Flüchtlingslager Jarmuk

"Die Lage hat sich weiter zugespitzt"

Eine Palästinenserin verlässt mit ihren beiden Kindern das Flüchtlingslager Jarmuk bei Damaskus.
Eine Palästinenserin verlässt mit ihren beiden Kindern das Flüchtlingslager Jarmuk bei Damaskus. © dpa / Dmitriy Vinogradov
René Schulthoff im Gespräch mit Ute Welty |
Kein Trinkwasser, keine Lebensmittel, keine medizinische Versorgung: Die Lage im palästinensischen Flüchtlingsviertel Jarmuk in Damaskus ist katastrophal. Dass Hilfsorganisationen keinen Zugang erhalten, kritisiert René Schulthoff vom Roten Kreuz.
Der Delegierte des Deutschen Roten Kreuzes für Syrien, René Schulthoff, fordert freien Zugang für Hilfsorganisationen zum Flüchtlingslager Jarmuk in Syrien zur Versorgung der Zivilisten mit Hilfslieferungen.
Mit dem Ausbruch der neuesten Kämpfe durch das Vorrücken der islamistischen Terrormiliz IS habe sich die katastrophale Lage in dem von syrischen Regierungstruppen belagerten Viertel noch zugespitzt, sagte Schulthoff im Deutschlandradio Kultur. Seit über einem Jahr bereits gebe es keine Möglichkeit mehr, Hilfslieferungen zu den Eingeschlossenen zu bekommen: "Der Zugang wird von allen Seiten weitestgehend verwehrt". Den Zivilisten fehle der Zugang zu Trinkwasser, Lebensmitteln und medizinischer Versorgung. "Die Menschen hungern", sagte der Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Beirut, zuständig für Syrien, Libanon, Jordanien und die Türkei.
Evakuierung wäre wünschenswert - die Umsetzung fraglich
Unklar sei, wie die Menschen, die in zerschossenen Ruinen auf Hilfe warteten, gerettet werden könnten: Eine Evakuierung, wie sie von der UN angedacht wird, hält Schulthoff zwar für wünschenswert, äußerte sich aber skeptisch angesichts schwierigster Verhandlungen in den letzten Jahren über den Zugang zum Lager: "Wie konkret eine solche Idee umgesetzt werden kann, ist fraglich. Denn den Menschen muss zeitnah geholfen werden."
Zivilisten haben ein Recht auf humanitäre Hilfe
Lediglich etwa eintausend Menschen, denen in der letzten Woche die Flucht in Nachbarviertel gelungen sei, seien mithilfe der Schwesterorganisation Syrisch-Arabischer Roter Halbmond (SARC) mit Lebensmitteln versorgt worden, erklärte der DKR-Delegierte in Beirut. Die internationale Staatengemeinschaft müsse dafür sogen, dass die humanitäre Hilfe in Syrien weitergehen könne. Das Deutsche Rote Kreuz verhandele dazu mit allen Seiten. "Es gibt ganz klare internationale Regeln und Richtlinien für den Schutz von Zivilisten. Und die müssen einfach respektiert werden. Das bedeutet, dass diese Menschen ein Recht haben humanitäre Hilfe zu bekommen und dass die Helfer geschützt werden."
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Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Und auf einmal werden Feinde zu Verbündeten. Seit zwei Jahren belagern syrische Regierungstruppen das Flüchtlingslager Jarmuk in der syrischen Hauptstadt Damaskus, wo sich etwa 18.000 Palästinenser aufhalten. Nun aber ist Jarmuk von Kämpfern der Terrormiliz Islamischer Staat erobert worden. Was das für die Menschen dort bedeutet, das mag man sich kaum noch vorstellen: Elend und Not grassieren, Vertreter der palästinensischen Autonomiebehörde besprechen jetzt mit dem syrischen Staatschef Assad, wie eine militärische Lösung aussehen kann, um den IS wieder aus dem Lager zu vertreiben. Für das Deutsche Rote Kreuz beobachtet René Schulthoff die Situation in Jarmuk mit Sorge. Ich grüße Sie!
René Schulthoff: Guten Morgen nach Deutschland!
Welty: Was wissen Sie darüber, wie es den Menschen in Jarmuk in den vergangenen Tagen ergangen ist? UN-Generalsekretär Ban Ki-moon nennt Jarmuk ein Todeslager. Gemeldet worden sind auch heftige Kämpfe.
Schulthoff: Ja, die Zustände in diesem Lager Jarmuk im Süden von Damaskus sind ja schon seit geraumer Zeit eine Katastrophe und katastrophal. Seit über einem Jahr gibt es keine Möglichkeit für unsere Helfer und unsere Hilfstransporte, in dieses Camp zu kommen. Der Zugang wurde von allen Seiten weitestgehend verwehrt. Jetzt spitzt sich die Situation natürlich nach den jüngsten Kämpfen weiter zu von Tag zu Tag. Die Menschen hungern, es fehlt an Nahrung, es fehlt an medizinischer Versorgung und Medizin, also an den grundlegenden Dingen, die man zum Leben braucht. Einziger Lichtpunkt ist, dass es mehreren Tausend palästinensischen Familien wohl gelungen ist, in benachbarte Stadtteile dieses Camps zu fliehen. Und dorthin konnten wir in den vergangenen Tagen mit unserer Schwesterorganisation, dem syrischen Arabischen Roten Halbmond mehr als 10.000 Lebensmittelpakete zumindest bringen, in diese Nachbarbezirke. Und außerdem wird derzeit versucht, zumindest die Wasserversorgung in diesen Stadtteilen für die geflüchteten Familien zu verbessern.
