Föhrenwald - ein Schtetl in Bayern

Verschwiegene Nachkriegsgeschichte

55:00 Minuten
Zwillingsmädchen mit gepunkteten Sommerkleidern stehen auf eine der Straßenzüge in Föhrenwald.
Mehr als 5000 Juden, vor allem aus Osteuropa, lebten nach 1945 in Föhrenwald, einem Stadtteil von Wolfratshausen, der heute Waldram heißt. © Bürger fürs BADEHAUS Waldram-Föhrenwald e.V.
Von Alois Berger · 01.06.2020
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Eine bayerische Kleinstadt südlich von München: Wolfratshausen. Unser Autor Alois Berger ging hier zur Schule - aber er erfuhr nichts davon, dass nach 1945 mehrere tausend Juden dort in einer Art Schtetl gelebt hatten. Erst heute wird darüber gesprochen.
Zwölf Jahre lang, von 1945 bis 1957, lebten im oberbayerischen Wolfratshausen zeitweise mehr als 5000 Juden - nach dem Krieg wohlgemerkt, nach Auschwitz und Dachau. Föhrenwald hieß die Siedlung, eng bebaut auf einem halben Quadratkilometer. Die Juden nannten sie Ferenwald, weil sich das auf jiddisch besser aussprechen lässt. Es war ein jüdisches Schtetl, sagen sie, das letzte in Europa.
Ich bin in Wolfratshausen aufgewachsen, einer 17.000-Einwohner-Stadt südlich von München. In Föhrenwald bin ich zur Schule gegangen. Aber ich war ahnungslos, auch meine Freunde und meine Mitschüler waren ahnungslos. Denn im Oktober 1957, als die letzten Juden gegen ihren Willen umgesiedelt worden waren, war der Ort in Waldram umgetauft worden. Selbst die Straßen bekamen neue Namen.
Föhrenwald wurde von der Landkarte gestrichen. Föhrenwald wurde aus der kollektiven Erinnerung gelöscht. Meine Eltern, meine Verwandten, meine Lehrer, niemand hat jemals Föhrenwald erwähnt. Erst seit einigen Jahren zerbröckelt die Schweigemauer, die Erinnerung kehrt zurück. Seitdem suche ich nach dem verborgenen Teil meiner Heimat und komme aus der Fassungslosigkeit nicht heraus.

Beim Renovieren den Davidstern an der Wand entdeckt

"Also, ich vermute, dass überm Klavier, also etwa in der Mitte des Klaviers, so 50 Zentimeter drüber, der Davidstern ist, und drüber hebräische Schriften. Blau, alles in Blau, auch der Davidstern in Blau, das habe ich mir gemerkt als Kind. Es war ja nicht so lange offen, es ist relativ schnell wieder zutapeziert worden. Aber diese Farbe Blau, die ist mir in Erinnerung geblieben."
Eva Greif war 10 Jahre alt, als sie den Davidstern und die hebräischen Schriftzeichen in ihrem Wohnzimmer gesehen hat. Das Zimmer bekam neue Tapeten, die alten mussten runter. Da kam der blaue Stern zum Vorschein.
"Ich habe dann meinen Vater gefragt, was das ist. Und er hat nur gemeint, in dem Ort waren mal Juden. Das war's. Ich habe damals auch nicht nachgefragt, war ich zu jung. Und damit war das Thema erledigt. Wir haben da nie mehr drüber gesprochen."
Wir wollen den Davidstern frei legen. Eva will ihn restaurieren lassen, Sie möchte wissen, wie sich die Erinnerung in ihrem Wohnzimmer anfühlt, die Erinnerung an die jüdischen Kinder, die hier gelernt und gelärmt haben. Die Erinnerung an 12 vergessene Jahre jüdischer Geschichte im Nachkriegsdeutschland.

"Meine Mutter hatte nichts gegen Deutsche, auch nach dem ganzen Grauen nicht. Auf der anderen Seite hat sie mir gesagt, sei höflich zu den alten Leuten, aber gib keinem alten Mann die Hand. Du weißt nicht, ob er nicht deine Großeltern ermordet hat." (Anton Weinberger, ehemaliger Bewohner von Föhrenwald)

Seit Eva vor ein paar Jahren auf die Vergangenheit des Ortes und das bewegte Vorleben ihres Hauses gestoßen ist, seitdem sucht sie nach Spuren, trägt Dokumente zusammen für ein kleines Museum und erzählt interessierten Besuchern die Geschichte von Föhrenwald. In Yad Vashem in Jerusalem hat sie Hinweise auf die Talmud-Hochschule gefunden, die der schon damals legendäre Rabbi Halberstam in Föhrenwald aufgebaut hat.
"Die Rabbiner haben wohl in der New Jersey oder Newjerski gewohnt, das ist jetzt die Straße, wo wir wohnen, also die Korbindian-Straße. Und die Jeschiwa, die war wohl in der Hauptsynagoge. Aber die Rabbiner haben in der New Jersey gewohnt."

Ursprünglich eine von Hitler angelegte Arbeitersiedlung

Wir finden den Stern auf Schulterhöhe, er hat etwa 30 Zentimeter Durchmesser. Bis 1957 schmückte er eine Thora-Schule, soviel hat Eva inzwischen herausgefunden. Sie ist selbst Lehrerin, und manchmal sieht sie in ihrem Wohnzimmer die jüdischen Kinder vor sich.
"Das stelle ich mir manchmal vor. Ich überlege, wie die Räume eingerichtet waren, ich vermute, dass unten der Raum offen war. Jetzt sind ja zwei kleine Zimmer, und dass da die Wand rausgerissen war, damit die Schüler unterrichtet werden konnten. Es gab ja mehrere Schulen in Föhrenwald, aber das war eben eine jüdische, religiöse Schule."

2012 gründeten Bürger von Wolfratshausen den Verein "Bürger fürs BADEHAUS Waldram-Föhrenwald", um das alte Badehaus von Föhrenwald vor dem Abriss zu bewahren und zum Erinnerungsort umzugestalten. 2018 eröffnete das Museum. Es erzählt die Geschichte des Ortes, der ab 1940 eine NS-Siedlung für Rüstungsarbeiter war, ab 1945 ein Rettungsort für Überlebende des KZ-Todesmarsches und Fluchtpunkt für jüdische Displaced Persons und ab 1956 zur neuen Heimstatt für katholische Heimatvertriebene wurde. Weitere Informationen unter https://erinnerungsort-badehaus.de/

Eva unterrichtet Geschichte. Aber die bewegte Geschichte ihres Ortes kennt sie selbst erst seit ein paar Jahren, zum Beispiel, dass vor den Rabbinern französische und polnische Zwangsarbeiterinnen in ihrer Straße gewohnt haben. Dass die Siedlung 1937 im Auftrag von Hitler für die Arbeiter der beiden Munitionsfabriken im Wolfratshauser Forst angelegt worden ist.
Das meiste hat Eva auf Umwegen von ihrer Mutter erfahren. Evas Mutter war schon vor den Juden in Föhrenwald, als Dienstverpflichtete unter Hitler. Aber darüber hat sie mehr als ein halbes Jahrhundert geschwiegen. Bis Evas Tochter Sophie die Oma für eine Schularbeit ausgefragt hat.
"Also, ich habe Geschichte-Sozialkunde-Leistungskurs gehabt und unser Lehrer hat gemeint, es wäre schön, ein Thema aus der Region zu nehmen", sagt Sophie. "Und da habe ich mir gedacht, ich kann doch meine Oma interviewen, die war doch schon damals hier. Es war für sie auch nicht leicht, darüber zu sprechen, aber dadurch, dass es eben für diese Arbeit für die Schule war, hat sie mir gerne geholfen."

