Flüchtlingssiedlung in Hamburg-Billwerder

Der anstrengende Weg zu guter Nachbarschaft

Baustelle Flüchtlingsheim Billwerder
In Billwerder entsteht die größte Flüchtlingssiedlung Deutschlands © Axel Schröder
Von Axel Schröder · 09.02.2017
Es kann ein Ort werden, an dem Viele, die vor Krieg und Vertreibung geflohen sind, eine neue Heimat finden. Vor den Toren Hamburgs entsteht die größte Flüchtlingssiedlung Deutschlands. Bis zu 2.500 Menschen sollen hier eine neue Bleibe finden. Das ländlich-dörfliche Billwerder steht vor einer großen Herausforderung.
Über dem Neubau-Quartier hängt der graue Februarhimmel. Hinter dem Gitterzaun am Mittleren Landweg fahren Radlader über die Baustelle. Gegenüber, in die fertigen Blöcke, ziehen noch während der Arbeiten die ersten Flüchtlinge ein. In rotbraun verklinkerte, drei und viergeschossige Wohnblöcke. Auf einem der weiten Innenhöfe steht Hariam Kappur, 31 Jahre alt, auf dem Arm seine Tochter, gerade anderthalb.
"Ich habe zwei Töchter. In Afghanistan gab es keine Schulen, gar nichts. Und hier geht mein Kind in den Kindergarten. Das ist gut!"
Mitte 2015 kam Hariam Kappur mit seiner Familie in Hamburg an. Er ist Hindu und wollte mit seiner Familie nicht länger in Kabul leben, wollte Verfolgung und Diskriminierung hinter sich lassen. Hariam Kappur lädt zu einer Wohnungsbesichtigung. Er erzählt von der Erleichterung, endlich aus den Containern in der Notunterkunft raus zu sein:
"I tell you! Erst in dem einen, dann in dem anderen Container. Und die Wohnung? Ist gut. Spät, aber besser! Meine Familie lebt in Hamburg, schon 25 Jahre. – Your Family? They live in Hamburg? – Ja."
Hariam Kappur will arbeiten, war beim Jobcenter, schreibt Bewerbungen, so gut es geht.

Anwohner schimpfen über die große Baustelle

Das Areal ist acht Hektar groß, eingerahmt von den Gleisen der S-Bahn, der Landstraße und einer Schrebergartenkolonie. Und dem kleinen Haus von Peter Meyer. Er steht vor seinem Carport, gleich dahinter steigt der S-Bahn-Damm steil an. Früher hat er – abgesehen vom Bahndamm – mitten im Grünen gelebt. Auf dem Land, 20 Kilometer außerhalb Hamburgs. Heute wächst direkt hinter seinem Garten Hamburgs größtes Bauprojekt für Flüchtlinge in Hamburg.
"Seit 1969 bin ich jetzt hier. Wir hatten hier vorher eine Wiese und jetzt haben wir eine Riesen-Baustelle."
Jetzt überragen zehn Kräne die Bäume auf seinem Grundstück. 2.500 Flüchtlinge, die gute Chancen auf ein dauerhaftes Bleiberecht haben, aus Afghanistan, Eritrea, Syrien oder dem Irak werden dort bis Ende des Jahres einziehen. Die nächste S-Bahn-Haltestelle ist zweihundert Meter entfernt, der nächste Supermarkt liegt eine Station entfernt. Viele der 650 Einheimischen engagieren sich schon heute in der Flüchtlingshilfe vor Ort, bieten Kurse an, organisieren ein Ehrenamtlichen-Café. Peter Meyer macht dort nicht mit.
Blick auf die Baustelle des Flüchtlingsheim Billwerder
Flüchtlingsheim Billwerder© Axel Schröder
"Wir hatten eine Bürgerinitiative gegründet. Und die haben dann auch versucht, gerichtlich dagegen anzugehen. Aber das klappte auch nicht. Da haben die Gerichte das abgeschmettert, weil ein neues Gesetz gemacht wurde, wo wir dann nicht gegen ankommen."

