Flugzeugabsturz über Remscheid 1988

Was war an Bord des abgestürzten US-Kampffliegers?

Blick auf die Unglücksstelle. Am 8. Dezember 1988 stürzt ein US-Kampfbomber vom Typ A 10 Thunderboldt II auf ein Wohnviertel von Remscheid. Sechs Menschen sterben, über 50 werden verletzt. Auch der amerikanische Pilot kommt ums Leben. | Verwendung weltweit
Tieffliegerübung mit tödlichem Ausgang: Vor 30 Jahren stürzte ein US-Kampfbomber über einem Wohnviertel von Remscheid ab. © dpa
Von Dieter Jandt · 05.12.2018
Vor 30 Jahren stürzte ein US-Kampfflieger über Remscheid ab: 7 Tote, 50 Verletzte - und Anwohner, die später an ungewöhnlichen Krankheiten leiden. Hatte das Flugzeug Uran an Bord? Der Staatsanwalt von damals widerspricht. Aber auch er ist erkrankt.
"Ich stand am Fenster hier oben in dem Fachwerkhaus, oben an dem rechten Fenster, und bin eben halt aufmerksam geworden durch lautes Grollen, was da ankam", erinnert sich Veronika Wolf. "Das war wie eine, ja, wie ein schweres Beben in einer unglaublichen Lautstärke, und dann, es war ja sehr nebelig, aber man konnte eben halt diesen Schatten sehen, der auf uns zukam mit diesem enormen Geräusch."
Veronika Wolf steht vor dem Haus, das sie vor 30 Jahren mit ihrer Familie bewohnte, unweit der Stadtmitte von Remscheid. Eine schmale Straße, ruhig, fast idyllisch. Das Gelände wird von den Menschen, die dort wohnen, Himmel genannt. Auf dem Haus nebenan wechselt ein Dachdecker ein paar Ziegel aus. Veronika Wolf kennt ihn noch von früher.
"Und dann war eigentlich klar für mich, das ist ein Flugzeug, er hat ja dann noch mal abgedreht, er ist praktisch hier vor dem Haus hier rumgedreht, ist dann hier rum, Richtung Schule geflogen, hat dann wieder gedreht, also er hat praktisch zwei Mal ne Kurve gedreht und ist dann in die Stockder Straße hier oben reingedonnert. Und dann hat's geknallt und dann hatte ich ja, wie gesagt, ging diese Welle durch unser Haus, überall sind die Scheiben kaputt gegangen. Und es war ganz still anschließend, also diese unglaubliche Stille nach diesem Beben..."
Rettungsdienste in einer mit Trümmern übersäten Straße vor abgebrannten Häusern in Remscheid.
Rettungskräfte räumen Trümmer vor abgebrannten Häusern in Remscheid weg. © picture-alliance / dpa / Achim Scheidemann
Veronika Wolf ist Ende sechzig. Sie hat halblange, braune Haare mit einigen grauen Strähnen und trägt eine breitrandige dunkle Brille. Sie kann sich noch genau erinnern, wie sie sofort nach dem Absturz ihre vier kleinen Söhne nahm und die Treppen herunter aus dem Haus stürmte:
"Als wir rausrannten, wurden wir ja beschossen, es war ja überall die Munition, die explodierte, Pakete fielen auf die Erde, Munition fiel auf die Erde. Als wir hier rauskamen, lag hier alles voller Trümmerteile. Die Bäume hier, die haben alle gebrannt, hier das auch, das ganze Wäldchen hat gebrannt, und zwar in den Wipfeln, obwohl die Bäume ja kahl waren, es war ja Dezember, und es war nass, die haben trotzdem gebrannt. Und das hat mich total überrascht, wieso können Bäume im Winter so brennen auf einmal?"
Und wieso stand plötzlich ein Mann vor dem Haus?
"Hier stand der Mann mit dem weißen Mercedes und telefonierte mit dem Telefon mit ner Schnur dran, und als er dann auflegte, er drückte nen Knopf und guckte mich dann an, und sagte: 'Gehen Sie ins Haus, nehmen Sie Ihre Kinder, gehen Sie ins Haus, machen Sie Türen und Fenster zu, kommen Sie eine Woche lang nicht mehr raus! Es ist ein amerikanischer Kampfbomber abgestürzt mit chemischen Waffen an Bord."