Erst die Fragen der Enkelin brechen das Schweigen

Evas Mutter erzählte der Enkelin, was sie der Tochter nie erzählt hat: wie sie im Krieg als Bürokraft im Zwangsarbeiterlager Föhrenwald eingesetzt war, wie sie den Französinnen Woche für Woche den kargen Lohn ausbezahlen musste, wie sie mit dem Industriezug in die Munitionsfabriken gefahren ist, um die Quittungen abzugeben.
Und dann erzählte Sophies Oma auch die Sache mit den Juden: dass hier bis weit in die 1950er-Jahre mehr Juden gelebt haben als irgendwo sonst in Deutschland. Und dass in dem Haus, das ihr Mann 1958 kaufte, kurz vorher noch eine jüdische Schule war.
"Ich glaube, sie war sogar erleichtert, dass jemand nachgefragt hat", sagt Sophie. "Ich habe das alles auf Kassette aufgenommen, und die höre ich mir auch jetzt noch gerne an, weil das so die einzigen Aufnahmen sind, die ich von meiner Oma habe, weil meine Oma an der Schwelle zur Demenz stand. Ich glaube, das war der einzige Moment, wo das noch möglich war überhaupt, mit ihr über die Vergangenheit zu sprechen."
Sophie hat dann für ihre Facharbeit Kontakt zu einigen Juden aufgenommen, die in Föhrenwald aufgewachsen sind und jetzt in Frankfurt, in Israel und in Berlin leben. Eva und Sophie setzten das Puzzle zusammen und hatten das Bild vom jüdischen Schtetl Föhrenwald.
"Ich gehe dann manchmal durch die Straßen und überlege, wow, was war da hier los?", sagt Eva. "Vor allem von 1945 bis 1957."
Vor zwei Jahren wurde in Waldram der Erinnerungsort Badehaus eröffnet. Badehaus, weil dort im Keller die Mikwe war, das jüdische Ritualbad. Mehr als 60 Jahre nach dem Ende von Föhrenwald wurde die Kultur des Vergessens durch eine Kultur der Erinnerung abgelöst. Eine der treibenden Kräfte war Eva Greif.
KZ-Häftlinge auf einem Todesmarsch durch Starnberg, Bayern. (1945)
KZ-Häftlinge aus Dachau auf einem sogenannten "Todesmarsch" durch Starnberg. Kurz hinter Wolfratshausen wurde der Zug von US-Truppen eingeholt.© akg-images / Benno Gantner
Am frühen Morgen des 28. April 1945 wurden die Wolfratshauser von einem eigenartigen Geräusch geweckt, das niemand vergaß, der es gehört hatte. Max Roderer war damals acht Jahre alt, er war Messdiener und auf dem Weg zur Frühmesse, als ihm in der Marktstraße der Todesmarsch begegnete:
"Ich bin um sechse in der Früh in die Kirche gegangen, hab mir gedacht, was ist denn da los: Wow-wow-wow-wow, dann kommen SSler daher mit den Hunden, und dahinter in Fünfer- und Sechser-Reihen KZler in ihren gestreiften Anzügen, ausgehungert und kaputt alle. Das waren Tausende. Ich hab´s ja selbst gesehen."
Die Erzählungen vom Todesmarsch kenne ich seit meiner Kindheit. Das Geräusch der schlurfenden Holzschuhe hat auch meine Mutter so beschrieben. Wie sich Tausende von völlig erschöpften KZ-Häftlingen im Gleichschritt durch Wolfratshausen geschleppt haben, vorwärts getrieben von erbarmungslosen Bewachern. Dazu die Schreie der Sterbenden, die vor Erschöpfung zusammengebrochen waren und von den SS-Leuten sofort erschlagen wurden.

Beim Todesmarsch konnte niemand mehr wegsehen

Der Todesmarsch brachte in diesen letzten Kriegstagen mit einem Schlag die ganze Brutalität des NS-Regimes nach Wolfratshausen. Natürlich hatte es in den Jahren zuvor auch hier Verhaftungen und Deportationen gegeben. Die Mädchen der jüdischen Hauswirtschaftsschule, schräg gegenüber der Bäckerei meiner Eltern, wurden schon 1938 vertrieben. Wenig später wurde die einzige jüdische Familie des Ortes abgeholt und kurz danach wurde einer der katholischen Pfarrer nach Dachau gebracht. Doch die Grausamkeiten fanden woanders statt. Wer wegsehen wollte, konnte wegsehen.
Beim Todesmarsch konnte niemand mehr wegsehen. Dutzende Tote lagen danach auf den Straßen. Die Schilderungen haben sich selbst meiner Generation noch eingebrannt. Auch Reiner Berchthold, ein Bekannter von früher, später Bürgermeister, hat die Schilderungen seiner Mutter noch vor Augen:
"Da ist einer vom Todesmarsch zusammengebrochen, und dann hat einer der Begleiter seinen Hund auf den loslassen: Steh auf, geh weiter, und dann hat sie halt noch gesehen, wie der Hund sich in den verbissen hat, und sie hat gesagt, das war für mich so schrecklich, das kannst du einfach nicht vergessen."
Die Erzählungen hörten immer damit auf, wie schlimm der Anblick war. Was mit den Überlebenden passiert ist, habe ich erst jetzt aus den Archiven erfahren.
Warum die SS die KZ-Häftlinge von Dachau in die Berge treiben wollte, ist bis heute umstritten. Sicher ist, dass dieser Todesmarsch kurz hinter Wolfratshausen von den US-Truppen eingeholt wurde. Die Bewacher flohen, und die US-Militärs mühten sich, die Überlebenden unterzubringen. Sie beschlagnahmten dafür auch das Lager Föhrenwald. In den 300 Häusern fanden sie fast 3000 Zwangsarbeiter, vor allem Ukrainer, Polen, Franzosen, Belgier. Die meisten hofften, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, einige machten sich sofort auf den Weg.
Rund 7 Millionen Menschen irrten in den Monaten nach Kriegsende durch Deutschland, Verschleppte, Geflohene, Entwurzelte. Die Alliierten nannten sie "Displaced Persons", "DPs". Sie wurden in Barackensiedlungen, in Klöstern und Kasernen untergebracht. Föhrenwald war bald eines der größten DP-Lager. Ende 1945 lebten dort mehr als 5.300 Menschen.

