Flüchtlingselend auf Lesbos

Massive Proteste gegen eine planlose Regierung

06:37 Minuten
Ein Flüchtling trägt Holz auf dem Rücken, in einem provisorischen Lager neben dem Lager in Moria.
"Heimstätte des Elends": Flüchtlingslager Moria auf Lesbos © picture alliance / dpa / Angelos Tzortzinis
Thomas Bormann im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 26.02.2020
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Flüchtlinge hacken Olivenbäume ab und bauen daraus Hütten. So wuchert das Lager Moria auf Lesbos, die Lebensumstände der Geflüchteten sind katastrophal. Zugleich wächst die Wut der Inselbevölkerung auf die Athener Regierung, berichtet der Journalist Thomas Bormann.
Liane von Billerbeck: Moria, das ist der Name eines Flüchtlingslagers, das inzwischen berüchtigt ist. Gebaut für einst 3.000 Menschen, leben dort über 18.000 Asylbewerber.
Die konservative griechische Regierung will deutlich strikter gegen die Migranten vorgehen als ihre linke Vorgängerregierung, und sie plant den Bau geschlossener Lager auf mehreren griechischen Inseln. Dagegen gibt es massive, auch gewalttätige Proteste.
Thomas Bormann war vorige Woche auf Lesbos und hat sich angesehen, wo ein solches neues Lager gebaut werden soll. Das ist nämlich irgendwo im Niemandsland am Ende der Welt. Die Proteste dort gegen diesen Lagerbau, warum sind die so gewalttätig, warum sind die so heftig?

Mit der Geduld am Ende

Thomas Bormann: Weil die Inselbewohner mit ihrer Geduld am Ende sind. Sie haben jetzt seit vier Jahren auf ihren Inseln diese Lager, die praktisch von Woche zu Woche größer werden, chaotischer werden. Und die Inselbewohner sagen: Wir wollen nicht mehr hier die Heimstätte des Elends sein, wir leben vom Tourismus, und der Name unserer Inseln Lesbos, Chios, Samos, der ist inzwischen übertüncht von diesem Ruf, das sind doch die Flüchtlingsinseln, die Touristen kommen nicht mehr.
Die Inselbewohner haben eben kein Vertrauen in die griechische Regierung, dass in neuen Lagern die Situation besser wäre. Deshalb sagen sie: Wir können einfach nicht mehr, die alten Lager sollen weg, die neuen auch, die Flüchtlinge sollen auf dem Festland leben.
Billerbeck: Aber die Regierung plant neue Lager auf den griechischen Inseln. Wie sehen denn da die Pläne aus?
Bormann: Die sehen so aus, dass die Lager in sehr abgelegenen Gegenden sind. Auf Lesbos habe ich mir die geplante Stelle angeschaut. Ich musste einen Leihwagen nehmen, fast eine Stunde Richtung Norden fahren, und dann an der Küstenstraße an irgendeinem gottverlassenen Platz links abbiegen auf Feldwege, dann noch viereinhalb Kilometer über schlagloch-kaputte Feldwege den Hügel hochfahren. Und oben war dann so eine Freifläche, dort, wo jetzt noch Schafe weiden, und dort will die griechische Regierung ein eingezäuntes Lager für 7.000 oder 8.000 Menschen bauen.
In der Nähe ist auch eine Mülldeponie, und die Inselbewohner sagen: Erst mal ist es unmenschlich für die Leute, die darin leben, und zweitens macht ihr dann bei uns nicht nur den Tourismus kaputt, sondern auch noch die Existenzgrundlage für die Schafhirten, die dort sind.
Deshalb ist der Widerstand dort groß. Auch vergangene Nacht wieder haben sich Menschen dort versammelt und haben die Straße blockiert. Auch auf der Insel Chios sind diese Nacht wieder etwa 1.000 Menschen in einer Art Mahnwache unterwegs gewesen, um gegen den Bau neuer Camps zu protestieren.

