Flüchtlinge in Litauen

Lukaschenkos Rache

23:26 Minuten
Ein junger Mann steht in einem Flüchtlingslager hinter einem Zaun.
Gestrandet in Litauen: ein Flüchtlingslager im Bezirk Alytus in der Nähe zur Grenze nach Belarus. © picture alliance / dpa / Sputnik / Valdemar Doveiko
Von Markus Nowak · 16.08.2021
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In Litauen leben rund drei Millionen Einwohner. Seit Mai kamen etwa 4000 Flüchtlinge illegal über die Grenze von Belarus dazu. Die Mehrheit kommt aus dem Irak – offenbar angelockt von Versprechen des belarussischen Präsidenten Lukaschenko.
Ein paar Minuten Fußweg entfernt von der Kathedrale in Vilnius ist der Sitz der litauischen Regierung. Vor gut zwei Wochen gab es hier ein kurios anmutendes Happening – mit Gebeten, Volksliedern und Menschen, die bunte Trachten trugen.
Slogans, auf Plakaten hochgehalten, gaben die Richtung der Veranstaltung vor: "Die Regierung, das sind wir Bürger" oder "Die Politik sollte sich um die Interessen ihrer Bürger kümmern". Auf dem Podium: Politiker, die gegen ein Flüchtlingslager im Dorf Dieveniškės protestierten.

Litauen erlebt gerade eine Migrationskrise. Seit Mai überqueren immer mehr Migranten illegal die grüne Grenze zwischen Litauen und seinem Nachbarland Belarus im Süden, und werden von litauischen Grenzbeamten festgenommen. Ein Land mit knapp drei Millionen Einwohnern hat so bis Anfang August bereits 4000 Flüchtlinge aus Nicht-EU-Staaten aufgenommen. Mehr als 40 Mal so viele wie gewöhnlich.

Litauen blickt sorgenvoll auf die Grenzübertritte

Nicht nur in den Medien, sondern auch in der Politik Litauens blickt man derzeit voller Sorge auf die illegalen Grenzübertritte, sagt Arnoldas Abramavičius, stellvertretender Innenminister.
"Wir sehen darin eine hybride Attacke. Unser Nachbar Belarus hatte schon vor einiger Zeit einen Strom von Migranten angekündigt. Die Menschen werden nach Belarus gebracht und gehen dann illegal über die Grenze. Noch bis vor wenigen Tagen sind die Zahlen immer weiter gestiegen. Als die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, vor Kurzem da war, hatten wir die Höchstzahl von mehr als 200 illegalen Grenzübertritten an einem Tag!! Danach ist die Zahl gefallen. Jetzt ist es nicht mehr erlaubt, die Grenze zu überqueren, unsere Grenzbeamten sind angehalten, das zu verhindern. Sie leiten die Migranten jetzt zu offiziellen Grenzübergängen."


Was das genau bedeutet, dazu später mehr. Ich entschließe mich zunächst, nach Dieveniškės zu fahren. Gut eine Autostunde südlich von Vilnius entfernt, Richtung belarussisch-litauischer Grenze. Hier liegt das Dorf in einem litauischen Landeszipfel, der gut 20 Kilometer ins belarussische Staatsgebiet hineinragt. Um hierher zu kommen, muss ich einen litauischen Checkpoint passieren, bei dem das Militär die Ausweisdokumente kontrolliert.
Die Region gehörte einst zu Polen. Unter den 700 Einwohnern, die heute hier leben, sind nur wenige Litauer, dafür vor allem Polen und Belarussen. Gesprochen wird ein Mischdialekt aus beiden Sprachen, und auf die Frage, ob sie von der Migrationskrise etwas mitbekommen, antwortet etwa Marija, die gerade aus dem örtlichen Laden herauskommt.

"Wir waren alle gegen das Lager"

"Sie gehen durch unser Dorf, sie gehen durch unsere Wälder. Aber was wollen Sie machen, jeder ist auf der Suche nach einem besseren Leben. Ob ich Angst habe? Wenn man mit Gott lebt, dann kann nichts Schlimmes passieren. Aber gegen das Lager, das man hier errichten wollte, waren wir alle."
Die Bewohner blockierten das Gebäude, in dem mutmaßlich die Migranten untergebracht werden sollten. Um zu schlichten, fuhr eigens Staatspräsident Gitanas Nausėda hierher und sprach mit den Einwohnern. Überzeugen konnte er die Menschen aber nicht, sagt die Lehrerin Tatjana.
"Um uns herum ist die Grenze und wir sind umgeben von Belarus. Aber wir haben uns daran gewöhnt, es gab keine Probleme, es war ruhig. Bis die Migranten kamen. Die Menschen haben die Grenze einfach so passiert, denn es gibt ja keinen Zaun. Und wir wussten nicht, was wir von ihnen erwarten sollten. Sie haben ja keine Dokumente, sie sagen nicht, wer sie sind. Wir haben ein Treffen hier im Ort organisiert, um die Situation zu besprechen. Denn wir haben Angst! Es wurde gesagt, das Lager soll nur 20 Meter von der Schule entstehen. Gleich dahinter. Wir haben Angst um unsere Kinder – dass zum Beispiel an der Schule bewaffnete Grenzbeamte stehen und das Lager bewachen. Kinder sollten das nicht sehen. Und Kinder sollten auch nicht sehen, wie Menschen hinter Zäunen leben."