In Häusern der Juden lebten jetzt Polen

"Wir waren die ersten Kinder, wissen Sie. Die Leute haben gedacht, sie werden keine Kinder mehr haben, also, dass sie das überhaupt überleben werden. Wenn ja, wie?"
Majer Szanckower sitzt an seinem Schreibtisch im Pförtnerhaus des jüdischen Friedhofs in Frankfurt am Main und erinnert sich an seine Kindheit. Und weil jeder seine eigene Art hat, sich zu erinnern, wühlt Szanckower mit beiden Händen in Bergen von vergilbten Dokumenten, alten Ausweisen, irgendwelchen Meldezetteln und losen Schwarzweißfotos.
"Das sind so Kinderbilder mit den Lehrern. Schiefertafeln, das war in der ersten Klasse. Die DP-Lager, nicht nur dieses, hatten die höchsten Geburtenraten aller jüdischen Gemeinden der Welt. Ja, neues Leben, das ist wie jetzt Frühling kommt."
Ein Familienfoto, Mutter, Vater und die beiden Töchter können sich jedoch nicht auf einen einheitlichen Blick in die Kamera einigen. Die Töchter schauen beide demonstrativ weg.
Viele jüdische Familien sahen in Föhrenwald zunächst nur eine Duchgangsstation. Doch viele blieben länger, als sie ursprünglich vorhatten. © Bürger fürs BADEHAUS Waldram-Föhrenwald e.V.
Majer Szanckower gehörte zur zweiten Welle der Entwurzelten, die vor allem aus Osteuropa kamen und nach 1947 in Föhrenwald eintrafen. Sein Vater war in Polen aufgewachsen, erzählt Szanckower, hatte bereits Frau und Kinder, als die Deutschen kamen und ihn zur Zwangsarbeit abholten. Er konnte fliehen und ging nach Osten:
"Aus dieser Reise ist geworden eine Reise quer durch die Sowjetunion bis Taschkent. Dort hat er den Krieg überlebt. Seine Familie ist komplett umgebracht worden. Er hat mir nie erzählt, wie viele Familienmitglieder das waren, wie viele Kinder er hatte, wie die hießen, wie seine Frau hieß. Keine Ahnung."
In Taschkent in Usbekistan schlug sich Moszek Szanckower als Händler auf dem lokalen Markt durch und lernte seine zweite Frau kennen. Sie war aus Chisenau im heutigen Moldawien. Auch sie war vor den Deutschen geflohen, auch ihre Familie war von den Nazis dezimiert worden. Als der Krieg zu Ende war, reisten sie in seine Heimat nach Polen – und waren plötzlich heimatlos. Die jüdische Bevölkerung ermordet oder vertrieben, und in ihren früheren Häusern lebten nun Polen, die meist selbst irgendwo vertrieben waren.
"Die heimkehrenden Juden wurden nach dem Motto empfangen, euch gibt´s ja doch noch", sagt Majer Szanckower. "Wir dachten, ihr kommt nicht mehr. Da kamst du in deine Wohnung, da haben die an deinem Tisch gesessen und mit deinem Besteck gegessen, tja."
Die Stimmung war feindselig gegenüber Juden, nicht nur in Polen, in ganz Osteuropa. Antisemitische Übergriffe häuften sich. Am 4. Juli 1946 kam es dann zum Pogrom von Kielce, bei dem 42 Juden erschlagen wurden:
"Sie kennen ja die Geschichte, dass die Juden für die Mazze, das Pessachbrot, das wir essen, Kinderblut brauchen. Das wird ja bis zum heutigen Tag verbreitet in manchen Gegenden. Und da ist ein Kind verschwunden, ein polnisch christliches Kind, war die Pessachzeit, unsere Osterzeit, und da war es für die Leute wohl klar, das müssen die Juden sein, und da kam es zu einem Pogrom. Und das war so ein Fanal, raus, jetzt haben wir hier nichts mehr verloren."

300.000 Juden flohen nach 1945 aus Osteuropa

Die Szanckowers flohen nach Deutschland, ausgerechnet Deutschland. Doch sie wollten nicht zu den Deutschen, sie suchten den Schutz der Alliierten, die im besiegten Deutschland das Sagen hatten.
"Ich bin im November 1947 geboren. In Berlin-Tempelhof im Sankt Josefs Krankenhaus 1", erzählt Majer Szanckower. "Berlin ist übergequollen von Flüchtlingen. Und das war dann auch die Zeit, wo die berühmte Blockade war, wo die Luftbrücke der Alliierten stattgefunden hat. Die Amerikaner sind nach Berlin eingeflogen und haben die Stadt versorgt. Und das Leergut waren wir. Die haben nämlich die jüdischen Flüchtlinge auf dem Rückweg ausgeflogen."
300.000 Juden sind nach dem Krieg aus Osteuropa nach Deutschland geflohen, die meisten aus Polen. Sie hofften, mit amerikanischer Hilfe weiterreisen zu können:
"Mein Vater hat Ausreiseanträge gestellt, nach Kanada, nach Amerika, nach Sao Paulo, Südamerika, nach Norwegen."
Doch bei der Mutter wurde ein Schatten auf der Lunge entdeckt. Der Verdacht auf Tuberkulose machte die Ausreise praktisch unmöglich.
"Kein Land der Welt wollte uns haben mit diesem Stempel, wir sind nur der Rest, der Kaffeesatz, das waren wir dann. Hier, das sind alles so Bilder aus schönen Tagen im Lager."
Ein Junge ist mit seinem Fahrrad unterwegs und schaut in die Kamera.
Majer Szanckower als Kind in Föhrenwald. © Bürger fürs BADEHAUS Waldram-Föhrenwald e.V.
So schlimm die Situation für die Erwachsenen war, für die Kinder war Föhrenwald ein großer Spielplatz, sagt Szankower, allein schon, weil es so viele Kinder gab und alle im selben Alter:
"Für uns Kinder, das sagen alle, für uns Kinder war es Paradies-Island. Wir haben Plätze und Spielmöglichkeiten noch und nöcher gehabt. Wir haben Straßenkämpfe Straße gegen Straße gehabt, da gab es hier die Banden-Führer. Da war ich, was weiß ich, irgendwo zwischen acht und zehn."
150 Meter von Evas Haus entfernt steht die Schule, an der ich mein Abitur gemacht habe. Ein großes Gebäude mit dicken Mauern und hohen Fenstern, das die benachbarten zweistöckigen Siedlungshäuser überragt. Daneben, genauso wuchtig, die Kirche, in der wir unsere Schulgottesdienste gefeiert haben.

"Föhrenwald war eine große Familie. Föhrenwald war für Kinder ein Paradies, für die Erwachsenen war's die Hölle. Weil, sie hatten ja keine Zukunft." (Abraham Ben, ehemaliger Bewohner von Föhrenwald)

Vor dem Eingang treffe ich Thomas Erhard, den stellvertretenden Schulleiter. Die Kirche ist zur Schul-Aula umgebaut worden, erzählt er, ich könne sie mir gerne anschauen. Er selbst ist vor 25 Jahren nach Waldram gekommen. Von der jüdischen Geschichte des Ortes habe er erst später erfahren:
"Für die Wolfratshauser war das ja auch eher anrüchig, die Juden, die dann da waren im Lager, und die haben es dann vielleicht auch einfach verdrängt." - "Hier war die Kirche, aber hier war vorher auch die Synagoge drin." - "Möglicherweise. Hier gab's ja angeblich in Waldram sieben Synagogen, weil es auch sieben Konfessionen oder Richtungen in der jüdischen Bevölkerung gab. Da gab's so kleinere Treffpunkte. Das mag sein, dass da auch eine Synagoge war. So genau weiß ich's letztlich nicht."
Die Struktur der ehemaligen Kirche ist noch klar erkennbar. Ansonsten erinnert nichts an die frühere Nutzung als Kirche und als Synagoge. Keine Gedenktafel, kein Hinweis. Dabei war der große, kahle Raum, in dem wir gerade stehen, ein paar Jahre lang eines der am besten besuchten jüdischen Gebetshäuser in Europa.
"Im Alltag der Schule spielt das keine größere Rolle, die Geschichtslehrer greifen das vielleicht mal hier und da auf". sagt Erhard. "Wir werden gebeten, auch im Rahmen des P-Seminars, was jetzt das Gymnasium in Bayern zulässt, auch einmal ein Projekt in dem Bereich zu machen."

