem über Libyen, aber auch aus Ägypten in Richtung Süditalien. Es ist aber nicht so, dass jetzt die Syrer oder Iraker aus der Türkei die Nordafrikaroute genommen hätten, denn die Menschen, die in Italien ankommen und die einen Asylantrag stellen, kommen ganz überwiegend aus anderen Ländern, aus dem Subsahara-Afrika, sowohl aus dem Norden von Afrika, aus Eritrea, aus Somalia, aus dem Sudan, aber auch viele aus Westafrika, Liberia, Gambia, Ghana und so weiter.

Sudanesen zwangsweise zurückgeschickt

Billerbeck: Matteo Renzi hat ja kürzlich gesagt, die Lage für Flüchtlinge in Italien sei nicht besorgniserregend, Italien sei in der Lage, 150.000 Flüchtlinge zu versorgen. Stimmt das denn aus Ihrer Sicht oder hat das mit dem Verfassungsreferendum im Dezember zu tun, das Renzi überstehen muss, weil er den Populisten das Flüchtlingsthema nicht überlassen möchte?
Hein: Im Augenblick sind in der Tat mehr als 150.000 Asylbewerber in den verschiedensten Unterkunfts-Einrichtungen untergebracht – in vielen, aber nicht in allen Fällen eher schlecht als recht. In Italien - anders als in Deutschland oder auch in Österreich - ist das Asylthema zwar eines der wichtigsten Themen auch der Innenpolitik, ist aber nicht so hochgespielt, dass also jetzt das politische Überleben der Renzi-Regierung darüber infrage gestellt werden könnte oder werden würde. Was besorgniserregend ist, ist dass auf Druck auch der EU insgesamt Italien damit begonnen hat, jetzt sogar Sudanesen vor ein paar Wochen zwangsweise nach Sudan zurückzuschicken, ohne ein Asylgesuch entgegenzunehmen und schon gar nicht ein Asylgesuch zu prüfen.
Das ist die Folge auch des Abkommens mit der Türkei. Das soll jetzt sozusagen ausgebreitet werden. Es ist bereits von Ägypten die Rede, es ist auch die Rede von Ländern südlich Libyens, einschließlich auch Sudan, wo ähnliche Abkommen also stattfinden sollen, damit die Menschen nicht herkommen. Die ganze Linie seit dem Abkommen mit der Türkei im März geht daraufhin, bloß alles zu machen, dass die Flüchtlinge keine Möglichkeit mehr haben, nach Europa reinzukommen - oder dass sie solch schlechte Bedingungen hier vorfinden, dass sie lieber davon Abstand nehmen.

Eindämmung von Migrationsströmen

Billerbeck: Das heißt, man versucht, die Wege zu versperren oder sich der Flüchtlinge auf welchem Weg auch immer zu entledigen?
Hein: Das ist ganz klar die Tendenz, auch in den Finanzierungspaketen, die geschnürt werden für afrikanische Länder. Da geht es nicht um wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung an sich, sondern da geht es um die Eindämmung von Migrations- und Flüchtlingsströmen. Das ist auch erklärt so. Es geht darum, über, sagen wir mal das Zuckerbrot finanzieller Zuwendung auch in diktatorischen Regimes wie Sudan oder Eritrea die Regierung dazu zu bringen, ihre eigenen Mitbürger ohne bürokratische Schwierigkeiten zurückzunehmen, aber auch Bürger aus Drittländern, die durch diese Länder gereist sind.
Das ist insgesamt natürlich nach dem Trauma, das erlebt worden ist vor einem Jahr in Deutschland und vielen anderen Ländern, in gewisser Weise politisch verständlich, auf der anderen Seite ist es aber überhaupt keine Lösung. Das bedeutet nämlich nur, dass die Flüchtlingsfrage delegiert wird auf sehr viel ärmere und sehr viel weniger zum Rechtsschutz ausgerüstete Länder im Vorderen Orient und in Afrika.
Billerbeck: Christopher Hein war das, Gründer und strategischer Berater des Italienischen Flüchtlingsrates. Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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