Flüchtlinge

Wer hat Walter Benjamin getötet?

Am Rande einer Kundgebung gegen eine Demonstration der Thüringer NPD malt ein Kind mit Kreide in Eisenach Bilder gegen Nazis auf die Straße.
Am Rande einer Kundgebung gegen eine Demonstration der Thüringer NPD malt ein Kind mit Kreide in Eisenach Bilder gegen Nazis auf die Straße. © picture alliance / dpa / Martin Schutt
Von Ahmad Milad Karimi · 31.08.2015
Europa ist mit der europäischen Idee überfordert, weil es Flüchtlinge als zu verwaltendes Problem betrachtet, meint der Islamwissenschaftler Ahmad Milad Karimi. Er erinnert an Deutschlands Vergangenheit - und Walter Benjamins Flucht vor den Nazis.
Von dem deutschen Philosophen Walter Benjamin ist der Gedanke überliefert, dass die Maske des Erwachsenen die Erfahrung sei. Walter Benjamin wurde von seiner deutschen Heimat verraten, in die Flucht getrieben. Ja, er wurde zu einem Flüchtling. Mehr noch: im spanischen Grenzort Portbou nahm er sich das Leben.
Dass Menschen ausgerechnet nach Europa flüchten als einem Ort des Friedens und der Freiheit, dass Deutschland "dem gelobten Land" gleicht, wäre für Benjamin zumindest in der Nacht vom 26. September 1940 kaum denkbar gewesen.
Doch wir vergessen gern, wer wir waren und wie wir wurden, was wir sind. Der Krieg scheint seit 1945 nicht mehr europakonform zu sein. Er ist immer anderswo. Selbst der Völkermord in Srebrenica wirkt fremd und klingt fern - nach 20 Jahren. Wir haben Frieden; und wenn wir unsere Werte verteidigen, dann am Hindukusch.
Grenzen entscheiden über Menschenrechte
Die Menschenrechte sind uns heilig – zu Recht! Doch wer ist Mensch? Genauer: Wer entscheidet, wer Mensch sein darf, wer leben darf und wer eine Zukunft haben soll? Die Antwort ist erstaunlich schlicht: es sind immer die, die Grenzen ziehen, die sich durch Abgrenzung identifizieren. Die Idee, dass alle Menschen eine unantastbare Würde haben, stimmt nicht mit der Wirklichkeit überein.
Europa ist mit der europäischen Idee überfordert, weil es Flüchtlinge als zu verwaltendes Problem betrachtet, nicht als Menschen. Deutschland gehört uns, hören wir. Und die das sagen, hätten am liebsten, wenn hierzulande überhaupt kein Flüchtling wäre.
Eine rechteckige Stahlplatte markiert auf dem Friedhof von Port Bou das Denkmal "Passagen" von Dani Karavan, das an den deutschen Literatur- und Kulturkritiker und Essayisten Walter Benjamin erinnert.
Eine rechteckige Stahlplatte markiert auf dem Friedhof von Port Bou das Denkmal "Passagen" von Dani Karavan, das an Walter Benjamin erinnert.© picture alliance / dpa / Scheurmann
Tatsächlich sind Flüchtlinge traumatisiert, verwundet, geschwächt. Menschen der ersten Ordnung müssen aber intakt sein, funktionieren. Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, fühlen sich wie Helden, als hätten sie es geschafft. Aber das erhebende Gefühl wird rasch korrigiert.
Die eigentliche Flucht beginnt mit der Ankunft, mit der erschütternden Einsicht, dass sie eigentlich vor sich selbst fliehen und niemals ankommen werden, niemals mehr Frieden finden können in einer Welt, die Krieg schafft. Ist nicht jeder Krieg ein Weltkrieg? Ist nicht jeder Mensch letztlich einer wie wir? Ist nicht im Antlitz eines jeden Flüchtlings Walter Benjamin zu erblicken?
Flüchtlinge erinnern an europäische Ideale
Immer wieder erreichen uns die Folgen ferner Kriege, platzen in unseren Alltag und wühlen den inneren Frieden auf. So zeigt der Krieg sein wahres Gesicht - wie Müll, der im Meer entsorgt wurde und doch vor unserer Haustür strandet. Das ist uns unerträglich, primär nicht deshalb, weil Flüchtlinge belästigend wirken, sondern weil wir durch sie erinnert werden, was wir getan haben, wer wir sind.
Es sind nicht einfach Fremde, die plötzlich unser Leben teilen. Vielmehr kommen uns Menschen nahe, die auch wir zu Flüchtlingen gemacht haben, die wir sonst nur der Zahl nach aus den Nachrichten kennen, wenn wieder einmal berichtet wird, wie viele in Syrien oder Irak getötet oder verletzt wurden, ihr Dorf oder ihre Stadt verlassen mussten.
Ohne Namen, ohne Antlitz scheinen Flüchtlinge zu den "Anonymen" der Geschichte zu gehören. Nicht die Erfahrung mit der Flucht erweckt uns zum Guten, denn sie ist nur Maske, leblos und verschwommen, sondern die Begegnung, die Berührung mit dem Fremden, die wir sooft selbst sind.
Je mehr wir von ihnen Abstand halten, desto mehr verstricken wir uns in ihr Schicksal, in die Gewissensfrage: Wer hat in Wahrheit Walter Benjamin getötet?

Ahmad Milad Karimi, geboren 1979 in Kabul; Studium der Philosophie und Islamwissenschaft an der Universität Freiburg; seit dem Wintersemester 2012/2013 Professor für Kalām, islamische Philosophie und Mystik an der Universität Münster. Zuletzt erschienen von ihm "Osama bin Laden schläft bei den Fischen. Warum ich gern Muslim bin und wieso Marlon Brando damit viel zu tun hat".

Der Islamwissenschaftler und Philosoph Milad Karimi
© Peter Grewer
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