"Brennende Häuser, brennende Autos, Schutt überall"

"Ich hab den Anruf gekriegt, ich glaube, es war gegen 13 Uhr, und hab mich sofort ins Auto gesetzt, und war also ne halbe Stunde später am Unfallort", sagt Jörg Bachmann, der damals als Staatsanwalt die Ermittlungen aufnahm. Sein großes Wohnzimmerfenster gibt einen weiten Blick über Wälder in Richtung Südwesten frei. Etwa von dort kam damals, am 8. Dezember 1988, die Maschine:
"Das war ein totales Durcheinander, die Leute rannten kopflos von rechts nach links, keiner wusste, wo er zuerst anfangen sollte, weil es ein dermaßen großes Chaos war. Brennende Häuser, brennende Autos, der Schutt überall, dann die galvanischen Betriebe, die ja auch in Brand gegangen waren, wo die Luft also dampfte und qualmte – also es war schon beeindruckend."
Zwei Wohnhäuser waren total zerstört, ebenso eine kleine Fabrik nebenan. Sieben Tote, Dutzende von Verletzten.
Ein ausgebranntes Fahrzeug in einer mit Trümmern übersäten Straße vor brennenden Häusern in Remscheid.
Ein ausgebranntes Fahrzeug in einer mit Trümmern übersäten Straße vor brennenden Häusern in Remscheid.© picture-alliance / dpa
Viele Menschen hatten in der Innenstadt den dumpfen Knall gehört und sahen lange Zeit Wolken mit dunklen Rußpartikeln in Richtung Stadtpark ziehen. Martinshörner ertönten unablässig.
"Ich war auf einer Werbeaktion im Kaufhof, da ich ja Malerin bin, hab ich da so bestimmte Dinge vorgestellt, und dann hörten wir, dass ein Flugzeug abgestürzt war", sagt Christa Schwandrau. "Und das müsste in der Richtung sein, wo ich wohne, und da hab ich sofort die Sache abgebrochen und bin hier runter gekommen."
Christa Schwandrau wohnt heute noch in ihrem Elternhaus, circa 150 Meter unterhalb der Absturzstelle. Amerikanische Soldaten hatten das Gebiet bald weiträumig abgesperrt. Christa Schwandrau konnte sich als Anwohnerin ausweisen.
"Da war ein komischer Geruch in der Luft", erinnert sich Christa Schwandrau. "Ein komischer Geruch, ja, und ich kam hierhin, und bei uns auf dem Hof lag Munition. Und da mein Mann ja lange bei der Bundeswehr war, hatte er auch die Munition am nächsten Tag noch gesehen. Da lag sie ja noch, und da hat er auch bestätigt: Das ist Munition. Und er sagte: Es ist auch scharfe dabei gewesen. Es war oliv-farbene, manche waren silbern, die hatten nen blauen Streifen, und die waren unterschiedlich. So groß ungefähr. 20 Zentimeter, bisschen mehr, 25 Zentimeter so."
Ein idyllischer, kleiner Garten, in dem Christa Schwandrau im Sommer unter anderem japanischen Mohn zum Blühen bringt. Gilbweiderich-Sträucher begrenzen die Anlage:
"Hier lag allerlei rum, ja. Aber da hinten in dem Busch, da lag viel, da lagen auch noch die blauen Päckchen, im Busch lag auch noch sehr, sehr viel. Die meisten Sachen lagen direkt unmittelbar unter der Absturzstelle. Da wurden auch sogar Teile des Flugzeuge wurden da weggetragen. Wir haben Leute gesehen, die sich irgendwo rangeschlichen hatten, es kamen auch Journalisten durch, wir haben auch Journalisten im Busch getroffen, die nicht hätten da sein sollen. Die haben wir auch getroffen."

"Da war mir klar, das ist ziemlich gefährlich"

