Flüchtlingspolitik

"Der Bundesregierung fehlen Visonen"

Der Migrationsforscher, Publizist und Politikberater Klaus J. Bade, aufgenommen am 28.04.2013 in Köln.
Der Migrationsforscher und Historiker Klaus J. Bade © picture alliance / dpa / Horst Galuschka
Klaus J. Bade im Gespräch mit Dieter Kassel |
Die Bundesregierung habe keine zukunftsträchtigen Lösungen für die Flüchtlingspolitik, kritisiert der Migrationsforscher Klaus J. Bade. Derzeit gebe es meist nur Ad-hoc-Entscheidungen.
Der Migrationsforscher und Historiker Klaus J. Bade hat sich für ein Umdenken in der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung ausgesprochen und mehr zukunftsträchtige Konzepte gefordert.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sei zwar eine weltweit geachtete und führungsstarke Pragmatikerin, aber sie sei keine Visionärin, sagte Bade im Deutschlandradio Kultur. Ihr Bundesinnenminister Thomas de Maizière wiederum sei ein hervorragender Verwaltungsjurist und Ordnungspolitiker, jedoch kein Gesellschaftspolitiker:
"Insofern haben wir also da ein Führungsteam beieinander, das zwar hervorragend zusammenpasst, sich aber auch deswegen nicht ergänzt, weil es beiden sozusagen am Gleichen fehlt: an den visionären Konzepten für die Dinge."
"Man muss weltpolitische Systemfragen stellen"
Derzeit stellten sich zwei große Aufgaben, äußerte Bade: Zum einen müsse man sich "ad hoc aus den Problemen herauswursteln". Gleichzeitig müsse man aber auch Visionen entwickeln, "die dieses 'ad hoc' nichts als ein Zufallsprodukten erscheinen lassen, sondern als einen Schritt auf einem langen Weg".
Darüber hinaus müsse man jetzt endlich lernen, auch weltpolitische Systemfragen zu stellen, betonte Bade:
"Wir müssen lernen, dass wir keine Flüchtlingskrise haben, sondern dass wir eine Weltkrise haben, die Flüchtlinge ausstößt. Und die dann an unsere Türen klopfen. Und deswegen müssen wir diese Systemfragen stellen: weltökonomisch, weltökologisch, von mir aus auch welttheologisch."


Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Politisch Verfolgte genießen Asyl – das steht in Artikel 16 des Grundgesetzes. Uund beantragen müssen sie dieses Asyl auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland, das ist seit 66 Jahren unumstößliche Praxis. Die langjährige Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, Barbara John, und nicht nur sie natürlich, fordert jetzt, diese Praxis endlich zu beenden. Es gebe gute Gründe, Möglichkeiten zu schaffen, Asylanträge auch in den Herkunftsländern oder, wo dies nicht möglich nicht, Nachbarländern zu stellen. Wie sinnvoll das wäre und wie, wenn überhaupt, umsetzbar, das wollen wir jetzt von Professor Klaus Bade wissen, renommierter Migrationsforscher und unter anderem Begründer des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien. Schönen guten Morgen, Herr Bade!
Klaus J. Bade: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Sehen auch Sie gute Gründe für einen solchen Paradigmenwechsel?
Bade: Absolut. Denn was wir momentan betreiben, die Menschen über das Mittelmeer unter Führung von Schleppern ankommen zu lassen oder auf dem Landweg, auf qualvollen Wegen, und eine falsche, künstliche Auslese zu betreiben, bevor sie überhaupt Asyl beantragen können - das ist unmenschlich. Das ist auch sicherlich nicht so, wie sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes das gedacht hatten. Die haben vor allen Dingen nicht daran gedacht und das ausdrücklich auch gesagt, dass man irgendwelche zusätzlichen Bedingungen, Voraussetzungen schaffen müsste, um überhaupt Asyl beantragen zu können.
Wörtlich hat der damalige Vertreter der CDU gesagt: Wenn wir nur irgendetwas dazuschreiben würden, zu diesen vier Worten, dann müssten wir an den Grenzen oder sogar davor Beamte aufstellen, die da eine Auslese betreiben. Und dann wäre das ganze Gesetz sinnlos.
Kassel: Aber letzten Endes würde doch, wenn das zum Beispiel die Aufgabe von Beamten in deutschen Botschaften wäre, aber selbst wenn es das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen am Ende wäre - in jedem Fall eine Auslese wäre es doch dann auch eine Auslese , nur fände sie woanders statt.
"Ein Krieg gegen Flüchtlinge"
Bade: Ja, aber das wäre keine physische Auslese. Hier geht es ja buchstäblich um das Überleben, um überhaupt bis zur Grenze zu kommen. Man muss dort einen regelrechten Krieg gegen Flüchtlinge bestehen, man muss physisch sozusagen überleben, um das überhaupt beantragen zu können. Dass es eine Auslese geben muss, ist ja klar, wir müssen für eine Auslese aber auch die vernünftigen Voraussetzungen schaffen. In den Stellen, in denen man Asyl beantragen kann dann im Ausland, in den Ausgangsräumen, müsste natürlich auch die Möglichkeit bestehen, dass man eröffnete, legale Wege zur Arbeitswanderung oder zur Einwanderung ohne Asylanspruch stellen kann. Das sind die Voraussetzungen für eine vernünftige Auslese.
Kassel: Dazu sagt Barbara John, um kurz auf sie zurückzukommen, ja auch etwas, sie sagt zum Beispiel, was nun diesen oft verwischten Unterschied zwischen Migration, Emigration, Auswanderung und Flüchtlingen angeht, dass man einerseits das trennen muss – natürlich, das bestätigen Sie ja auch –, aber dass man zum Beispiel auch in Südosteuropa, auf dem Balkan konkret dafür sorgen muss, dass es dort weniger Motive für Arbeitsmigration gibt. Ist es sinnvoll und ist es möglich, das zu tun?
Forderung nach einer neuen Entwicklungspolitik
Bade: Es ist sinnvoll, es ist möglich, wir haben es schon öfters getan und sind damit gescheitert. Es ist viel, viel Geld in diese Räume geflossen, aber eben nicht bei den Adressaten angekommen. Es ist angekommen in den Taschen von korrupten Politikern, in den Kassen von feisten Sozialbürokratien, die nur Papier gemacht haben, mit dem man die Parlamente tapezieren kann. Man muss das mit Neuauflagen betreiben, eine Art Entwicklungspolitik mitten in Europa, die scharf kontrolliert ist, die zweckorientiert ist, die begleitet ist, damit das dort bei den Adressaten, insbesondere bei den Roma, auch ankommt.
Und darüber hinaus müssen wir endlich lernen – und auch das hat Barbara John ja angesprochen –, wir müssen endlich lernen, weltpolitische Systemfragen zu stellen. Wir müssen lernen, dass wir keine Flüchtlingskrise haben, sondern dass wir eine Weltkrise haben, die Flüchtlinge ausstößt. Und die dann an unsere Türen klopfen. Und deswegen müssen wir diese Systemfragen stellen, weltökonomisch, weltökologisch, von mir aus auch welttheologisch. Der Papst mit seiner Enzyklika Laudato Si, der aus der nicht marxistischen südamerikanischen Befreiungstheologie kommt, hat damit wirklich auch Tore aufgemacht.
Kassel: Aber glauben Sie aus Ihrer ja nun wirklich jahrzehntelangen Erfahrung als Migrationsforscher, Herr Bade, dass jetzt, auch wenn man das oberflächlich glauben könnte, der richtige Moment ist für einen so groß angelegten Paradigmenwechsel? Der Bundesinnenminister hat zwar ein Standardabweichungsgesetz angekündigt, aber er meint damit ja eher nur Abweichungen von Bauvorschriften.
Ein Führungsteam "ohne Visionen"
Bade: Ja, das haben Sie sehr treffend gesagt, das ist ja das Problem mit unserer Bundeskanzlerin wie mit ihrem hyperloyalen Bundesinnenminister. Die Bundeskanzlerin ist eine weltweit geachtete verlässliche, führungsstarke Pragmatikerin. Aber sie ist keine Visionärin, und ihr Bundesinnenminister, mit dem sie ja sehr eng befreundet ist, ist eben ein hervorragender Verwaltungsjurist, aber er ist ein Ordnungspolitiker und kein Gesellschaftspolitiker, er ist kein Visionär.
Insoweit haben wir also da ein Führungsteam beieinander, das zwar hervorragend zusammenpasst, sich aber auch deswegen nicht ergänzt, weil es beiden sozusagen am Gleichen fehlt: an den visionären Konzepten für die Dinge. Was jetzt ansteht, ist doch zweierlei: Wir müssen uns ad hoc aus den Problemen herauswursteln, und wir müssen gleichzeitig Visionen entwickeln, die dieses Ad-hoc nicht als ein Zufallsprodukt erscheinen lassen, sondern als einen Schritt auf einem langen Weg.
Kassel: Wir müssen die Systemfrage stellen und wir müssen das Asylsystem in Deutschland umstellen, sagt der Migrationsforscher Klaus Bade. Professor Bade, vielen Dank für das Gespräch!
Bade: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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