Flunkerei und Liebelei

Dies ist eine Geschichte über die Liebe. Sie nimmt einige überraschende Wendungen. Gegen Ende überschlagen sich die Lösungen und Scheinlösungen nur so, da wird einem ganz anders. Das muss man sich als Autor erst einmal trauen. Und man muss es können. Andrew Nicoll behauptet, seinen ersten Roman im Zug auf dem täglichen Weg zur Arbeit geschrieben zu haben. Ob man ihm das glauben kann, steht dahin. Aber was soll man nach der Lektüre dieses Buchs überhaupt noch glauben?
Ort der Handlung ist die Stadt Dot am Ufer des Ampersand irgendwo im Baltikum. Genau weiß man es nicht. Als Katharina die Große die Gegend vermessen ließ, sank das Schiff mit allen Unterlagen. So sind die Stadt und ihre Bewohner irgendwie aus der Welt und damit auch aus der Zeit gefallen.

Tibo Krovic, Bürgermeister von Dot, genannt "der Gute" und Held dieses Romans, liebt seine Sekretärin Agathe Stopak. Allerdings dauert es erstaunlich lange, bis er selbst das erkennt. Da ist es zu spät. Oder doch nicht? Agathe wiederum wird von ihrem Mann nicht mehr begehrt und gibt sich, als der Bürgermeister zögert, dem wüsten Hektor hin. Man ahnt Schlimmes. Aber das, was dann noch kommt, das ahnt man nicht.

Dieses Dot wirkt wie eine Bühne - Trambahn, Kathedrale, Rathausbrunnen, Gasthaus - , auf der das übersichtliche Personal zunächst ganz vorhersehbar agiert, bis die Liebe die große Lotterie in Gang setzt. Zum Theaterhaften passt der reduzierte, fast naiv anmutende Ton. Dabei geht es um Leben und Tod, vielleicht auch um Zauberei, und immer wieder um die Liebe in all ihren Spielarten. Und wo Liebe ist, da ist auch Schuld nicht weit. Das Verdrängte bricht hervor. Nicht nur die Bewohner von Dot haben Geheimnisse, auch die Stadt selbst hat Leichen im Keller, Opfer eines Pogroms, die durch die Erzählung spuken. Wie das alles überrascht, sich wendet und ineinandergreift, das ist erstaunlich, berührend und manchmal atemberaubend.

"Ich habe gelernt, dass es auf der Welt nicht so viel Liebe gibt, dass wir sie verschwenden dürfen. Nicht einen einzigen Tropfen", sagt der gute Bürgermeister Tibo Krovic, und man ist versucht, diesen Satz für die Moral von der Geschichte zu halten. Das Ich, das diese Geschichte erzählt, ist übrigens eine bärtige Nonne, die seit Jahrhunderten vom Stadtwappen herab über der Szene wacht.

Diese zwischengeschaltete Erzählinstanz erlaubt ironische Brüche. Aber das nützt nichts, weil die Liebe sich der Zähmung widersetzt, auch der Zähmung durch Ironie. "Ich sehe schreckliche Dinge und kann nichts tun", stellt die Nonne mit dem Bart, Inkarnation der Erzählerin schlechthin, fest. "Ich kann zusehen oder wegsehen, was auf dasselbe hinausläuft. Mich tröstet allein, dass nichts für die Ewigkeit ist und in Dot nichts so, wie es scheint. Nichts." Nicht einmal der Bart ist echt. Aber die Liebe des Bürgermeisters. Hoffentlich.

Andrew Nicoll ist auf Anhieb ein ungewöhnliches und unverwechselbares Buch geglückt. Die Rechte daran sind sogleich in neunzehn Länder verkauft worden. Es heißt, er arbeite an einem zweiten Roman. Das ist eine gute Nachricht. Wenn sie stimmt.

Besprochen von Hans von Trotha

Andrew Nicoll: Die Liebeslotterie
Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné
Rowohlt Berlin, Berlin 2010
464 Seiten, 19,95 Euro