Einer der ersten Journalisten am Unfallort war Ulrich Rothaupt, Reporter des Westdeutschen Rundfunks: "Und da hab ich gesagt, ja, ich fahr da mal hin. Und hab mich dann in unseren Reportagewagen gesetzt und bin dann losgefahren", erinnert er sich.
"Und als ich dann versuchte, in die Stadt reinzufahren, da war dann schon alles abgesperrt, und dann bin ich wieder zurückgefahren, weil ich da so Schleichwege kannte, und bin von unten dann hochgefahren. Ich kam dann hoch, und hab in einen Garten geguckt und hab dann tatsächlich schon so'n qualmendes Teil gesehen. Bin ausgestiegen, hab mit den Leuten gesprochen, die standen vor einem qualmenden Wrackteil, bin dann weitergegangen durch den Garten und kam dann in die Stockder Straße, und da sah es dann richtig fürchterlich aus. Als ob da ne Bombe eingeschlagen hätte..."
Der Fallschirm mit dem toten Piloten hing in einem der Bäume.
"Ein Haus war komplett weg, an dem anderen Haus, da stand ein Gerüst, das war teilweise eingestürzt", so Ulrich Rothaupt. "Ich bin dann weitergelaufen und hab versucht, mir da einen Überblick zu verschaffen. Die Feuerwehr war schon da, es lagen überall Schläuche rum, das Löschwasser lief schon durch die Straße. Vor mir lag dann plötzlich ein toter Mensch, abgedeckt mit einer Plane. Später hab ich dann mitgekriegt, das war einer der Gerüstarbeiter, die von dem Gerüst gefallen sind. Und irgendwann stand ich dann auch vor dieser gewaltigen Bordkanone, die in der Maschine drin war, und da war mir dann schon klar, das ist hier ziemlich gefährlich."
Schnell sprach sich herum, dass dieser Absturz von besonderer Brisanz sein könnte.
Christa Schwandrau erinnert sich: "Schon nach ganz kurzer Zeit wurden da oben schon Buden aufgebaut, da oben auf dem Dominicus-Platz, das ist in der Richtung des Flugzeugs, und da kamen schon Leute angefahren, die verkauften da Wurst und Getränke, das ging in so einer Schnelligkeit, das konnte ich gar nicht glauben. Innerhalb von ein paar Stunden waren Leute da, die da Sachen verkauften, denn es war ein Riesentross schon an Kameraleuten, und an Fernsehleuten und dann Reportern schon eingetroffen."
"Die Frage nach der Munition, es hat ja geheißen, es sei noch scharfe Munition an Bord", berichtete der Reporter Ulrich Deppendorf damals für die Tagesschau live vom Absturzort.
Bildnummer: 56699455 Datum: 08.12.1988 Copyright: imago/teutopress Absturz eines amerikanischen Militärflugzeugs vom Typ Thunderbolt A10 im Stadtteil Hasten/Remscheid: Jörn Bachmann (Mitte, ermittelnder Oberstaatsanwalt) während einer Pressekonferenz Mann Anwalt Staatsanwalt Staatsanwaltschaft Ermittlungen sitzend Saal halb quer sprechend PK Pressekonferenz Menschen links Dr. Günther Krug Flasche Getränk Wasser Gesellschaft x2x xkg 1988 quer o0 People o0 Unglück, Flugzeugabsturz, Militär, Militärflugzeug 56699455 Date 08 12 1988 Copyright Imago teutopress Crash a American Military aircraft of Type Thunderbolt A10 in Part of the city scurry Remscheid Joern Bachmann centre Ermittelnder Upper prosecutor during a Press conference Man Lawyer Prosecutor Prosecutor Investigations seated Room half horizontal Spoken press conference Press conference People left Dr Günther Krug Bottle Drink Water Society x2x xkg 1988 horizontal o0 Celebrities o0 Misfortune Plane crash Military Military aircraft
Jörn Bachmann, ermittelnder Oberstaatsanwaltschaft, am 14.12.1988 während einer Pressekonferenz.© imago stock&people
Der damalige Staatsanwalt hingegen sagt: "Es hatte sich also sehr schnell rausgestellt, und ich glaube, es war schon halb drei oder drei Uhr, da wussten wir, dass in der Maschine keine brisante Ladung war, sondern dass lediglich Übungsmunition an Bord mitgeführt worden war."

War in der Maschine Uran-Munition?