18.000 Menschen statt 3000

Billerbeck: Nun habe ich das Lager Moria schon erwähnt, wo die Lage ja dramatisch ist. Statt 3.000 Menschen, die da hin sollten, sind es über 18.000. Wie ist da die Situation?
Bormann: Die Situation ist so, dass in diesem Lager tatsächlich 3.000, vielleicht 4.000 sind, und das Lager wuchert in die Umgebung hinaus. Man muss sagen, Moria ist nicht nur das Lager mit 18.000 Menschen, sondern 800 Meter neben dem Lager ist das schöne, gute, alte Inseldorf Moria mit 1.000 Einwohnern.
Der Bürgermeister von Lesbos und Bewohner der Ägäischen Inseln während einem Protest vor dem Innenministerium in Athen gegen die Errichtung von Auffanglagern für Flüchtlinge. Schriftzug "Nein zu Lagern". 13.02.2020 | Verwendung weltweit
Proteste: Der Bürgermeister von Lesbos und Bewohner wenden sich gegen unhaltbare Zustände auf ihrer Insel.© picture alliance / Robert Geiss
Und natürlich laufen ständig Flüchtlinge durch diesen Ort, noch sind die Lager ja offen, und die können spazieren gehen. Die Familien, die als neue Flüchtlinge ankommen, denen wird gesagt, ihr müsst selbst sehen, wo ihr unterkommt. Teilweise hacken die dann Olivenbäume ab und kaufen sich Plastikplanen oder bekommen irgendwelche Planen gestellt und bauen sich daraus Hütten.
Die Einwohner von Moria sagen auch: Wir halten das nicht mehr aus, dass hier rund um uns herum diese Slums entstehen, dass die Olivenbäume abgehackt werden. Es kommt auch vor, dass es dort kleinere Diebstähle gibt. Das wollen die Bürger von Moria und von der ganzen Insel Lesbos nicht mehr hinnehmen.
In diesen wilden Lagern, die entstehen, neben dem offiziellen Lager, gibt es kein fließend Wasser, kein Strom, keine Elektrizität. Es gibt viel Gewalt, auch unter den Flüchtlingen.
Nachts oder wenn es regnet, es ist furchtbar, Frauen haben mir erzählt, sie trauen sich nachts nicht auf Toilette zu gehen, die Toiletten sind eh nur irgendwelche Container am Rande dieser Siedlung, aufgestellt von Hilfsorganisationen. Das sind wirklich erbärmliche Zustände dort.

Asylverfahren werden über Jahre verschleppt

Billerbeck: Nun fragt man sich, warum die Flüchtlinge nicht auf das Festland, auf das griechische, gebracht werden, und vor allem, was mich am meisten interessiert: Warum helfen die anderen EU-Staaten nicht und lassen die Griechen und vor allen Dingen die griechischen Inseln damit so allein?
Bormann: Also die EU, die überweist Geld und kauft sich damit quasi frei. Die EU hat außerdem den EU-Türkei-Flüchtlingsdeal seit vier Jahren, und da steht drin, dass die Flüchtlinge, die vom türkischem Festland auf griechischen Inseln ankommen, dass die dort auf den Inseln bleiben müssen, bis entschieden ist, ob sie Asyl bekommen oder nicht.
Man will verhindern, dass die Flüchtlinge quasi ungeprüft gleich auf das Festland können und möglicherweise weiterziehen Richtung EU. Man hält sie dort fest, bis das Asylverfahren geprüft ist. Deshalb bleiben sie dort. Das dauert bisher Monate, manchmal Jahre.
Die neue Regierung verspricht: Wir werden das jetzt innerhalb von drei Monaten entscheiden. Das glaubt aber hier bisher niemand, bis das nicht wirklich bewiesen ist. Nach diesen drei Monaten sollen dann die, die nicht bleiben dürfen, abgeschoben werden, zurück in die Türkei, und die anderen tatsächlich in die EU weiterverteilt werden.
Dazu wäre die EU auch bereit, aber nur, wenn es tatsächlich diese Asylverfahren gibt. Das ist bisher die Krux: Vier Jahre lang hat es überhaupt nicht geklappt. Ob es jetzt klappt, glaubt niemand so wirklich so richtig.
Aber die griechische Regierung sagt: Doch, wir schaffen das jetzt, und wir werden die Flüchtlinge hier kurzzeitig menschenwürdig unterbringen, und danach, wenn über ihren Status entschieden ist, dann kommen sie entweder nach Europa oder zurück in die Türkei.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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