Ein Ort wie eine Theaterkulisse

1955 übernahm die katholische Kirche die gesamte Siedlung Föhrenwald, um hier kinderreiche Flüchtlingsfamilien aus Osteuropa unterzubringen. In den Hauptgebäuden in der Mitte der Siedlung richtete die Kirche ein Spätberufenen-Seminar für junge Männer ein. Für junge Männer, die nach einer Berufsausbildung feststellen, dass sie doch Priester werden wollen. Aber man kann dort auch einfach sein Abitur nachmachen.
Ich habe mich 1976 an dieser Schule eingeschrieben. Die letzten Juden waren noch nicht einmal 20 Jahre weg. Aber über die Vergangenheit des Hauses wurde nicht gesprochen, nie. Fünf Jahre lang war ich an der Schule in Waldram, insgesamt 25 Jahre lang in Wolfratshausen. Im Rückblick kommt es mir unwirklich vor, dass ich von dem jüdischen Lager nichts mitbekommen habe. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich in einer Theaterkulisse gelebt habe, mit schönen Bildern von Bergen und Seen und barocken Kleinstädten. Und hinter den Kulissen lag eine Welt, die man verstecken wollte.
Ich habe inzwischen viele meiner ehemaligen Mitschüler in Waldram gefragt, nur ein einziger hat damals Bescheid gewusst. Matthias Röttig stammt aus einer der katholischen Familien, die Ende der 50er Jahre in Waldram einzogen. Jahre später haben er und seine Brüder auf dem Speicher gestreifte Hosen und Jacken gefunden.
"Zwischen den Sparren sind drei KZ-Anzüge mit Nummern aufgetaucht, und es war damals in Waldram so, dass nicht nur bei uns diese Anzüge gefunden wurden, sondern auch bei den Nachbarn", erinnert er sich. "Und dann sind die Kinder mit diesen Anzügen rumgelaufen, die haben die angehabt. In der Gegend, wo ich aufgewachsen bin, hat man dann die jungen Leute gesehen mit den KZ-Jacken, es war so eine Clique, und die hatten die alle an."
Matthias und seine neun Brüder haben die Anzüge nicht getragen. Die Röttigs gehörten zu den wenigen Ausnahmen, bei denen zu Hause über Föhrenwald gesprochen wurde.
"Die Mutter hat das erzählt, der Vater nicht so, aber die Mutter hat immer mal wieder drüber geredet. In den Schulen wurde über Waldram nie geredet. Nein."

Zu viel Schuld, um sich ihr zu stellen

Ein paar Straßen weiter ist Josef Brustmann aufgewachsen, er lebt heute als Kabarettist und Musiker im nahen Icking. Seine Familie war aus dem Sudetenland und eine der ersten, die in Waldram ankam. Es war die Zeit, als die Juden immer weniger und die katholischen Siedler immer mehr wurden. Josef Brustmann war damals noch zu klein, sagt er, um sich daran zu erinnern, und später wurde nicht mehr darüber geredet:
"Null, null, dieses Thema war ein absolutes Tabu. Ich hätte eigentlich ein bisschen was wissen können, weil meine großen Brüder in Waldram 1957 noch mit Juden in die Schule gegangen sind. Also, da waren noch Juden da, die sind aber dann nach Amerika oder Israel ausgewandert, und teilweise wurden sie aber auch rausgedrängt, es gab auch Juden, die gern in Waldram, Föhrenwald geblieben wären. Aber das wollte man nicht, man wollte eine rein katholische Geschichte machen."
Auch Josef Brustmann fragt sich, warum die jüdische Zeit in Waldram so konsequent verdrängt wurde. Erklärungen sucht er in der eigenen Waldramer Familie. Schon als Jugendlicher habe er mit seinem Vater über Auschwitz gestritten:
"Er hat immer gesagt, Auschwitz, das waren ja nicht wir Deutschen, das war ja in Polen. Das war immerhin eine Anerkennung, dass es grauenvoll war, aber so eine Entlastung, so eine Entschuldung, ganz merkwürdig zwiespältig. Mein Vater war jetzt kein Faschist, aber das war für die einfach zu viel Schuld, das konnte nicht verarbeitet werden, da konnte man nicht dazu stehen. Und dann kam sehr schnell das Gefühl, dass man selber Opfer ist, weil man die Heimat verloren hat, und mein Vater hat dann zwei Kinder auch verloren, und die Mutter - also, die haben natürlich ein ganz hartes Los auch gehabt, aber die eigene Opferrolle war dann wichtiger. Und da hat man dann das Jüdische einfach ausgeblendet."
Eine Postkarten mit Straßenansicht, Autos und Fahnen mit den Symboliken der Nationalsozialisten in Wolfratshausen Isartal.
Wolfratshausen-Isartal während der nationalsozialistischen Zeit. B© akg-images / arkivi

Juden und Nicht-Juden hielten Abstand

"Wir waren exterritorial dort. Wir waren wirklich in einer Glaskugel", erinnert sich Majer Szanckower. "Wir hatten eine eigene Verwaltung, wir hatten eine eigene Polizei am Anfang, eine jüdische Polizei. Man hat am Anfang ja bewusst getrennt und viele Leute hatten ja nicht die besten Erfahrungen mit den Deutschen. Die Erde war ja noch warm."

"Es gab auch zwei, drei Straßen, da haben nur Religiöse gewohnt. Da war es schon verpönt, am Schabbat mit dem Auto durchzufahren." (Abraham Ben, ehemaliger Bewohner von Föhrenwald)

"Der Tagesablauf der Bewohner in Föhrenwald ist bestimmt worden durch den jüdischen Wochen-Zyklus", berichtet Anton Weinberger. "Diejenigen, die beten konnten und beten wollten, sind dreimal am Tag in die Schul, wie es auf Jiddisch heißt, in die Synagoge gegangen und am Schabbat war klar, dass man in die Synagoge geht, Eref Schabbat, also am Vorabend von Schabbat, genauso wie am Schabbat morgen. Alle Feiertage wurden auch strikt eingehalten."
Anton Jakob Weinberger blättert in einem Fotoalbum mit schwarz-weißen Kinderbildern. Auf dem Tisch stehen zwei Tassen Kaffee und Pfeffernüsse, eine lokale Spezialität in Offenbach.
"Es gab viele, die gesagt haben: Ja ich bin Jude und ich bin als Jude verfolgt worden. Aber ich kann nicht mehr glauben an Gott. Die sind zwar noch in die Synagoge gegangen, aber es war keine innere Anteilnahme dabei. Nennen Sie es Tradition oder nennen Sie es Ehrfurcht vor der Familie, die ermordet wurde?"