Welty: Was berichten die geflüchteten Flüchtlinge?
Schulthoff: Konkret gesagt, kann ich Ihnen dazu gar nichts sagen, dazu habe ich keine Informationen. Man kann sich sicherlich vorstellen, dass die Situation ohne die grundlegenden Dinge, die ein Mensch zum Überleben braucht, katastrophal sein müssen. Ich habe nur einzelne Fotos gesehen, wo Tausende Menschen an einem Punkt, an dem es mal gelungen war, ein wenig Hilfsgüter, das ist ein paar Monate her, hinzubringen, zwischen zerschossenen Ruinen lauern und abwarten und auf humanitäre Hilfe warten. Konkret kann ich Ihnen aber nicht sagen, was diese Menschen, die jetzt geflohen sind, gesagt haben.
Welty: Das Lager gibt es ja schon sehr lange, seit 1957, und es ist jetzt, während des syrischen Bürgerkriegs, immer wieder umkämpft. Die Vereinten Nationen wollen Jarmuk jetzt evakuieren. Halten Sie das für möglich nach Ihren Informationen?
Schulthoff: Wir sehen, dass es uns kaum gelingt, Hilfe in dieses Lager zu bringen. Ich habe keine Informationen dazu, dieses Lager in irgendeiner Form mal evakuieren zu können. Mit Sicherheit wäre das für die Menschen fantastisch. Wie Sie wissen, versuchen wir seit Jahren immer wieder, Genehmigungen zu kriegen und mit allen Parteien zu verhandeln, dass unsere Hilfskonvois, unsere Hilfsgüter, unsere Helfer des syrischen Arabischen Roten Halbmonds in das Lager kommen. Das machen wir weiterhin, wir verhandeln quasi täglich, dass wir Genehmigungen bekommen, um Hilfe dort reinzubringen. Wie konkret eine solche Idee umgesetzt werden kann, und zwar ziemlich zeitnahe, weil den Menschen muss jetzt geholfen werden, ist, glaube ich, fraglich.
Welty: Mit wem sprechen Sie denn da? Die Situation ist ja relativ unübersichtlich, auch auf syrischer Seite.
Schulthoff: Das ist das große Problem, das ist das grundsätzliche Problem, das das Rote Kreuz und der Rote Halbmond haben: Wo immer wir unsere Hilfsgüter im Land hin senden, müssen wir durch verschiedene Gebiete. Das bedeutet, in verschiedenen Gebieten sind auch verschiedene Konfliktparteien zuständig beziehungsweise haben sozusagen die Macht. Und um unsere Helfer sicher im Land unterwegs zu haben und die Hilfe zu den Menschen zu bringen, müssen wir eben mit ganz, ganz vielen verschiedenen Gruppierungen verhandeln und Genehmigungen erwirken, dass ein solcher Konvoi mit Hilfsgütern dann auch sicher durch die einzelnen Gebiete durch kann. Das ist sehr, sehr kompliziert.
Welty: Sucht man auch Gesprächspartner auf der Seite des Islamischen Staats?
Schulthoff: Es wird mit allen Seiten verhandelt, die das humanitäre Völkerrecht respektieren. Soweit ich weiß – ich bin selbst dort nicht an Verhandlungen beteiligt –, wird natürlich mit allen Konfliktparteien verhandelt, um letztendlich ja humanitäre Hilfe zu den Menschen zu bringen. Es gibt ganz klare internationale Richtlinien und Regeln für den Schutz von Zivilisten, und die müssen einfach respektiert werden. Und das bedeutet, dass diese Menschen ein Recht haben, humanitäre Hilfe zu bekommen und dass die humanitären Helfer geschützt werden müssen. Und das wird natürlich auch besprochen.
Welty: Erwarten Sie sich eine Verbesserung der Situation von dem, was die Palästinenser jetzt vorhaben, nämlich ein Bündnis zu schmieden mit Assad gegen den Islamischen Staat?
Schulthoff: Ich kann Ihnen zu dieser Frage wirklich gar nichts sagen, weil das geht in eine politische Richtung. Wie Sie wissen, sind wir eine sehr neutrale Organisation, und was in diesen Gesprächen besprochen wird, da kann ich Ihnen leider gar nichts zu sagen.
Welty: Was kann denn die Staatengemeinschaft darüber hinaus tun, außer jetzt mit den Beteiligten in der beschriebenen Form zu sprechen?
Schulthoff: Na, grundsätzlich muss die Hilfe einfach weitergehen. Es sind mehr als 11,5, 12 Millionen Menschen auf der Flucht. Innerhalb des Landes sind es 7,6 Millionen, die vertrieben sind. Also diese Menschen sind weiterhin auf internationale Hilfe angewiesen. Und das Deutsche Rote Kreuz hilft nun mittlerweile seit drei Jahren in Syrien selbst, aber auch in den Nachbarländern, und diese Hilfe werden wir natürlich fortsetzen. Speziell in Syrien unterstützen wir die logistischen Kapazitäten, damit Hilfe im Land überhaupt transportiert werden kann. Also wichtig ist, dass die internationale Hilfe nicht aufhört, sondern immens weitergeht.
Welty: Die Lage der Palästinenser in Jarmuk, beschrieben von René Schulthoff vom Deutschen Roten Kreuz. Ich danke für Ihre Einschätzung!
Schulthoff: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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