Was machte den Staatsanwalt nur wenige Stunden später so sicher? Christa Schwandraus Mann erzählt, der Staatsanwalt sei im Zuge der Ermittlungen tagelang über Schutt und Asche gelaufen:
"Ich selbst arbeitete damals als Taxifahrer in Remscheid, und als ich gegen 17 Uhr den Dienst aufnahm, musste ich das Gebiet weiträumig umfahren. Gerüchte kursierten, auch in der Taxizentrale."
"War da in der Maschine Uran-Munition drin, war nur Übungsmunition drin, war scharfe Munition drin? Wir wussten das alle nicht", sagt Reporter Ulrich Rothaupt. "Da ist mir erst mal so klar geworden, was da auch für eine Gefahr war, in der ich mich befand, als ich da durch die Straße durchgestolpert bin. Und sofort hat die amerikanische Militärpolizei das Kommando übernommen, und ich hatte den Eindruck, die deutsche Polizei hatte da nicht mehr so viel zu sagen, die haben das praktisch da zur militärischen Sperrzone erklärt."
Der damalige Oberstadtdirektor Wilhelm Ellerbrake sagt: "Es kamen Verdachtsmomente auf, auf Uranbelastungen. Schon während, nein, gleich nach dem Absturz, also während der ganzen Räumungsarbeiten und Aufklärung der Dinge, dass die Maschine Uran geladen hätte. Dass in ihrer Umkleidung oder in gewissen Materialien, die in der Maschine verbaut worden seien, uranhaltige Stoffe seien."
Wilhelm Ellerbrake kramt in seinen Erinnerungen, auch wenn er das Thema eigentlich längst leid ist:
"Diese Bedenken kamen nicht nur von Frau Wolf. Nein, die kamen von auswärts. Wir haben ein Fernschreiben gekriegt von auswärts: 'Ja, die Maschine, die hat ne Uranverkleidung, und seien Sie vorsichtig.'"
Nähere Angaben zum Absender möchte Ellerbrake nicht machen.
"Nicht nur, weil das so aufkam, sondern weil es eigentlich zur Selbstverständlichkeit der Feuerwehr gehörte, vor allen Dingen nach Tschernobyl, sind Messungen vorgenommen worden, gleich mit den Geigerzählern der Feuerwehr, und wir sind nie über die normale Belastung hinausgekommen. Und nachher wurde von den Amerikanern gesagt: 'Nein, auf keinen Fall. Das sind Schwermetalle, die da reinkommen, aber nichts Uranhaltiges. Um Himmels Willen.'"

Von den Amerikanern kamen kaum Informationen

Die Bordkanone einer Thunderbolt A 10 ist darauf ausgelegt, hochexplosive, panzerbrechende Uranmunition abzufeuern. "Es gab natürlich überhaupt keine Informationen", sagt WDR-Reporter Ulrich Rothaupt. "Es wurde alles sofort geblockt, und zwar in einer Art und Weise, wie ich das auch irgendwie noch nie erlebt hatte. Dass es so eine komplette Informationssperre gab. Es gab abends eine Pressekonferenz im Remscheider Rathaus, an die ich mich auch noch erinnere. Wir saßen da rum, es waren Hunderte von Journalisten da, und dann tauchten tatsächlich irgendwann Amerikaner auf, aber es gab, wie gesagt, es gab keine Information."
Der Stadtrat reagierte verärgert über die Zugeknöpftheit der Amerikaner.
"Und am nächsten Tag sind wir denn da rübergegangen, mein Mann und ich, und da sahen wir, dass die Amerikaner, und teilweise auch Bundeswehrleute, aus den Häusern da hinten Rieseneimer von Munition wegtrugen", erinnert sich Christa Schwandrau.
"Die war in allen Farben da, also waren alle möglichen Munitionssorten da, das haben wir gesehen, und wir haben auch gesehen, leider, an dem Haus, das war zugedeckt, da ist ja der Kopf des Piloten an die eine Hauswand geknallt. Das hatte man aber abgedeckt, aber das konnte man noch sehen, und dann liefen Hunde rum, die fraßen auf der Erde irgendwas, es war also sehr komisch, und im Hintergrund war die Birke zu sehen, wo der Fallschirm noch drin hing."
Wrackteile des verunglückten Militärflugzeugs.
Wrackteile des verunglückten Militärflugzeugs. © picture-alliance / dpa / Franz-Peter Tschauner
Tagelang suchten die Amerikaner das Gelände ab. Soldaten mit Maschinenpistolen standen Wache, auch nachts, auch in den Gärten.
"Ich ging hier hoch, und da standen drei Soldaten. Ich kam auf die zu, und einer sagte in einem sehr guten Deutsch – sein Opa war in Bitburg stationiert –, sagte er zu mir: 'Es tut mir so leid, was hier passiert ist.' Ich sage: 'Es ist schrecklich, irgendwie haben wir sogar noch Glück gehabt.' Da sagt der: 'Glück? Ich bin entsetzt!' Und fragt: 'Spielen hier etwa noch Kinder?' 'Ja', sag ich. 'Natürlich spielen hier noch Kinder.' Sagt der: 'Dürfen nie mehr Kinder spielen.' – 'Wie? Das sagen Sie als Amerikaner?' – 'Das muss ich Ihnen als Amerikaner sagen.'
Im gleichen Moment kommt von hinten ein anderer Militär, und der Mann dreht sich um und weg war er. Und da war ich fassungslos. Und dann haben wir bei Frau Wolf auf der Wiese, die ganze Wiese von blauen Päckchen gesehen. Alles kleine, zigarettengroße blaue Päckchen in Plastik. Und da stand ein amerikanischer Soldat, der stand mit Maschinenpistole da, und ein anderer sammelte die auf. Und die Päckchen wurden nirgendwo erwähnt. Das hat keine Zeitung geschrieben, und es hat auch keine Zeitung geschrieben, dass die Amerikaner das zu mir gesagt haben, das wurde immer gestrichen."