Das Gefühl, eingesperrt zu sein

Alle ehemaligen Föhrenwalder, mit denen ich rede, legen erst mal Fotos aus Föhrenwald auf den Tisch, um die Kinderzeit wachzurufen. Aber Anton Weinberger sucht etwas anderes in diesen Fotos. Seine Erinnerung an Föhrenwald ist die des Eingesperrtseins, sagt er. Schon als Kind habe er den Stacheldrahtzaun und den Schlagbaum am Eingang des Lagers als Einschränkung seiner Freiheit empfunden.
"Der Anstoß für meine Suche nach dieser Zeit meines Großwerdens war dieses Fotoalbum, weil mein Gefühl, eingesperrt und ausgeschlossen zu sein von einer Welt, von der ich gar nicht wusste, was hinter diesem Stacheldrahtzaun sich verbirgt und dem Schlagbaum, konnte ich nicht zusammenbringen mit diesen Kinderfotos, wo ich da im kurzen Höschen mit Ball in der Hand und Hütchen dastehe. Ein fröhliches Kind, das glücklich gewesen sein muss."
Während viele seiner damaligen Spielkameraden Föhrenwald als einen großen Abenteuerspielplatz im Gedächtnis behalten haben, wo sie frei und ungestört waren, verbindet Anton Weinberger mit dieser Zeit eher düstere Gefühle. Er erklärt sich das damit, dass die Familien seiner Freunde meist aus polnischen Schtetln und Dörfern kamen, wo Juden weitgehend unter sich waren. Das Zusammenleben in Föhrenwald empfanden sie deshalb als Geborgenheit und sahen im Stacheldrahtzaun einen Schutz vor den Deutschen.

"Es wurde ausschließlich jiddisch gesprochen, jiddisch war die Sprache, sozusagen die Amtssprache. Wir haben auch Deutsch gelernt, aber es war, wie man eine Fremdsprache lernt. Wir sind auf die Straße gegangen und haben jiddisch gesprochen wieder." (Majer Szanckower, ehemaliger Bewohner von Föhrenwald)

Weinbergers Eltern dagegen hatten in Czernowitz im damaligen Rumänien inmitten der großen deutschen Minderheit gelebt, erzählt er, unter Christen, die ganz selbstverständlich mit den unzähligen anderen Minderheiten der Stadt zusammenlebten. Czernowitz war eine multiethnische Stadt, bevor die Nazis diese Welt zerstört haben. Die vergebliche Sehnsucht nach dieser bunten Welt habe seine Kindheit in Föhrenwald geprägt:
"Für meine Mutter war ja Föhrenwald nicht das Ziel ihres Lebens. Sie hat nur Föhrenwald als das Loch bezeichnet, aus dem wir so schnell wie möglich herauskommen müssen."
Doch auch bei ihr war eine Tbc diagnostiziert worden. Alle Ausreiseanträge waren abgelehnt worden. Föhrenwald war bereits das zehnte DP-Lager für die Familie Weinberger.

Ein Lager für die, die nirgendwo gewollt waren

Während immer mehr Juden den Sprung nach Israel und in die USA schafften und immer mehr Lager schlossen, wurden die Zurückgebliebenen ins nächste Lager weitergereicht. Bis nur noch Föhrenwald übrig war.
Das Lager der fröhlichen Kinder und der kranken Erwachsenen.
"Der Schatten der KZs hing über diesem Lager. Sie haben ja die Leute gesehen, mit den KZ-Nummern auf den Arm tätowiert. Sie haben viele Leute gesehen, die, würde man heute sagen, schwerst traumatisiert und deprimiert waren. Die durch diese damals kaum befestigten Straßen schlurften. Keine Spur von aufrechtem Gang. Es waren gebrochene Seelen."
Wer konnte, suchte sich eine Arbeit außerhalb des Lagers. Weinbergers Vater betrieb zeitweise eine Kürschnerwerkstatt in München, seine Schwester ging in Wolfratshausen zur Berufsschule. Seine Mutter ging nach Wolfratshausen zum Einkaufen und zum Kaffeetrinken, so wie viele Föhrenwalder. Die Geschäfte in der Marktstraße stellten sich zunehmend auf die Kundschaft aus Föhrenwald ein. Umgekehrt kamen auch immer mehr Wolfrasthauser nach Föhrenwald, Bäcker, Friseure, Handwerker, Wäscherinnen. Man gewöhnte sich aneinander.
Doch bei aller geschäftlichen Annäherung, erinnert sich Anton Weinberger, die Distanz und auch das gegenseitige Misstrauen blieben bis zum Schluss. Freundschaften waren die Ausnahme.
"Diese Kontakte zu den Bewohnern um Föhrenwald herum waren spärlich. Das muss man so sagen. Das war von den Juden nicht gewünscht und es war von den nichtjüdischen Deutschen auch nicht gewünscht."

Manche befürchteten, die Juden könnten sich rächen

Besuch bei meinen Tanten Maria und Kathi, beide über 90, aber noch gut dabei. Ich will Fragen stellen, die ich schon länger hätte stellen sollen. Ich merke schnell, dass es fast zu spät ist, wenn man herausfinden will, was damals in Wolfratshausen los war und wie die Wolfratshauser dazu standen. Die Erinnerungen verwischen, die Zeiten verrutschen. Krieg, vor dem Krieg, nach dem Krieg, die Ereignisse kleben aneinander, verklumpen zu einem großen Block.
Man habe ja nicht offen reden dürfen, sagen meine Tanten immer wieder, sonst wäre man nach Dachau gekommen: "Ma hat halt staad sein müssen, dann ist nix passiert."
Still sein, ruhig halten, die Vorsicht steckte dann so tief drinnen, dass es offenbar auch nach dem Krieg angehalten hat.
Beide bestätigen, dass die Wolfratshauser zu jeder Zeit gewusst haben, was in Föhrenwald passierte. Auch über die Munitionsfabriken im Wolfratshauser Forst wussten alle Bescheid. Aus Gründen der Geheimhaltung wurde offiziell nur von Schokoladenfabriken gesprochen. Doch die Zwangsarbeiterinnen, die in die Marktstraße zum Einkaufen kamen, sie waren nicht zu übersehen:
"Das hat man schon gewusst, dass viele Franzosen da waren und Russen. Die haben gelbe Hände gehabt, und die Haare gelb, Gift haben sie gesagt, das ist ein Gift. Weil die haben ganz gelbe Hände, gehabt, das ist scheinbar nicht mehr weggegangen."
Nicht nur die Hände und die Haare waren gelb, viele hatten von den chemischen Stoffen auch gelbe Flecken im Gesicht. Kanarienvögel, haben die Leute gesagt, gar nicht abschätzig, eher mitleidig. Auch nachher, als in Föhrenwald zwölf Jahre lang Juden lebten, war das im Ortsbild nicht zu übersehen. Unmittelbar nach dem Krieg hatten viele offenbar Angst, dass sich die Juden an den Deutschen rächen könnten. Man richtete sich ein, um notfalls mit Kuhglocken die Nachbarn zu alarmieren.
"Die Oma hat eine Kuhglocke aufgstellt: wenn was ist, dass die Nachbarn das hören. Weil man sich schon gefürchtet hat vor den Ausländern, wie der Krieg zu Ende war, dass sie Rabatz machen."
Sie machten keinen Rabatz. In den ersten Tagen gab es ein paar Streitereien um Milchkannen und Lebensmittel, erzählen die Tanten, aber das war nur kurz. Danach kamen die Juden aus Föhrenwald zum Einkaufen, zum Kaffeetrinken und zum Flanieren in die Marktstraße. Für viele Geschäfte wurden sie zu wichtigen Kunden. In Föhrenwald lebten damals doppelt so viele Menschen wie in Wolfratshausen.

