Wie das Gehirn auswendig lernt

"Wir suchen nach Strukturen und Mustern"

Theodor Storms Weihnachtsgedicht "Knecht Ruprecht" mit der berühmten Zeile: "Von drauß' vom Walde komm ich her...." auf rotem Papier.
Das Weihnachtsgedicht "Knecht Ruprecht" von Theodor Storm © picture alliance/dpa/Christoph Schmidt
Robert Gaschler im Gespräch mit Nana Brink · 09.12.2015
Alle Jahre wieder lernen wir Weihnachtsgedichte auswendig. Und haben allen Grund, stolz auf unser Gehirn zu sein: Dass wir uns in kurzer Zeit Texte inhaltlich merken können, sei eine tolle Leistung, sagt der Psychologe Robert Gaschler. Computer bräuchten zehn Jahre dafür.
Wer früher, als Kind und Jugendlicher, Texte und Gedichte auswendig gelernt hat und dies vielleicht auch heute noch tut, kann stolz auf seine Gehirnleistung sein, sagt der Psychologie Robert Gaschler. Gerade wenn es nicht immer auf Anhieb klappe, solle man sich vergegenwärtigen, "dass das eine tolle Sache" sei, sich Texte inhaltlich zu merken und diese wiederzugeben.
"Wenn man sich vorstellt, was man leisten muss, um das einem Computer beizubringen: Da ist man zehn Jahre beschäftigt. Und wir können das einfach mal so."
Eselsbrücken zum Abspeichern
Das menschliche Gehirn geht clever und systematisch vor beim Auswendiglernen im Alltag - wenn es etwa um Computerpasswörter oder um Telefonnummern geht: Es suche nach Mustern und Strukturen - den berühmten Eselsbrücken, die beim Abspeichern helfen könnten, sagt Gaschler, der als Professor an der Fernuniversität Hagen lehrt.
Beim Auswendiglernen legt man im Gedächtnis nämlich zwei Spuren an, eine sprachliche und eine über die die Bedeutung. Letzteres ist einfacher zu merken. Auf der sprachlichen Spur helfen zum Beispiel Reim und Rhythmus wie in dem Weihnachtsgedicht "Knecht Ruprecht" von Theodor Storm: "Von drauß' vom Walde komm' ich her; ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr". Gedichte mit Reim seien ideal fürs Auswendiglernen geeignet, sagt Gaschler.
Das Gehirn lasse sich aber nicht nur mit Gedichten, sondern auch sehr gut mit zum Beispiel Kartenspielen trainieren: Im Laufe des Spiels müsse man sich merken, welcher Spieler wann welche Karten abgelegt habe. Für das Gehirn-Jogging brauche man also nicht unbedingt Computer-Lernprogramme.



Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Auf das gleich folgende Interview hier bei uns in der Redaktion haben wir uns vorbereitet, nämlich, ob man noch Gedichte zu Weihnachten auswendig lernt, ob man überhaupt noch Gedichte lernt, und da hat sich natürlich sofort eine lebhafte Diskussion entfacht. Erinnern Sie sich noch an das Gedichte-auswendig-Lernen, an "Die Glocke", den "Zauberlehrling" oder Jahreszeitliches, wie "Von drauß' vom Walde komm ich her, ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr." Na, erkannt?
Aber wie geht es eigentlich weiter? Müssen wir mal schnell bei Theodor Storm nachgucken, aber mal abgesehen davon, dass man viel vergisst – ist es eigentlich sinnvoll, noch Gedichte auswendig zu lernen. Professor Robert Gaschler lehrt Allgemeine Psychologie an der Fernuniversität in Hagen, und er hat sich auf den Zusammenhang zwischen Lernen, Motivation und Emotion spezialisiert. Schönen guten Morgen, Herr Gaschler!
Robert Gaschler: Guten Morgen!
Brink: Mussten Sie auch Gedichte lernen und hat es Ihnen, ehrlich gesagt, Spaß gemacht?
Gaschler: Ja, reichlich. Manchmal hat es auch Spaß gemacht. Teils durften wir uns aussuchen, welches Gedicht wir auswendig lernen, sodass es dann auch – das ist, glaube ich, der Hauptpunkt – für die Klasse, die sich das alles anhören muss, ganz unterhaltsam bleibt, anstatt dasselbe Gedicht zehnmal hintereinander oder zwanzigmal hintereinander.
Brink: Aber ist es Ihnen dann auch leichter gefallen, es auswendig zu lernen.
Gaschler: Na klar, man weiß schon, das wird spannender, wenn man das dann vortragen darf, weil die anderen noch nicht wissen, was kommt.
Brink: Die Frage ist ja, wenn man sich etwas aussuchen kann, was man möchte, dann ist man ja irgendwie motiviert. Wie lernen wir denn auswendig?
Gaschler: Wie lernen wir auswendig. Ich denke, auch gerade, weil das ja manchmal nicht so gut klappt, dass man sich vielleicht ärgert, sollte man sich vergegenwärtigen, dass es eigentlich eine tolle Sache ist, was wir sonst so können, nämlich dass wir den Inhalt wiedergeben. Dass wir eine Geschichte erzählt bekommen, irgendwelchen anderen Inhalt lesen, und dass wir das sinngemäß wiedergeben können. Wenn man sich vorstellt, was man leisten muss, um das einem Computer beizubringen, da ist man zehn Jahre beschäftigt. Und wir können das einfach mal so.
Welcher Name gehört zu welcher Person?
Andererseits gibt es dann eben einige Bereiche auch im täglichen Leben, wo das eben auch den spezifischen Inhalt, auf das spezifische Wort eben dann doch mal ankommt, manchmal ist es beim Einkaufszettel so, dass es dann eine bestimmte Butter sein soll – mir wäre das egal, der Familie teilweise nicht. Oder Passwörter, da braucht man auch eine ganz genaue Wiedergabe. Handynummern, wenn man die einmal drauf hat, spart man viel Zeit, da muss man auch genau sein. Oder in Internettelefondiensten, diese ganzen Chiffrenamen von den Kolleginnen und Kollegen, die sind alle super kreativ, aber man muss ja immer noch wissen, welcher kreative Name zu welcher Person passt. Also das gibt es schon, dass man eben sozusagen auswendig lernen muss.
Was man da macht, ist in der Regel, dass man nach Strukturen, Mustern sucht in dem Material und dann sehr viele, ich sage mal, Spuren zusammenbindet, also beispielsweise den Klang der Sprache. Oder man verbildlicht sich noch etwas, sodass man dann eben nicht aus Versehen das Synonym merkt oder zu sehr auf was Ähnliches rekurriert.
Brink: Also dann hilft einem so was auch zum Beispiel wie ein Reim. Also "Von drauß' vom Walde komm ich her, ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr", also dass man den Rhythmus hat und auch den Reim?
Gaschler: Der hilft sehr, zumal man dann ja merkt, dass es sozusagen nicht aufgeht, wenn mal ein Wort, was so ähnlich ist, sich fälschlicherweise gemerkt hat ...
Brink: Das merkt die Klasse!
Gaschler: ... was einfach zur nächsten Stufe nicht passt. Das stützt sich gegenseitig, und ich denke, dass unter anderem beim Gedichtelernen man übt, solche Strukturen zu suchen, zu entdecken oder sich eben auch selbst zu schaffen. Und das ist was Generelles, was man natürlich später im Alltag auch gebrauchen kann. Ich habe eine Telefonnummer, in der letztlich mehrmals 699 vorkommt. Nicht an allen Stellen, da gibt es so eine Stelle, da muss man eine der Neunen durch eine Sieben und eine Zwei, was ja zusammen auch neun ergibt, ersetzen. Wenn man das mal eingeübt hat, sich solche Brücken zu bauen, kann man das auf viele Inhalte anwenden. Insofern lohnt sich das.
Was anderes, warum sich das lohnen kann, ist aus meiner Sicht, dass man natürlich Erfolgserlebnisse hat. Man unterhält die Verwandtschaft unterm Weihnachtsbaum, man merkt, dass man prinzipiell das hinkriegt, sich auch was Langes zu merken. Und wenn dann später mal die Frage steht, soll ich mir jetzt die Mühe machen, die Telefonnummer mal zu lernen, damit ich nicht immer, immer wieder nachgucke, oder nicht, dann weiß ich, ja, prinzipiell kann ich das. Also, warum soll ich nicht mal die zehn Minuten investieren?
Auswendiglernen ist ein gutes Training
Brink: Was wird denn da eigentlich genau trainiert, wenn wir auswendig lernen?
Gaschler: Wenn wir auswendig lernen, was trainiert wird, sind diese Musterentdeckungsfähigkeiten, dass man merkt, ist da ein Reim oder ist da keiner, dass man dafür sensibel wird, den auch zu suchen oder sich eben Brücken zu bauen, da, wo eigentlich gar keine so richtig sind.
Brink: Kann man diese Fähigkeiten dann auch anderweitig trainieren, oder ist da so zum Beispiel so ein Gedicht schon das Beste.
Gaschler: Das hat, glaube ich, keiner wirklich verglichen bisher. Man muss ja auch was machen, was schon in der zweiten, dritten Klasse ein bisschen Spaß macht, wofür man auch Applaus von der Verwandtschaft bekommt, sodass das schon mal eine gute Strategie ist, das über Gedichte zu machen. Man kann vieles auch viel direkter trainieren, weil eine Sache, die da letztlich passiert, ist, dass man mit Inhalten im Kopf jongliert, dass man Vergleiche macht.
Und das könnte man in Trainingsaufgaben am Computer machen, aber das ist oft nicht etwas so doll anderes, als wenn man meinetwegen Karten spielen würde und sich dabei merken muss, was noch auf der Hand liegt, was schon weg ist, unter Umständen, je nach Spiel auch, wer was gelegt hat. Dass man zurückgeht: Ist der aktuelle Inhalt, ist meinetwegen die aktuelle Spielkarte die gleiche, die vor drei Zügen schon dran war oder nicht? Also, dass man das, was man sich gerade im Kopf zurechtgelegt hat, dass man das abgleichen kann mit anderen Sachen. Diese Jonglierfähigkeit ist etwas Generelles, was man an vielen Stellen gebrauchen kann.
Das kann man eben auch mit Gedichten trainieren, weil man da ja nach Mustern suchen muss, oder eben auch direkter. Ich denke, erst mal machen, wie es Spaß macht, bis die Forschung weiter ist und sagt, wie es am schnellsten geht in der zweiten Klasse.
Eine tolle menschliche Fähigkeit
Brink: Warum gibt es Menschen, die das scheinbar leichter können als andere?
Gaschler: Ja, warum? Wie gesagt, es ist ja eigentlich eine tolle menschliche Fähigkeit, sich inhaltlich etwas merken zu können und zu generalisieren, also den Sinn wiederzugeben. Computer können das eigentlich nicht oder nur mit größter Mühe, sodass wir da eigentlich an einer Stelle bohren, wo man sagen würde, ist doch toll, wenn Sie inhaltlich wiedergeben können. Ich denke, es gibt unterschiedlich viel Wissen über solche Merkstrategien und natürlich auch unterschiedlich viel Motivation, die auch zu benutzen.
Brink: Robert Gaschler, Psychologieprofessor an der Fernuniversität in Hagen. Vielen Dank für Ihr Plädoyer fürs Gedichteauswendiglernen.
Gaschler: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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