Schlichte Brandfolgen - oder war doch Uran an Bord?

Christa Schwandraus Mann wurde von einem Fernsehreporter befragt. Er erzählte ihm von den ständigen Tiefflügen über der Stadt. Das sei ein Politikum, wimmelte der Reporter ihn ab. Die Passage wurde später aus dem Beitrag geschnitten.
In den Wochen darauf mehrten sich Krankheiten. Viele, die sich in der Nähe der Absturzstelle aufgehalten hatten, vor allem auch Feuerwehrleute, bekamen am ganzen Körper Hautausschläge.
Hatte der Staatsanwalt nicht versichert, dass das Flugzeug keine brisante Ladung an Bord trug? Ein Polizeibeamter, der damals ermittelte, sagte mir kurz vor dem Treffen mit dem Staatsanwalt, jetzt könne der Mann nach 27 Jahren ja endlich die Wahrheit sagen.
"Es gibt nur eine Wahrheit, das ist die, die ich Ihnen gerade erzählt hab", widerspricht der Staatsanwalt. "Alles andere ist Spekulation. Auch der Mythos, dass da kontaminierte Angelegenheiten in dem Flugzeug gewesen wären. Überhaupt nicht. Dass ein einziges Problem gewesen ist oder eine Ursache für Probleme gewesen sein kann, das ist, dass dort in den galvanischen Betrieben Materialien gebrannt haben, Plastik in ner Mischung mit anderen Dingen, die dann möglicherweise zu ner Kontamination geführt haben."
Wenn man Jahrzehnte später Licht in das Dunkel einer geheimnisumwitterten Katastrophe bringen will, hat man immer mit dem Problem zu kämpfen, dass Erinnerungen trügen können oder Beteiligte Schutzbehauptungen aufstellen, deren Bedeutung schwer einzuschätzen ist. Der Galvanik-Betrieb war tatsächlich durch den Absturz in Brand geraten und giftige Dämpfe waren ausgetreten. Für Veronika Wolf aber ist klar, dass die nicht die Ursache für die Erkrankungen sind:
"Der Chef von diesem Bundeswehrinstitut in München, Professor Viktor Meineke, hat auf einer Veranstaltung in Berlin gesagt, dass selbstverständlich uranhaltige Munition 1988 an Bord der Maschine gewesen ist und die Amerikaner auch heute damit über unseren Köpfen fliegen."
Manche Flugzeughersteller setzten bis in die 1980er-Jahre Uran als Trimmgewicht zur Stabilisierung der Tragflächen ein. Angeblich war das auch bei der Thunderbolt A 10 der Fall.

