Was die Ukraine von Deutschland lernen kann

Wie lässt sich in der Ukraine Frieden schaffen? Mit Sanktionen gegen Russland jedenfalls nicht, meint Peter-Alexis Albrecht. Der Jurist empfiehlt eine Föderalisierung des Landes. Helfen könne dabei ein Blick in die deutsche Geschichte.
Eine militärische Lösung des Ukrainekonflikts wird von den westlichen Staaten ausgeschlossen. Damit beginnt jedes politische Statement der Jetztzeit. Wie tröstlich. Aber das ist ein Versprechen aus Ohnmacht. Besser wäre es, wenn die Europäer, vorneweg die Deutschen, eine politische Lösung praktisch anfassten. Das hieße zunächst, sich einzugestehen, dass die Probleme, unter denen die Sowjetunion zusammenbrach, längst nicht überwunden sind.
Ökonomische und ethnische Verwerfungen ließen sich eben nicht allein aus der Korrektur von Landkarten lösen. Es war nur eine Frage der Zeit, dass sie sich in gewaltsamen Konflikten niederschlagen. Mehr noch: Heute müssen wir erfahren, dass all diese ungelösten Probleme von gestern den alten Gegensatz zwischen Ost-West neu entzünden. Wirtschaftliche Sanktionen stehen dabei einer Lösung völlig im Wege.
Die EU hatte versucht zu helfen und den Nachbarn Russlands, also den Rändern des ehemaligen sowjetischen Vielvölkerreiches, eine Annäherung an den Westen angeboten. Sieht man von den baltischen Staaten ab, war jedoch eine Einbindung in die EU oder gar in die Nato ausgeschlossen.
Europa steckt in der Sackgasse
Anders als vielleicht die Polen, hatte niemand im Westen je ein konkretes Interesse beispielsweise an dem maroden Riesengebiet Ukraine. Sie muss - wenn überhaupt - allein und aus eigener Kraft bestehen. Es wäre ehrlicher gewesen, dies den Ukrainern von Anfang an deutlich gemacht zu haben. Russland jedenfalls nutzte die Agonie und Zerrissenheit des Landes weidlich aus, um seinen Einfluss in der russisch-sprachigen und russisch-fühlenden Bevölkerung geltend zu machen.
Nun ist Europa in der Sackgasse angekommen, ist gefangen im Kriegslamentieren und Angstschüren. Helfen würde jetzt konkrete Aufbauhilfe und dafür könnte gerade Deutschland seine Erfahrungen einbringen: zum einen mit den Zwei-plus-vier-Verträgen und zum anderen mit seiner föderalen Staatsstruktur.
Damals, 1990 nach dem Fall der Mauer, legten die drei Westalliierten und Russland gemeinsam mit den beiden deutschen Staaten den Status eines wiedervereinigten Deutschlands vertraglich fest, also Souveränität, Truppenstärke, Bündniszugehörigkeit. Sie schufen damit die Grundlage für eine west-östliche Sicherheitspartnerschaft. Und dieses Friedenskonzept könnte und sollte nun auch auf die Ukraine angewandt werden.
So wie die außenpolitischen sind auch die innenpolitischen Interessen zu berücksichtigen. Der Ukraine würde Einheit und Unabhängigkeit zugesichert, während sie im Gegenzug die Pflicht hätte, sich qua Verfassung bundesstaatlich zu organisieren und einen demokratischen, föderalen Rechtsrahmen für das Zusammenleben ihrer Landesteile zu schaffen. Das Erzübel Korruption zum Beispiel ließe sich durch strikte Rechtstaatlichkeit in den Griff bekommen. Das setzte aber eine unabhängige Justiz voraus, die es erst zu schaffen gilt.
Die Bruchlinien des Zerfalls schließen
Weder Russland noch die EU wollen sich die enormen wirtschaftlichen und infrastrukturellen Lasten einer postsozialistischen, verarmten und von Oligarchen geprägten Ungerechtigkeitsordnung aufsacken. Eine Föderalisierung dagegen würde die Bruchlinien des Zerfalls in eine westliche und östliche Ukraine eher lindern und konstruktiv schließen, als verstärken und verfestigen.
Sie würde allseits die Angst nehmen. Sie würde Russlands Bedenken zerstreuen, Nato oder EU lauerten auf Übernahmen im Osten, und sie würde die Ukraine durch bundesstaatliche Herrschaftsteilung davor bewahren, weiter zu zerfallen oder durch Dritte geschluckt zu werden
Gerade der deutsche Föderalismus ist ein Prototyp, vor dem sich niemand fürchten muss. Die Bundesrepublik ist zwar ökonomisch stark geworden, aber militärisch da, wo sie hingehört: Krieg können sich die Deutschen – und auch andere Völker - nicht mehr leisten. Diese Einsicht muss die Politik des Westens leiten. Sonst ist es das Aus für alle.
Peter-Alexis Albrecht, geboren 1946, ist Jurist, Sozialwissenschaftler und Professor (em) für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsgebiete sind das Strafrecht in seinen Bezügen zur Kriminologie, zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie sowie die Erforschung der Wirkungsweisen des Kriminaljustizsystems. Veröffentlichungen u.a.: "Die vergessene Freiheit" (3. Auflage, 2011) und "Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft – Auf der Suche nach staatskritischen Absolutheitsregeln" (2010). Mit dem Beginn der Unruhen in der Ukraine im November 2013 gab er zusammen mit Professoren aus drei ukrainischen Universitäten den dreisprachigen Band "Der eigene Weg der Ukraine" (BWV, 2013) heraus.

Peter-Alexis Albrecht© Gisèle Zandel