Föderalismus

Lob des Flickenteppichs

04:24 Minuten
Karte der deutschen Bundesländer in verschiedenen Farben.
Dass die Länder in der Krise miteinander ringen müssen, ist ein Pluspunkt gegenüber jeder nationalen Zentralgewalt, so Tillmann Bendikowski. © Imago / Panthermedia / Crevis
Ein Einwurf von Tillmann Bendikowski · 05.05.2020
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Weil in der Coronakrise nicht alle Bundesländer gleiche Vorschriften haben, wird mal wieder der deutsche Flickenteppich kritisiert: Zu Unrecht, sagt der Historiker Tillmann Bendikowski. Er hält föderalen Wettbewerb für ein gutes Politikmodell.
Lange war es still geworden um den sogenannten "Flickenteppich". Fast konnte man meinen können, die Deutschen hätten ihn womöglich vergessen. Dabei war er einst der übliche Verdächtige, wenn es um das vermeintliche Scheitern der deutschen Nation ging.
Deutschlands Zerrissenheit im Inneren, und Deutschlands Schwäche gegenüber den anderen Nationen? Das, so hieß es stets, lag nur an diesem "Flickenteppich". Der Begriff wurde und blieb ein politischer Kampfbegriff des Nationalen gegen alles Föderale. Und in diesen Coronazeiten ist er wieder salonfähig.
"Deutschland gleicht einem Flickenteppich!", empören sich manche, weil hüben ein paar Viertklässler einige Tage eher zur Schule gehen, drüben aber schon beim Einkauf allgemeine Maskenpflicht herrscht.
Doch dabei geht es um mehr als konkrete Hygienevorschriften – hinter dieser Aufgeregtheit verbergen sich wohlbekannte nationale Ressentiments gegen Vielfalt und Uneindeutigkeit.

Beschwörung von Einigkeit gehört zur Krisenrhetorik

Selbstverständlich: Die Beschwörung von Einigkeit gehört zur jeder Krisenrhetorik. Aber bei den Deutschen darf man hier getrost etwas dünnhäutig sein – und je lauter die Rufe nach nationaler Einheit, desto größer die Skepsis.
In den kommenden Monaten jährt sich der Krieg gegen Frankreich und die Gründung des Deutschen Kaiserreichs von 1870/71. Und die Erinnerung daran wäre in normalen Zeiten ein willkommener Anlass gewesen, nach 150 Jahren endlich die alte kollektive Erzählung abzulegen, wonach das Glück an der nationalen Einheit hängt.
Denn noch immer geistert die Reichsgründung als so etwas wie die "Geburt einer Nation" oder die Erfüllung einer kollektiven Sehnsucht durch das deutsche Gedächtnis. Dass es Deutschland als vielgestaltiges Gebilde schon vor 1871 gab, dass dieses Preußen-Deutschland-Kaiserreichgebilde damals nicht alternativlos war, und der innen- wie außenpolitische Preis dafür letztlich wohl zu hoch – das alles ist fast vergessen.

Föderalisten gelten als Nestbeschmutzer

Hartnäckig gehalten haben sich indes die Begriffe der nationalen Denunziation: "Föderalisten", "Separatisten" oder sogenannte "Teilungswütige" gelten hierzulande seit dem 19. Jahrhundert zuweilen als nationale Nestbeschmutzer.
Ein weiteres historisches Erbe ist die Wahnvorstellung, ein geeintes deutsches Volk sei, wie im Krieg von 1870/71 über Frankreich, automatisch unbesiegbar. Wie dröhnte doch Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1914: "Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war!"
Das war und blieb zwar historischer Unfug, aber diese Denkfigur vergiftete nachhaltig die Köpfe der Deutschen. Sie glaubten tatsächlich, vereint auch gegen eine ganze Welt von Feinden antreten zu können – zwei Weltkriege waren schließlich die blutige Quittung für diesen kollektiven Irrtum.

Konkurrenz führt zu Wettbewerb um richtige Politik

In Zeiten von Corona brauchen wir heute keine nationale Kraftmeierei und keine Rhetorik der Unbesiegbarkeit mehr, sondern zunächst einmal schlicht gute Politik und kollektive Vernunft.
Vieles spricht dafür, dass beides eben auch Ergebnis föderaler Konkurrenz und konkreter Verantwortung vor Ort, in den Städten und Regionen ist. Die Länder müssen miteinander ringen und sie müssen einander von den richtigen Schritten überzeugen. Auch wenn dieser Prozess nicht frei von Fehlern und Widersprüchen bleiben kann – er ist ein klarer Pluspunkt gegenüber jeder nationalen Zentralgewalt.
Unsere nationale Geschichtserzählung hat vergessen lassen, dass Deutschlands Vielfalt nicht nur Schwäche war, sondern stets auch seine Stärke. Der Föderalismus ist ein Gewinn an Erfahrung und Verantwortung – und damit, das ist in dieser Zeit besonders wichtig, auch Vorbild für Europa.
Denn der Kontinent sucht in und nach dieser Krise nach einem funktionierenden politischen Format. Zu diesem gehört auch das Ende des Nationalen, und das beginnt eben hier: auf dem "Flickenteppich".

Tillmann Bendikowski ist Historiker und Journalist. Er leitet die Medienagentur Geschichte in Hamburg und verfasst Beiträge für Printmedien und Hörfunk. Er betreut die wissenschaftliche Realisierung von Forschungsprojekten und historischen Ausstellungen und hat zahlreiche Bücher geschrieben. Soeben erschien sein neuer Titel: "1870/71: Der Mythos von der deutschen Einheit".

Der Historiker Tillmann Bendikowski sitzend auf dem blauen Sofa.
© dpa/picture alliance/Jens Kalaene
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