Angeblich war die Übungsmunition völlig ungiftig

Der Staatsanwalt selbst ist seit vielen Jahren schwer krank. Er leidet an der Madelungschen Krankheit, das ist ein wuchernder Hals. Er führt das auf die Brände in den Fabrikanlagen des galvanischen Betriebs zurück. Ein Feuerwehrmann ist da nicht so sicher. Er erklärt öffentlich, dass er endlich die wahren Gründe für seine Krebserkrankung erfahren wolle. Lag es doch an uranhaltigen Stoffen in der Maschine? An der Übungsmunition, die angeblich keine Gefahr darstellte?
"Es ist alles richtig. Es ist immer alles richtig. Und das haben wir ja gelernt in der Geschichte!" redet sich Veronika Wolf in Rage, weil sie seit Jahren gegen dieselben Argumente angehen muss. "Übungsmunition ist richtige Munition ohne einen Sprengkörper hinten dran. So, ne? Übungsmunition ist eben halt nicht scharf gemachte, normale Munition. Und somit sind die Stoffe, die in der Munition drin sind bei nem Crash eben halt vorhanden. Und wenn die mit explodieren, gehen die Stoffe mit in die Luft. Der Pilot während des Fluges, wenn er mal tatsächlich gegen die Russen kämpfen muss, legt der einen Hebel um und dann wird das von Übungsmunition auf scharfe Munition gestellt. Und das ist die ganze Geschichte."
Rettungsdienste in einer mit Trümmern übersäten Straße vor abgebrannten Häusern in Remscheid.
Rettungskräfte inspizieren die Trümmer nach dem Flugzeugabsturz.© dpa
Veronika Wolf saß damals im Umweltausschuss der Stadt Remscheid. In Anbetracht dessen war sie dort genau an der richtigen Stelle. Bald gründete sie eine Bürgerinitiative. Viele Menschen begrüßten das. Endlich konnte man Druck auf die Verantwortlichen der Stadt machen, Blut- und Bodenproben entnehmen zu lassen. Das waren lang andauernde Prozesse, während derer Veronika Wolf nicht nachließ.
"Für die meisten in der Politik war sie ne Nervensäge", erinnert sich Reinhard Ulbrich, der ein Jahr nach dem Absturz Oberbürgermeister wurde. "Wie das so in der Politik generell üblich ist, wenn Leute sehr penetrant sind und auf ihrer Meinung beharren, und selbst wenn sie die dann unterlegen können, hat man da irgendwann die Nase voll, so war das dann auch hier, dass diese Dinge einfach nicht ernst genommen wurden."
Reinhard Ulbrich ist Mitglied in der SPD, Oberstadtdirektor Wilhelm Ellerbrake ist parteilos:
"Das hat zu längerfristigen Untersuchungen in Remscheid geführt, die sehr viel Geld gekostet haben, das sind Millionenbeträge gewesen, die dafür ausgegeben sind, und die alle endeten mit dem Satz: Auf den Flugzeugabsturz ist das nicht zurückzuführen."

Woher stammen die Bodenbelastungen?

Die Bürgerinitiative bemängelte die Untersuchungen, sie gab selbst Messungen in Auftrag. Und tatsächlich fanden sich Belastungen im Erdreich: Dioxine, Schwermetalle, PCB. Veronika Wolf forderte, die Böden im Gebiet der Absturzstelle und im nahe gelegenen Stadtpark abzutragen.
Oberstadtdirektor Wilhelm Ellerbrake sagt: "Richtig ist, dass es in Remscheid eine ganze Reihe von Bodenbelastungen gibt, die in irgendeiner Form auf die früheren industriellen Tätigkeiten in Remscheid zurückzuführen sind. Zumeist waren das ja Kleinbetriebe, und wenn dort Werkzeug gemacht wurde, entstand Schleifschlamm, dieser Schleifschlamm ist seit dem 19. Jahrhundert von den damals ja noch recht kleinen Firmen auf eigenem Grundstück verwertet worden. In Kleingärten finden wir es heute noch, auf Hofflächen der kleineren Betriebe finden wir es heute noch."
"Das ist eben halt so'n dummes Zeug", widerspricht Veronika Wolf. "Weil, wie ich erklärt habe, lag die Belastung in den ersten Zentimetern des Oberbodens in den Gärten. Wenn der Klärschlamm vor hundert Jahren aufgetragen worden wäre, dann liegt der jetzt nicht mehr im ersten Zentimeter, sondern dann liegt der einen Meter tief. Dann kann man den da finden. Also, das ist eine ganz natürliche Wirkweise von Boden. Alles, was da oben drauf liegt, sickert ein, mit dem Regen, mit dem Wind und und und... Es bleibt nicht hundert Jahre alles an der Oberfläche."

