Flüchtlingslager Kara Tepe

Lasst die Kinder in die Schule!

04:33 Minuten
Momentaufnahme im Flüchtlingslager Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos am 29. März 2021: Kinder spielen vor Toilettencontainern.
Leben im Flüchtlingslager Kara Tepe: An einen Schulbesuch ist für die Kinder derzeit nicht zu denken. © picture alliance / ANE / Eurokinissi / Panagiotis Balaskas
Ein Plädoyer von Martin Gerner · 12.07.2021
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Zahlreiche Bewohner im Flüchtlingslager Kara Tepe sind im schulpflichtigen Alter. Das Recht auf Schulunterricht wird ihnen jedoch verwehrt. Das hat für sie weitreichende Folgen. Ein nicht hinnehmbarer Umstand, findet der Publizist Martin Gerner.
Wer lernen will im Flüchtlingslager, muss improvisieren: Die Hilfsorganisation Stand by Me Lesvos hat mit einer Partnerorganisation in Kara Tepe zwei ausrangierte Busse zu mobilen Unterrichtsräumen umgebaut: Steuer und Sitzbänke wurden entfernt, eine Trennwand in der Mitte der Busse eingezogen. Klappstühle geben bis zu neun Teilnehmerinnen und Teilnehmern Platz in der Pandemie. Die umgebauten Fahrzeuge bilden einen der wenigen Internet-Hotspots im Lager.
Während weltweit in Pandemiezeiten immer mehr digital gelernt wird, haben Flüchtlingskinder auf Lesbos keine derartigen Möglichkeiten. In dem abgebrannten Flüchtlingslager Moria waren Tafeln, Stifte, Papier – alles, was Unterricht ausmacht – Mangelware.
Obwohl technisch möglich, schafft es Europa nicht, den Schutzsuchenden auf Lesbos ein flächendeckendes WLAN zur Verfügung zu stellen. Dabei besitzen die Menschen im Lager ohne Frage einen Anspruch auf zeitgemäße Kommunikationsmittel.

Das Recht auf Bildung wird vorenthalten

Die Coronapandemie verschärft die Lage noch: Den Flüchtlingskindern ist es oft nicht erlaubt, das Lager für den Schulbesuch zu verlassen – eine Diskriminierung, werfen mehrere Dutzend Organisationen Athen und der EU-Kommission zur Recht vor. Nach EU-Recht haben Flüchtlingskinder bis zu ihrem 15. Lebensjahr Anspruch auf kostenlose Bildung. Das griechische Gesetz räumt ihnen das Recht auf einen Platz in der Schule nach drei Monaten ein.
Dazu kommt es aber fast nie. Warten bestimmt das Leben auf den EU-Hotspots. Oft vergehen Monate bis zum Erstinterview, ein oder zwei Jahre bis zum Asylentscheid. Dabei garantiert Artikel 22 der Genfer Flüchtlingskonvention Flüchtlingen öffentliche Erziehung, Zugang zu gleichen Schulen und Studienmöglichkeiten wie Einheimischen.

Eigeninitiative unterstützen

In Griechenland, wo zur Jahreswende 44.000 Flüchtlings- und Migrantenkinder gezählt wurden, gibt es EU-finanzierte Bildungskoordinatoren für die landesweit über 50 Lager. Statt verbesserter Schulbildung scheint aber die Stigmatisierung der betroffenen Kinder zugenommen zu haben, wie Berichte belegen. Auch Versuche von Unicef, daran Grundlegendes in Kooperation mit der griechischen Regierung zu ändern, sind bisher nicht erfolgreich.
In der schlimmsten Not halfen sich die Schutzsuchenden selbst: Im Herbst 2019 bauten einige unter den Flüchtlingen in Moria ein halbes Dutzend unabhängiger "Schulen". Stress, Depression und Gewalt gingen so im Lager teilweise zurück.
Flüchtlinge schlüpften dabei unter anderem in die Rolle von Lehrern. Das gab ihnen Kraft und Zuversicht, wie auch den Schülern, die etwas zu tun bekamen. Davor waren sie Empfänger unserer Spenden und zur Passivität verdammt. Die eigene Initiative ließ sie aufleben.
Mehr Eigeninitiative der Schutzsuchenden sollten wir also unterstützen, statt sie von finanzieller Hilfe abhängig zu machen.

Bildungsperspektive als Fluchtgrund

Bis Ende 2022 soll ein neues, mehrere Millionen Euro teures Flüchtlingslager auf Lesbos entstehen, diesmal tief im Inneren der Insel, unter enormen Sicherheitsvorkehrungen und abseits bewohnter Gebiete. Werden die vielen Kinder von Moria und Kara Tepe dann eine Schule besuchen können?
Bessere Bildungsperspektiven für ihre Kinder: Das ist, neben dem Krieg, ein ganz wesentlicher Grund, warum die meisten Eltern von Flüchtlingskindern ihre Heimat verlassen haben. Unterrichtsausfall ist für sie deshalb ein Worst-Case-Szenario. Spendengelder helfen hier weniger als schnellere, faire Asylverfahren und die Durchsetzung des bestehenden Rechtsanspruchs – auch auf den Schulbesuch.
Die EU als Festung ist am Ende eine Illusion.

Martin Gerner ist freier Autor, Korrespondent und Dozent. Er berichtet seit Jahren über Flüchtlingsrouten im Mittelmeer und auf dem Balkan sowie aus Konflikt- und Krisengebieten wie Afghanistan und Irak. Am Hindukusch bildet er seit 2001 junge Journalistinnen und Journalisten beim Aufbau der neuen Pressefreiheit aus. Sein Dokumentarfilm "Generation Kunduz" wurde weltweit ausgezeichnet.

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