"Juden - das passt nicht zu Deutschland"

Meine Tanten hätten damals gerne gewusst, wie die in Föhrenwald leben, wie das jüdische Leben aussah. Schon vor dem Krieg hatten sie immer wieder versucht, bei ihrer jüdischen Freundin Herta mehr herauszufinden über die religiösen Sitten und Bräuche:
"Die ganzen Rituale, was man so gehört hat, die haben da schon fest jüdisch gelebt. Weil ja mir so neugierig waren, was da ist. Das war ja alles ganz anders, das hat uns natürlich interessiert. Aber wir haben dann nicht drüber reden dürfen. Weil das Juden waren und das hat doch nicht zu Deutschland gepasst."
Dass Juden nicht zu Deutschland passen, war auch nach dem Krieg noch weit verbreitet. Doch im Grunde waren die Juden nie das Thema hier. Für meine Familie wie für die meisten Familien meiner Freunde war das größte Verbrechen der Nationalsozialisten die Verfolgung der katholischen Kirche. Dass die Nazis das Läuten der Kirchenglocken verboten haben, dass sie die katholischen Vereine auflösten, dass sie die Kirchgänger schikanierten, darüber wurde bei uns viel und lange geredet. Hitler, der Anti-Christ. Die Verfolgung der Juden rückte in den Hintergrund – und Föhrenwald, die Nachkriegsgeschichte, gleich mit.
Solange Juden in Föhrenwald lebten, habe man schon drüber gesprochen, versichern meine Tanten Maria und Kathi. Als sie weg waren, habe es keinen Grund mehr gegeben:
"Weil jeder gesagt hat, sei mal staad mit dem Schmarrn. Das mögen wir nicht mehr hören. Da ist dann nicht mehr recht viel geredet worden, die ganze Zeit."

Rabbiner mit langen Mänteln und Schläfenlocken

Nach meinen Tanten gehe ich bei Max Roderer vorbei, einem alten Bekannten meiner Familie. Roderer, inzwischen 83, erzählt auch gleich, dass er als 12-Jähriger gelegentlich zu den Juden zum Arbeiten gegangen ist. Mit dem Heuwagen Kartoffeln ausfahren:
"Wenn ein Güterzug mit Lebensmitteln gekommen ist, dann bin ich mit meinem Heuwagerl raufgefahren und hab die Kartoffeln ausgefahren zu den Häusern hin. Da hab ich einen Haufen Geld verdient. Da hast du einen Zwanziger gekriegt für ein Heuwagerl voll Kartoffeln ans Haus hin fahren. Und das war damals viel Geld. Mein Vater hat im Monat 200 Mark verdient, und ich hab für einmal mit dem Heuwagerl 500 Meter fahren 20 Mark gekriegt."
Für den Zehnjährigen war Föhrenwald ein aufregender Ort, erinnert er sich, die eingezäunte Siedlung mit den vielen Menschen, von denen einige doch sehr anders gekleidet waren als in Wolfratshausen üblich. Vor den Rabbinern mit ihren langen Mänteln und den schwarzen Hüten und den Schläfenlocken, sagt er, hätten sie richtig Angst gehabt:
"Am meisten haben wir uns geforchten vor den Rabbinern mit ihren schwarzen Kutten und den Schneckerln, das waren natürlich die Fanatischen. Ich hab nichts Negatives... kann ich nicht sagen. Ich glaub, da hat keiner Angst haben brauchen."
Sein Musiklehrer hat ihn in eine jüdische Musikgruppe mitgenommen. Mit seiner Trompete ist er dann sogar bei einem jüdischen Kinderfest aufgetreten. Aber die Kontakte gingen nicht weiter, sagt er, Freundschaften sind daraus nicht entstanden. Warum das so war, das kann er heute auch nicht mehr sagen.
 Schild der Kreisverwaltung Wolfrathshausen (Bayern) gegen Hamsterer und Schwarzhändler. (Dezember 1946)
Der Schwarzmarkt war verpönt - aber hingegangen sind viele trotzdem.© akg-images
Wolfratshausen und Föhrenwald, da war immer eine gewisse Distanz, die von beiden Seiten gepflegt wurde. Nur am Sonntag, da gab's etwas mehr Kontakte, auf der großen Wiese vor dem Zaun. Sonntagsmarkt haben die Föhrenwalder gesagt, Schwarzmarkt sagten die Wolfratshauser und rümpften die Nase. Hingegangen sind sie trotzdem:
"Ich glaub, auf dem Schwarzmarkt waren schon viele da. Jeder, der was zum Handeln gehabt hat, zum Tauschen – weil die Juden haben Sachen gehabt, Lebensmittel zum Beispiel, die sie von den Amerikanern bekommen haben, da hat man das eintauschen können, oder einkaufen."
Die Familie Roderer war weltoffener und stand etwas weiter links als die meisten anderen Wolfratshauser. Der Vater war vor dem Krieg Drucker bei der Lokalzeitung, und als die Nazis kamen, hat er sofort seinen Job verloren. Er hat sich dann als Hilfsarbeiter durchgeschlagen, und als der Krieg vorbei war, kamen viele zu ihm für einen Persilschein. So nannte man die Entlastungsschreiben, die bestätigen sollten, dass jemand zwar in der Partei, aber kein wirklicher Nazi gewesen sei. Solche Scheine halfen, bei den Entnazifizierungsverfahren glimpflich davon zu kommen.
Max Roderer hat seinem Vater lange vorgehalten, dass er sich darauf eingelassen hat: "Ich hab ihn geschimpft, weil er so Spezln noch Entlastungsschreiben geschrieben hat. Das waren halt so Muss-Nazi, die sind dazugegangen, sonst hätten sie den Job verloren. Ich hätte das ja nicht gemacht. Weil, die haben das ja ausgenutzt, den ganzen Krieg in Saus und Braus gelebt, während wir nichts gekriegt haben."
Vielleicht sind die Verjährungsfristen kürzer, je kleiner so ein Ort ist. Man muss ja irgendwie wieder zusammenleben. Und da außer der jüdischen Familie Spatz niemand aus dem Ort von den Nazis umgebracht worden ist, hat man nach dem Krieg sehr zügig wieder Frieden geschlossen. Nur die Juden von Föhrenwald haben da gestört, weil sie allein durch die zwölf Jahre ihrer Anwesenheit daran erinnert haben, dass das Dritte Reich schlimmer war als nur ein Streit um die Kirchenglocken. Als die Juden weg waren, hat man das Kapitel umso entschlossener zugeschlagen und weggesperrt.