Unbeantwortete Fragen nähren Mythenbildung

Vieles aber bleibt unter der Oberfläche: Warum war die Maschine des Captain Michael P. Foster überhaupt abgestürzt? Und was war mit der zweiten Thunderbolt? Übungen werden meist zu zweit geflogen, man nennt das eine Rotte.
"Captain Foster war zur Zeit des Unfalls ein qualifizierter A-10-Luftfahrzeugführer", heißt es im Untersuchungsbericht der Royal Air Force. "Lieutenant Colonel Prejean hatte bemerkt, dass Captain Foster eine sehr starke Persönlichkeit ohne Probleme sei. In Wirklichkeit hatte Captain Foster bei keinem seiner Einweisungsflüge das 'Verfahren bei Verlust des Rottenführers' geübt, wie es in den Weisungen vorgeschrieben ist. In Captain Fosters Ausbildungsnachweisen fand sich dazu keine Bemerkung."
So stand es damals im Magazin "Der Spiegel". Dort war auch zu lesen, dass der abgestürzte Pilot 15 Monate lang keine Flüge mit der Thunderbolt gemacht hatte. Beide Maschinen flogen eine Viertelstunde früher los als geplant:
"Schon fünf Minuten nach der Freigabe startet die Rotte und agiert völllig flugplanwidrig. Sie kurvt rechts herum und steigt nur auf 750 Meter Höhe."
Demnach gingen die beiden Piloten Foster und Gibson auf Sichtflug, und das bei starkem Nebel.
"Captain Foster flog zunächst geradeaus weiter und traf keine Anstalten, sich zur normalen Zusammenführungslinie zu bewegen", heißt es im Untersuchungsbericht der Royal Air Force. "Captain Gibson verringerte seine Querneigung etwas und erhöhte die Leistung, um Captain Foster zu helfen, die normale Zusammenführungslinie zu erreichen. Captain Foster hatte seine Bremsklappen geöffnet, um seine Geschwindigkeit zu verringern und leichter auf die richtige Zusammenführungslinie zu kommen."
Wenig später heißt es in dem Bericht: "Captain Foster leitete über UKW das 'Verfahren bei Verlust des Rottenführers' ein."
Wenn bei so viel Geheimhaltung wie nach dem Absturz der Militärmaschine 1988 in Remscheid Fragen nicht beantwortet werden, greifen Spekulationen um sich. Nicht nur diese Rotte flog an dem Tag aus dem Militärcamp in Nörvenich nahe der Eifel. Insgesamt waren es 16 Maschinen. Doch während die anderen Rotten von Nörvenich über Köln ins nordhessische Fritzlar flogen, nahm diese Rotte die Route über Remscheid. Warum? Was war das Ziel?
"Warum fliegt der einfach los?"
Veronika Wolf hat ihre Erfahrungen mit der Flugzeugkatastrophe und den Versuchen der Aufarbeitung und Vertuschung in den vielen Jahren danach aufgezeichnet - in Romanform. In einer Remscheider Kultureinrichtung liest sie aus "Schweigende Stadt":
"Das scheint mir wenig plausibel", sagt ein Zuhörer. "Das ist ja für ein Manöver eigentlich untypisch." Veronika Wolf entgegnet: "Doch, es ist typisch." Ein anderer fragt sich: "Ich sag jetzt mal, kommen einem da tausende Theorien, warum fliegt der einfach los? Hatte der irgendwas vor?"
Der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Es ist, als hingen die Zuhörer an ihren Lippen:
"Sie starrt ihn reglos an. 'Schauen Sie mal, dieser kleine Schrank hier. Darin liegt die Akte, in der alles über den Absturz steht. Ich kann sie Ihnen nicht geben. Selbst wenn ich wollte. Geheim. Streng geheim. Da stehen Sachen drin, die nicht an die Öffentlichkeit dürfen.'"
Es gab auch merkwürdige Dinge dann gesundheitlicher Art, ist richtig", räumt der Oberbürgermeister ein. "Die aber alle permanent auf andere Dinge geschoben wurden, auf kurzzeitige Sachen, aber nicht generell auf problematische Stoffe wie zum Beispiel Uran. Es wurde permanent bestritten, und es wurden auch immer wieder Ausreden gefunden. Einer sagte, ihm wären noch nie so schnell die Nägel gewachsen, die wären binnen zwei, drei Tagen nach dem Schneiden riesig geworden. Darüber machte man sich lustig, ernst genommen wurde das nicht, es wurde dann untersucht, und es wurden dann immer keine neuen Erkenntnisse vermeldet."

"Die sind unter Druck gesetzt worden"

30 Jahre sind inzwischen vergangen, aber Gras ist über den Absturz und seine Folgen nicht gewachsen. Die Bürgerinitiative ließ nicht locker und forderte weitere Bodenuntersuchungen. Die Besatzungszeit, in der die Alliierten besondere Rechte hatten, endete 1990. Und die Fragen um den Absturz von Remscheid landeten noch einmal in der Bundespolitik.
"Flugkatastrophe: Scharping wird aktiv", titelte der Remscheider Generalanzeiger im Jahre 2000. "Zwölf Jahre nach dem Absturz könnte der Fall neu aufgerollt werden."
Rudolf Scharping war zu jener Zeit Bundesverteidigungsminister. Nach einem Bericht von "Spiegel TV" soll es im damaligen Kosovokrieg fünf Todesfälle im Zusammenhang mit uranhaltiger Munition gegeben haben, durch den Einsatz des Kampfbombers Thunderbolt A 10. Auch im Irakkrieg wurden Maschinen dieses Typs eingesetzt. Ebenso in Syrien.
"Keine Häufung von Krebs", schränkte zwei Monate nach der Scharping-Initiative das örtliche Gesundheitsamt ein: "Eine Ursache-Wirkungsbeziehung konnte nicht festgestellt werden."
Auch da widerspricht die Bürgerinitiative mit Verweis auf das Krebsregister in Mainz, das sehr wohl eine höhere Erkrankungsrate für Remscheid anzeige.
"Gibt es übrigens auf Facebook auch, der Eintrag der Erzieherinnen, die gesagt haben, wir wollen jetzt nicht mehr schweigen, wir haben damals einen Maulkorb bekommen von der Stadt, wir durften darüber nicht reden", sagt Veronika Wolf.
"Die sind unter Druck gesetzt worden", ist Christa Schwandrau überzeugt. "Ich weiß nur, dass die einfach... die waren alle bei der Stadt beschäftigt, die ganzen Leute, und die Stadt hatte einen Maulkorb gekriegt. Von Seiten der Amerikaner, bin ich ganz sicher. Und die haben sich alle nicht getraut. Die hatten Angst, ihre Jobs zu verlieren oder vielleicht ihre Rente nicht zu kriegen oder so ähnliche Dinge. War so."