"Sie werden uns irgendwo bevölkern hinterher"

Vor knapp zwei Jahren wurde § 246 Baugesetzbuch geändert. Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen wurden Vorschriften für Neubauten gelockert. Auch ohne Bebauungsplan können Häuser gebaut werden, die Pläne müssen die Behörden aber so schnell es geht erstellen oder ändern. Dass nun Flüchtlinge in seine Nachbarschaft ziehen, findet Peter Meyer gut, beteuert er. Aber er bezweifelt, dass er weiter seine Ruhe haben wird.
"Wir haben auch davor Angst bei so vielen Leuten, die jetzt hierher kommen. Die müssen ja auch irgendwohin, die sitzen ja nicht nur in ihren Wohnungen. Und da ist hier ja gar nicht dran gedacht worden. Das die auch mal rauskommen wollen. Sie wollen irgendwo mal grillen. Das ist Naturschutzgebiet dahinter! Und sie wissen ja gar nicht, wo sie hin sollen. Also werden sie uns irgendwo bevölkern hinterher."
Peter Meyer zuckt mit den Schultern und schimpft über den Bezirksamtsleiter von Hamburg-Bergedorf Arne Dornquast. Dann verabschiedet er sich.
Die Idee der Großsiedlung auf der grünen Wiese, einst geplant für 4.500 Flüchtlinge, entstand im Sommer 2015. Rund 350 Flüchtlinge kamen damals täglich in Hamburg an. Über 18.000 lebten in völlig überfüllten Erstaufnahmeeinrichtungen. Es ging darum, sehr schnell und sehr viele Plätze in Folgeunterkünften zu schaffen. In allen Stadtteilen sollten Siedlungen entstehen, auch in Bergedorf, 20 Kilometer von der Innenstadt entfernt. An die vielen Informationsabende zum Projekt "Folgeunterkunft Mittlerer Landweg" kann sich Arne Dornquast noch gut erinnern.
"Diese Diskussionen haben sehr wenig Spaß gemacht. Und das war sehr, sehr anstrengend! Wir haben in Bergedorf nicht so viele Standorte gehabt, wo man kleinere Einheiten – ich sag mal: vier Mal zweihundert, statt einmal achthundert hätte realisieren können. Und schon gar nicht in der Zeit, auf der es auf dem Grundstück am Mittleren Landweg möglich war. Insofern ist das eine bauliche, eine technische Chance gewesen, die wir dort ergreifen konnten. Und deshalb müssen wir jetzt besonders viel Augenmerk darauf richten, dass das Leben in dem Quartier, dass das Zusammenleben mit den Menschen, die dort untergebracht sind, bei uns in Bergedorf, in der Stadt Bergedorf und in Hamburg möglichst gut funktioniert."

Angst vor den Flüchtlingen ist unbegründet

Nötig dazu war auch die Einigung mit der hamburgweit aktiven "Initiative für gute Integration". Ihr Ziel, viele kleine, statt wenige große Siedlungenkonnte die Initiative in zähen Verhandlungen mit der Stadt durchsetzen. Für das Projekt "Mittlerer Landweg" kam die Einigung zwischen Senat und Aktivisten aber zu spät, die Bauarbeiten waren schon im Gange. Ursprünglich war geplant, dort, vor den Toren der Stadt, Wohnraum für 4.500 Flüchtlinge zu schaffen. Nun sollen es 2.500 werden. Bis Ende des Jahres sollen alle Wohnungen belegt sein. Das seien viele Menschen, sagt Arne Dornquast. Und die Bedenken einiger Anwohner könne er verstehen. Nicht aber die Angst, die einige der 650 Anwohner nun verspüren:
"Erstmal sind die Menschen, die zu uns kommen, an allem Möglichen interessiert. Aber nicht daran, sich mit ihren Nachbarn in die Haare zu kriegen. Das muss man mal ganz klar sagen. Die haben Krieg, Verfolgung und schlimme Zustände hinter sich gelassen, um hier in Frieden, auch in Frieden mit ihren Nachbarn zu leben. Für die Menschen, die dort schon leben, ist es in der Tat eine große Herausforderung. Es ist eigentlich eine dörflich-ländliche Struktur, da wohnt man im Einfamilienhaus und nicht in einer Geschosswohnung. Das hat sich jetzt geändert."
Die Belegung der einzelnen Wohnungen organisiert die städtische "fördern & wohnen". 60 Prozent Familien, 40 Prozent Alleinstehende sollen einmal am Mittleren Landweg leben.
"Das Prinzip ist: nie nur Gleiche ins gleiche Haus. Sondern Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern, ob es aus Syrien, aus dem Irak, aus Afghanistan, aus Eritrea - das sind so die Hauptherkunftsländer für Menschen mit einer dauerhaften Bleibeperspektive. Die Mischung ist das stabilste für das Haus, das Quartier."
Die Angst von Anwohnern wie Peter Meyer sei unbegründet, erklärt Arne Dornquast. Die neuen Bewohner würden sicher nicht seinen Vorgarten bevölkern.
"Das örtliche Kulturheim, das dort schon lange existiert, bekommt Mittel, um saniert zu werden. Wir stecken viel Geld in Unterstützungsangebote für Eltern und Familien. Für Jugendliche wird es eine Einrichtung im Quartier geben. Da gibt es eine Menge Flankierendes, was im Quartier selber stattfindet."