Ein Gespräch mit dem alten Schuldirektor

Ich will es genauer wissen und fahre nach Regensburg, ins Altenheim. Zu Dr. Braun. Dr. Braun war mein Schuldirektor in Waldram. Weil die Schule damals nur sechs oder sieben Klassen hatte, war das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern sehr persönlich. Dr. Braun ist inzwischen 99, etwas gebrechlich, aber glasklar im Kopf. Von Föhrenwald, sagt er, hat er Mitte der 50er-Jahre zum ersten Mal gehört, als er noch Lateinlehrer am Gymnasium in München war:
"Ich hatte in München die erste Klasse und da war ein Bub, der war in Föhrenwald geboren. Das war ein Judenbub, der hat mir einmal Mazzen mitgebracht. So Gebäck, kennst ja. Ich wusste, dass in Föhrenwald ein Lager für Juden war, der Bub hat´s mir genau geschildert. Der hat sich gefreut, dass ich mich für seine jüdische Religion interessiert habe und da hat er mir so Mazzen mitgebracht."
Als Dr. Braun Schuldirektor in Waldram wurde, dauerte es eine Zeit, bis er begriff, dass es sich bei diesem Waldram um das frühere Föhrenwald handelte. Es habe einfach nichts gegeben, was an das jüdische Lager erinnert habe.
– Das hab ich erst später mitbekommen.
– Wieso haben wir das nicht erfahren an der Schule? Wir waren fünf Jahre an der Schule und haben nie irgendetwas davon erfahren.
– Da klopf ich selber manchmal an meine Brust, warum ich da nicht mehr erzählt habe.
– Und warum?
– Ich kam nicht auf die Idee.
– Auch im Geschichtsunterricht haben wir das nie erfahren...
– Selbstverständlich, so wie ich viel über Südtirol erzählt habe, hätte ich auch über Waldram reden können. Mit einzelnen habe ich schon drüber gesprochen, aber ich kam nie auf die Idee, die ganze Geschichte zu erklären.
– War das so der Zeitgeist, man redet nicht über die alten Geschichten?
– Nein, nein. Damit hängt das überhaupt nicht zusammen. Im Gegenteil, ich habe sehr viel gsprochen über die Verbrechen des Dritten Reiches und so weiter.
Auf der Rückfahrt von Regensburg nach Wolfratshausen bin ich noch ratloser als vorher. Dass selbst ein fast schon besessener Geschichtslehrer wie Dr. Braun einfach nicht auf die Idee kam, uns die Geschichte von Föhrenwald zu erzählen: Was hat diesen Mann davon abgehalten?

Paramilitärische Übungen im Hochlandlager

"Wir sind noch am Anfang unserer Recherche, weil unsere Eltern sehr lang geschwiegen haben", sagt Brigitte Bukszpan. "Mein Papa, vor fünf Jahren hat er angefangen, mit 90, zu erzählen. Nicht uns, sondern einfach Menschen, die er getroffen hat." Max Bukszpan ergänzt: "Mit seiner Brieftasche, wo sein israelischer Pass drin war, ist er tatsächlich nach München in die Innenstadt gefahren und wenn er Menschen, ja die hat er richtig angesprochen, und hat ihnen die Geschichte von sich erzählt. Bis wir das rausgefunden hatten, hat er schon wieder aufgehört damit. Und seitdem macht er nichts mehr."
Brigitte und Maximilian Bukszpan versuchen seit vielen Jahren, ihren Vater zu verstehen. Wie alle Juden, die im Nachkriegsdeutschland geboren sind, wollen sie mehr über ihre Eltern herausfinden – auch um ihr eigenes Leben zu begreifen. Ihr Vater, Chaim Bukszpan, hat sechs Konzentrationslager überlebt, erzählen sie, aber 1947 war er schon wieder stark genug, dass man ihn nicht nach Föhrenwald geschickt hat, wo vor allem Familien hinkamen, sondern gleich zehn Kilometer weiter südlich ins Hochlandlager – zur Vorbereitung auf den Kampf um Palästina.
Das Hochlandlager liegt etwas versteckt in einer großen Waldlichtung direkt an der Isar. Als Jugendlicher hab ich da mit Freunden gezeltet. Die alten Baracken, die verstreut auf dem weiten Gelände herumstehen, gehören heute zu einer Jugendbildungsstätte. Brigitte Bukszpan erzählt, dass sie dort vor Jahren mit ihrem Sohn einen Familenbildungskurs gemacht hat, ohne zu wissen, dass ihr Vater auch schon mal da war. Das hat er erst sehr viel später erzählt:
"Im Nachhinein hab ich's gar nicht glauben können, dass mein Vater dort 48 paramilitärische Übungen gemacht hat und ich hab dort Übungen gemacht, wie geht man an seine Grenzen."
Schwarzweißaufnahme, vermutlich von 1948, von israelischen Untergrundkämpfern an der syrishen Grenze.
Truppen der israelischen Untergrundarmee in der Nähe der syrischen Grenze, vermutlich 1948. Viele spätere Angehörige der israelischen Armee hatten ihr Training in einem DP-Camp erhalten.© imago stock&people
Im oberbayerischen Hochlandlager bei Königsdorf lernten ab 1946 junge jüdische Männer und Frauen Ackerbau und Viehzucht, als Vorbereitung auf die Ausreise nach Palästina. Das war die offizielle Version, die auch von der US-Verwaltung genehmigt worden war. In Wirklichkeit fanden dort paramilitärische Übungen statt. Bereits Anfang 1946 hatte die jüdische Untergrundorganisation Haganah militärische Ausbilder nach Königsdorf geschickt. Jim Tobias vom Nürnberger Institut für NS-Forschung hat das sehr detailliert erforscht:
"Diese Leute der Hagana kamen aus Israel bzw. Palästina. Der Staat Israel bestand zu dieser Zeit ja noch nicht. Palästina war britisches Mandatsgebiet, doch es gab schon immer auch in Palästina eine Miliz. Das war eben diese Haganah. Diese Leute, die militärisch vorgebildet waren, sind nach Deutschland eingereist, natürlich illegal, teilweise unter falschen Identitäten, um dort im Hochland oder auch in anderen Lagern junge Juden, Überlebende der Shoah, militärisch auszubilden."

Von Deutschland nach Israel und wieder zurück

Rund ein Drittel der späteren israelischen Armee hat ein erstes militärisches Training in den DP-Lagern in Deutschland bekommen. Im Hochlandlager wurden vor allem künftige Offiziere ausgebildet. Mit sehr begrenzten Mitteln. NS-Forscher Jim Tobias:
"Schießübungen konnten faktisch gar nicht stattfinden, weil das natürlich ein illegales Programm war. Die Alliierten haben das nicht gerne gesehen, obwohl sie darüber Bescheid wussten. Das heißt, es gab in Königsdorf ab und zu mal Ausbildung an der Waffe, unten im Keller, in den Baracken, wo man's nicht hörte."
Die militärische Ausbildung dauerte nur einige Monate. Chaim Bukszpan reiste schon Ende 1947, Anfang 1948 über Marseille nach Palästina, kämpfte in der entstehenden israelischen Armee, und als David Ben Gurion am 14. Mai 1948 den Staat Israel ausrief, wurde der im Hochlandlager trainierte Bukszpan einer der ersten israelischen Staatsbürger.
"Nummer 257 oder sowas steht da. Mein Vater war einer der allerersten, die überhaupt einen israelischen Pass bekamen. Aber es stand ein großer Stempel drin: Er darf in die ganze Welt hinaus, nur nicht zurück nach Deutschland. Steht also ganz dick im Pass drin."
Doch ausgerechnet da wollte Chaim Bukszpan bald wieder hin. Nicht, weil er besondere Sehnsucht nach den Deutschen gehabt hätte. Er wollte einfach weg: Das Klima in Israel, die Wüste und die Nachbarländer, die einem den Tod wünschten.
"Als Überlebender der Konzentrationslager kam er gleich in den ersten Krieg und musste dort schon wieder dienen. Also er kam von einem Schlamassel in das nächste Schlamassel. Und er fühlte sich nicht richtig wohl, obwohl er jüdisch war. Und so kam er illegal zurück nach Deutschland. Und dann ist er an der deutschen Grenze natürlich geschnappt worden. Und ins Gefängnis geworfen worden."
Illegal, weil er keinen für Deutschland gültigen Pass hatte. Die Vorgabe der israelischen Regierung, dass kein Jude jemals wieder Deutschland betreten sollte, diese Vorgabe kam den westdeutschen Behörden ganz recht. In den Verwaltungsstuben saßen noch genügend Beamte, die sich ein Deutschland ohne Juden wünschten. Aber sie konnten sich nicht mehr durchsetzen. Ein Rechtsanwalt holte Chaim Bukszpan aus dem Gefängnis und brachte ihn nach Föhrenwald.