Tief vergraben in irgendwelchen Archiven

Remscheids Oberbürgermeister sagt heute: "Wenn da tatsächlich etwas gewesen ist, dann ist das dermaßen gut und tief vergraben irgendwo, in irgendwelchen Archiven, ob man an die jemals herankommt, glaube ich kaum. Also, ich glaube, das müsste dann schon ein ganz großer Zufall sein. Dass man irgendwann mal feststellt, wie es war, und dann ist natürlich der Skandal perfekt."
Die amerikanische Seite schweigt dazu. Bis heute. Wer war der Mann, der sofort nach dem Absturz, als Veronika Wolf mit ihren Kindern durch das Gartentor lief, ihr zurief, sie solle sofort wieder ins Haus gehen? Veronika Wolf vermutet, dass es sich bei dem Mann um einen der Streckenposten handelte, die wie üblich an bestimmten Stellen mit guter Aussicht auf die Flugroute stehen. Dann aber müsste diese abweichende Route geplant gewesen sein.
Der Helm des tödlich verunglückten Piloten hängt in den kahlen Zweigen eines Baums.
Der Helm des tödlich verunglückten Piloten hängt in den kahlen Zweigen eines Baums.© picture-alliance / dpa
Veronika Wolf ist über die Jahre zu einer Spezialistin für Umwelttechnik und Baubiologie geworden. Mit ihren Söhnen hat sie ein Unternehmen für die nachhaltige Entwicklung von Industrie-, Gewerbe- und Stadtquartieren gegründet. Und die Bürgerinitiative gibt nicht auf:
"Wir haben Bodenproben genommen, und zwar aus dem Garten der Nachbarin, die dann kurz darauf verstorben ist an Krebs, auch ne junge Frau, und man hat festgestellt, dass im Boden dieses Gartens und drumherum drüber hinaus Erbgut verändernde und krebserregende Substanzen sind, und dass es auf einer Skala der Sanierungswürdigkeit ganz hoch oben eingestuft wurde und dass tatsächlich weitere Untersuchungen gemacht werden müssen."

Was lauert unter der Oberfläche?

Wenige Jahre nach dem Unglück wurden neue Häuser an der Absturzstelle gebaut. Auch die Fabrik daneben steht längst wieder. Aber was lauert unter der Oberfläche an diesem Ort, im wörtlichen und im übertragenen Sinne?
"Ich kann mir eigentlich auch kaum vorstellen, dass ein Feuerwehrmann oder andere Personen, die damals was ganz Konkretes gesehen haben, oder die klare Erkenntnisse hatten, dass da nicht irgendwann einmal im Laufe der Jahrzehnte, dass da nicht irgendwo mal was rausrutscht", sagt der Oberbürgermeister. "Da ist noch nie etwas gekommen."
Veronika Wolf erzählt, der Staatsanwalt habe in den Vereinigten Staaten Klage erhoben. Anscheinend sah er doch eine direkte Verbindung zwischen dem Absturz und seiner Krankheit.
Die Katastrophe ereignete sich in der Zeit, in der es noch nicht die neuen Medien und keine Smartphones gab, mit denen sich heute Gerüchte und Verschwörungstheorien lawinenartig verbreiten.
Trotzdem - ohne redliche Aufklärung wuchern Verdacht und Verdächtigungen immer weiter. Viele Menschen in Remscheid warten bis heute darauf, dass sie erfahren, was damals wirklich passiert ist.