Flüchtlingsdiskussion auch in Polen

Von Martin Sander |
Im Herbst 1939 wurde der Westteil Polens dem Deutschen Reich einverleibt. Hunderttausend Polen mussten fliehen. Bisher spielte das Schicksal dieser Flüchtlinge nur ein Schattendasein in der geschichtlichen Aufarbeitung Polens. Doch im Zuge der deutschen Flüchtlingsdiskussion ändert sich dies: Ein Spielfilm soll nun das Schicksal der polnischen Flüchtlinge schildern.
"Als ich in jungen Jahren die Geschichten meines Vater gehört habe, ebenso wie die von anderen Verwandten und Bekannten fortgeschrittenen Alters, da gingen mir diese Geschichten, wie wahrscheinlich auch den meisten jungen Deutschen, zum einen Ohr herein und zum anderen wieder heraus. Doch je älter ich wurde - jetzt bin ich 54 Jahre alt - umso mehr fing ich an, über die Vergangenheit nachzudenken, nicht um mich in Betrachtungen zu verlieren, oder alte Wunden aufzureißen, sondern um die Fehler zu vermeiden, die unsere Eltern oder Großeltern begangen haben."

Lech Makowiecki ist ein Mensch mit vielfältigen Interessen und Begabungen. Er hat Schiffsbau studiert und in Danzig als Ingenieur gearbeitet. Später wandte er sich der Unterhaltungsmusik zu und genießt als Komponist und Songwriter inzwischen Popularität. Derzeit schreibt er das Drehbuch zu einem Film, der vom Schicksal seiner Familie handelt - und damit ein wichtiges Kapitel des Zweiten Weltkriegs ausleuchtet: Die Vertreibung von Polen durch die Deutschen während der Okkupation.

Schauplatz ist die Gemeinde Rypin, etwa fünfzig Kilometer östlich der Stadt Thorn. Dort lebten bis zum September 1939 vorwiegend Polen, aber auch etliche Juden und einige Deutsche.

"Auch in dem Dorf meines Großvaters gab es einige deutsche Familien, mit denen man sich im Alltag gegenseitig Pferd oder Pflug auslieh, sich gemeinsam beim Tanz amüsierte. Der Ausbruch des Krieges machte dann das Leben zwischen den Menschen, die kurz zuvor noch Nachbarn gewesen waren, zur Hölle. Das kommt einem ganz unwahrscheinlich vor, hat aber seine historischen Gründe."

Im Herbst 1939 wurde der Westteil Polens dem Deutschen Reich einverleibt. Das Gebiet sollte vollständig germanisiert werden. Wer als Pole in seiner Heimat bleiben wollte, wurde gezwungen, die sogenannte Volksliste zu unterschreiben, um sich auf diese Weise zum Deutschen zu erklären. Der Großvater von Lech Makowiecki verweigerte die Unterschrift. Deshalb vertrieb man ihn von Haus und Hof - so wie Hunderttausende seiner Landsleute.

"Um Mitternacht fiel eine Abteilung des deutschen 'Selbstschutzes' ein, sie hatten rund zehn Minuten Zeit, die nötigsten Sachen zu packen. Mein Großvater verließ mit seiner Frau und vier Kindern auf einem Pferdewagen sein Haus, das daraufhin von einem deutschen Bauern in Besitz genommen wurde. Dann wurde mein Großvater per Eisenbahn nach Thorn gebracht und dort einige Monate festgehalten. Später gelang es meinem Vater zu fliehen, mein Großvater aber starb, er geriet in einen Konflikt mit seinen deutschen Wächtern, wurde sehr heftig geschlagen und erlag kurz darauf seinen Verletzungen. Das ist, kurz gesagt, die Geschichte seiner Vertreibung."

Mit seinem Filmprojekt greift Lech Makowiecki ein Thema auf, das in Polen bis vor kurzem ein Schattendasein führte. Die Vertreibung der Polen galt nur als ein untergeordneter Gesichtspunkt deutscher Kriegsverbrechen, während die von Stalin angeordneten Zwangsumsiedlungen der polnischen Bevölkerung aus den Ostgebieten ganz und gar tabuisiert wurden. Erst seit den neunziger Jahren erforschen polnische Historiker die Vertreibung der Polen in allen Facetten. Das öffentliche Interesse an diesem Thema steht nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem hierzulande derzeit gepflegten Diskurs zur Vertreibung der Deutschen, der von den polnischen Medien genau beobachtet wird.

"Ich denke schon, dass es eine gewisse Rückkopplung gibt, aus dieser deutsch-polnischen Diskussion heraus auch die Frage zu stellen, was ist eigentlich mit den polnischen Vertriebenen geschehen."

Andreas Kossert ist stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Warschau:

"Und vor allen Dingen: Wie unterschiedlich verliefen die Vertreibungsvorgänge in Polen. Die beginnen eben 1939, gehen dann durch die gesamte Besatzungszeit hindurch und finden dann einen Höhepunkt mit der Annexion der ostpolnischen Gebiete durch die Sowjetunion und der Vertreibung von Millionen Polen in das Restpolen, das dann 1945 übrig geblieben ist."

Im Sommer 2008 hat das öffentliche polnische Fernsehen einen Drehbuchwettbewerb unter dem Titel "Die Vertreibung der Polen durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg" ausgeschrieben, an dem sich über einhundert Autoren beteiligten. Eines der prämierten Projekte ist das Vorhaben von Lech Makowiecki. Nach seinem Drehbuch soll wenn möglich noch 2009 mit den Aufnahmen zu einem Spielfilm begonnen werden, der dann auch in die Kinos geht. Zusätzlich soll aus dem Filmmaterial eine TV-Serie entstehen.

Sein Drehbuch will Makowiecki nicht mit dem tragischen Tod des Großvaters enden lassen, sondern die Familiengeschichte weiterführen. Denn sein Vater musste während des Krieges bei einem deutschen Bauern Zwangsarbeit leisten und floh gegen Kriegsende gemeinsam mit diesem Bauern vor der Roten Armee. Durch den Vater erscheint Vertreibung also einmal aus polnischer und einmal aus deutscher Perspektive. Keinesfalls wolle er mit seinem Film eine historische Anklage gegen Deutschland erheben, betont Makowiecki.

"Ich versuche, mich bei meinem Projekt ganz auf die historische Wahrheit zu stützen, auf das Quellenmaterial. Alles, wovon der Film erzählen wird, ist historisch belegt. Dabei möchte ich nicht, dass dieser Film irgendwie antideutsch wird, sondern ich verstehe ihn als eine Warnung vor Faschismus, Kommunismus und anderen Formen des Fanatismus."

Das polnische Fernsehen verspricht sich durch das Thema Vertreibung im Spielfilm nicht zuletzt kommerziellen Erfolg. Und es setzt dabei zugleich auf internationale Resonanz, zumal in Deutschland, wo viel über Vertreibung debattiert wird, der erzwungene Heimatverlust von Polen jedoch kaum bekannt ist.