Kein DP-Camp bestand so lange wie Föhrenwald

1953 war das, die meisten DP-Lager waren bereits aufgelöst. Föhrenwald war das letzte und wurde nun auch noch zum Auffangbecken für einige Hundert Juden, die enttäuscht aus Israel zurückgekehrten. Die meisten von ihnen galten den deutschen Behörden als Illegale, wie Chaim Bukszpan.
Die Beamten ließen nicht locker. Selbst als Bukszpan in Föhrenwald eine deutsche Jüdin mit deutschen Papieren heiratete, selbst dann wollten sie ihn noch loswerden.
"Wie sie geheiratet haben, 1953, da hat meine Mutter die Hölle mit ihm erlebt. Also mein Vater sollte von der Polizei abgeholt werden und rausgeschmissen, obwohl sie verheiratet waren, und der Sohn, mein Bruder, war ja unterwegs. Sie hätten die Familie getrennt, die hatten radikale Maßnahmen, ohne Wenn und Aber und ohne Ausnahme."
Wieder gelang es nur mit einem Rechtsanwalt, die Ausweisung zu verhindern. Chaim Bukszpan durfte in Deutschland bleiben. Doch der Stempel der Heimatlosigkeit blieb an der Familie haften. Die deutschen Behörden haben ihn gleich noch dem Sohn aufgedrückt. Maximilian Bukspan ist zwar in Deutschland geboren, aber weil sein Vater von den Nazis aus Polen verschleppt worden war, wurde auch er als heimatloser Pole eingestuft:
Also Pass, Kinderpass, da stand Staatsangehörigkeit Polnisch drin.
"Ich hatte gedacht: staatenlos?", fragt Brigitte Bukszpan. "Ich war mal staatenlos, aber ich war auch Polnisch, ich musste ja am Anfang immer eine Aufenthaltsgenehmigung haben", erklärt ihr Bruder Max. "Wenn ich nach Österreich wollte, hätte ich ein Visum gebraucht. Und als ich 18 war, da haben sie mir die deutsche Staatsangehörigkeit gegeben. Und eine Woche später war die Einberufung da, Militär."

Die bayerische Staatsregierung wollte die Juden loswerden

Anfang der 1950er-Jahre begann sich das DP-Lager Föhrenwald langsam zu leeren. Die USA hatten die Einreisebestimmungen gelockert und auch im jungen Staat Israel stabilisierte sich die Lage. Viele, die gezögert hatten, packten jetzt die Koffer. Übrig blieben die, die nicht ausreisen konnten, weil einer in der Familie krank war oder weil das Geld fehlte.
Ab 1952 war auch nicht mehr die Flüchtlingshilfe der UN für Föhrenwald verantwortlich, sondern die bayerische Landesregierung. Und die wollte die Juden so schnell wie möglich loswerden. Immer öfter kam nun die Polizei ins Lager, meist ging es um den Verdacht des Schwarzhandels, manchmal auch um bloße Machtdemonstration, erinnert sich Anton Weinberger:
"Da gab es immer wieder Razzien und auch Patrouillen, sage ich mal, die sind dann einfach mal durchs Lager gegangen, nicht um irgendwem irgendwas anzuhängen, sondern einfach zu zeigen: Wir sind da, und wir beobachten euch. Die deutsche Polizei wurde da nicht als Schutzmacht betrachtet, um es mal so zu sagen."
1955 wurde die gesamte Siedlung Föhrenwald an die katholische Kirche verkauft. Das eigens dafür gegründete Diözesansiedlungswerk machte sich daran, die frei werdenden Häuser zu renovieren, um sie günstig an Heimatvertriebene zu verkaufen. Bedingung: Die Käufer mussten katholisch sein.
Juden kamen nicht in Frage, sie mussten gehen. Der Druck auf die jüdischen Familien nahm deutlich zu, erinnert sich Abraham Ben. Seine Familie saß wegen des Tbc-kranken Vaters in Föhrenwald fest. Als sich irgendwann Norwegen bereit erklärte, eine Handvoll Familien trotz Krankheit aufzunehmen, wurden die bayerischen Behörden rabiat:
"Wir sollten nach Norwegen. Da hat meine Mutter gesagt, sie fährt nicht nach Norwegen, da gibt´s keine Juden, die Kinder werden größer und sollen mal heiraten, sie fährt nicht. Da haben sie gedroht, uns obdachlos zu machen. Macht nix, macht mich obdachlos. Aber nach Norwegen fahr ich nicht."

Die Kirche war der neue Herr im Haus

Die Familie Ben blieb und wurde auch nicht obdachlos. Aber die Schikanen nahmen zu. Als die ersten neuen Siedler ankamen, wurden die Juden in eine Ecke des Lagers zurückgedrängt. Manche Familien mussten innerhalb eines Jahres dreimal umziehen, um Platz zu machen. Auch die Kirche zeigte, wer der neue Herr im Haus ist:
"Das ging dann einher mit der brutalen Übernahme der ehemaligen Hauptsynagoge in Föhrenwald, die binnen einer Nacht von einer Synagoge in eine katholische Kirche verwandelt wurde", erinnert sich Anton Weinberger. "Das heißt, die Ritual-Gegenstände der Synagoge wie die Thorarollen oder auch das ewige Licht waren verschwunden oder zerstört. Ob dieses Umstandes ist der Synagogendiener, auf Jiddisch Schames, wahnsinnig geworden, im Wortsinne. Er war ein physisches Wrack, hat nur noch gezittert, konnte nicht mehr sprechen und hat dieses Trauma auch nie überwunden."
Im Februar 1957 wurden die letzten Juden aus Föhrenwald auf Sozialwohnungen in München, Frankfurt, Düsseldorf verteilt. Manche wurden mit Gewalt aus ihren Häusern geholt:
"Ja, rausgetragen", sagt Weinberger. "Körperlich auf den Wagen gesetzt, Koffer oder Habseligkeiten, die sie hatten, daneben gestellt. Das waren nicht viele, aber es waren etliche Leute."
Die leer gewordenen Häuser wurden renoviert, der Stacheldrahtzaun entfernt, die neuen Besitzer legten hübsche Vorgärten an. Ende September wurde die Kirche eingeweiht, der erste Direktor des Spätberufenenseminars schrieb dazu im Isar-Loisachboten:
"Das ist letztlich der tiefste Sinn des Weges von Föhrenwald nach Waldram: Von der Munitionsfabrik des heidnischen Hasses über die Heimatlosigkeit des jüdischen Lagers zur Geborgenheit der Kinder Gottes im Bannkreis einer geweihten Kirche."
Vier Wochen später wurde Föhrenwald offiziell von der Landkarte gestrichen.

Mitwirkende:
Es sprachen Cornelia Schönwald und der Autor
Ton: Hermann Leppich
Regie: Clarisse Cossais
Redaktion: Winfried Sträter

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