Stadt gibt viele Gelder für Stadtteilentwicklung

Und die Mittel dafür stammen aus so genannten RISE-Mittel. RISE steht für "Rahmenprogramm Integrierte Stadtteilentwicklung". 3,5 Millionen Euro stehen zur Verfügung, unter anderem für die Modernisierung des Sportplatzes gegenüber der neuen Siedlung, für eine Sporthalle, neue Umkleiden. Dazu kommen weitere Millionen, mit denen zum Beispiel ein Anbau für das Bürgerhaus im benachbarten Neu-Allermöhe bezahlt werden. Für ein funktionierendes Miteinander soll auch Olga Schill sorgen. Sie arbeitet für die Beratungsfirma "Tollerort" und ist seit Sommer letzten Jahres Quartiermanagerin am "Mittleren Landweg". Auf dem Bürgersteig vor dem Areal erklärt sie ihre Arbeit:
"Das Quartiersmanagement ist Vermittler zwischen unterschiedlichsten Akteuren. Zwischen Bewohnern, Altbewohnern, Neubewohnern, zwischen Trägern, zwischen Einrichtungen, Institutionen, aber auch dem Bezirksamt und der Politik."
Einmal pro Woche bietet sie eine Sprechstunde vor Ort an, hört sich an, was den Menschen auf dem Herzen liegt.
Olga Schill telefoniert mit der Bauleitung, wenn Nachbarn sich über Lärm und falsch parkende Betonmischer beschweren, sie spricht mit den Trägern der drei KiTas, die im Laufe des Jahres am Mittleren Landweg öffnen werden. Ihr Ziel ist es, mit den Bewohnern Strukturen und Beteiligungsverfahren zu entwickeln, damit auch nach dem Auslaufen der Förderung eine Verständigung zwischen alten und neuen Bewohnern möglich ist:
"Dass die Menschen aktiver werden, dass sie mehr Eigenverantwortung auch für ihr Gebiet tragen können und für ihre Mitmenschen hier. Vieles funktioniert hier. Es gibt zum Beispiel ein Ehrenamtlichen-Café, das von Altbewohnern in dem neuen Quartier betrieben wird. Da kommt man zusammen, kann sich austauschen."
Spannend wird, wie sich die Mischung im Quartier in den kommenden Jahren entwickelt. In zwei Jahren sollen nicht mehr 2.500 Geflüchtete am Mittleren Landweg wohnen, sondern nur noch 1.200. In vier Jahren, so sehen es die aktuellen Belegungspläne vor, nur noch 300. In die frei werdenden Wohnungen sollen dann Menschen ziehen, die sich die hohen Mieten in der Hamburger und Bergedorfer Innenstadt nicht leisten können, die rausziehen wollen aufs Land. Ob dieser Plan aufgeht, ist nicht klar. Bergedorfs Bezirksamtsleiter Arne Dornquast räumt ein, dass die Zielgröße von nur noch 300 Geflüchteten am Mittleren Landweg auch dadurch erreicht werden kann, dass sich ihr Status ändert. Als anerkannte Asylbewerber mit dauerhaftem Bleiberecht würden sie dann nicht mehr als "Flüchtlinge" in die Statistik einfließen, sondern als Einheimische.
"Sie werden sich im Status verändern, aber es werden häufig sicher dieselben Menschen sein wie heute. Trotzdem ziehen natürlich auch Flüchtlinge aus Unterbringungen aus, weil sie, ich sage mal, in Bramfeld einenArbeitsplatz gefunden haben. Dann werden sie nicht von Bergedorf nach Bramfeld jeden Tag zur Arbeit fahren wollen, sondern sich dort in der Nähe eine Wohnung suchen!"
Der 31jährige Hariam Kappur, der seit zwei Wochen mit seiner Frau und den beiden Töchtern als einer der ersten in den Mittleren Landweg gezogen ist, ist auf jeden Fall erstmal froh, die Zeit im Containerdorf hinter sich zu haben.
"Thank you, Deutschland! Danke, Dankeschön Deutschland, Danke!"

Thüringen sucht Nachmieter für leere Flüchtlingsunterkünfte

Thüringen war stolz darauf, keine Flüchtlinge in Zelten unterbringen zu müssen. Nun stehen die vom Land gemieteten Immobilien leer und kosten Geld – 13 Millionen Euro allein in diesem Jahr. Nur noch zwei von zehn Erstaufnahmeeinrichtungen werden genutzt. Und nun? Und was, wenn einer neuer Schub von Flüchtlingen kommt? Hören Sie die Reportage von Henry Bernhard:

Audio Player

Mehr zum Thema