Es ist nicht ganz zufällig, dass Lukaschenko die Flüchtlinge nach Litauen schickt, sagt unser Brüsseler Korrespondent Michael Schneider. Litauen sei eines der heftigsten Kritiker von Lukaschenko und beherberge viele belarussische Oppositionelle. Doch Lukaschenko sei nicht zimperlich, die EU unter Druck zu setzen, und habe auch schon Lettland ausgeguckt. Schneider weist daraufhin, dass die gut 36 Millionen Euro, die die EU für Litauen zur Verfügung stellt, für Zelte, Decken, medizinische Versorgung gedacht sind. Das ganze Interview hören Sie am Ende dieser Weltzeit.

Ein älterer Mann im Anzug sitzt in einem Konferenzraum.
© imago images / Pavel Orlovsky / BELTA/ TASS
Von einem neuen Phänomen für Litauen spricht Vaidotas Beniušis, Chefredakteur des Internetnachrichtenportals "15 Minuten".
"Wir hatten bisher keine Migrantenlager in Litauen, die Menschen kennen das nur aus dem Fernsehen. Die Gesellschaft ist recht homogen, die meisten sind katholisch, und auch die Minderheit der Polen und Russen sind Christen. Es gibt kaum andere Ausländer. Und so sind die Menschen ängstlich, wenn sie etwas Neues erfahren. Das ist eine quasi natürliche Reaktion. Was man nicht kennt, davor hat man Angst.
Die Regierung hat dazu gelernt, sie spricht jetzt mit den Bewohnern. Das hatte man vorher versäumt. Und wie bei allen Krisen können wir hier sehen, dass es Politiker gibt, die das ausnutzen. Auch das ist quasi natürlich. Etwa kleine rechte Parteien, die ihre Stimme erheben. Oder die Polenpartei, die in einigen Kommunen regiert. Sie hat sich zusammen getan mit den sogenannten ethnischen Litauern und die fordern eine härtere Hand gegen Migration."

Nur ein litauischer Parlamentarier will reden

Meine Anfragen bei Abgeordneten der Polen-Partei AWPL, die zuvor in litauischen Medienberichten lautstark gegen Migranten protestierten, werden nicht beantwortet. Auch litauische Nationalisten wollten mir kein Interview geben. Von mehreren Abgeordneten des litauischen Parlaments, dem Seimas, meldet sich als einziger Tomas Raskevičius auf meine Anfrage zurück. Er gehört der mitregierenden liberalen Freiheitspartei an, ist Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses und setzt sich offen für quere Menschen ein, was eine Seltenheit in der litauischen Öffentlichkeit ist.
"Ich stelle mich zum jetzigen Zeitpunkt hinter die Reaktion unserer Regierung. Denn was wir sehen, ist eine koordinierte Attacke durch die belarussischen Machthaber, die Menschenhandel als Instrument dafür nutzen, die litauische, aber auch die europäische Haltung zu Belarus zu verändern und ihre Sanktionspolitik zu beenden."
Tomas Raskevičius ist es wichtig, dieses Statement voranzustellen, bevor er kritisch fortfährt:
"Als Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses bin ich zugleich sehr darauf bedacht, ob die von Litauen angewandte Politik auch die Menschenrechte der Migranten einhält. Ich meine die sogenannten Pushbacks. Die litauische Seite ist da sehr transparent, dass man Pushbacks nun einsetzt, und dass man etwa in der ersten Nacht 200 Pushbacks durchgeführt hat und die Nacht drauf noch mal 300.
Mein Rat an unsere Führung ist, dass man dabei keine Gewalt anwendet und den Menschen auch die Möglichkeit gibt, Asyl zu beantragen. Auch, dass man bei den Pushbacks aufzeichnet, wo es dazu kommt, wie viele Menschen zurückgedrängt werden und auch auf welche Weise. Denn mit Sicherheit werden internationale Organisationen wie die UN oder der Europarat darauf schauen. Mir ist es wichtig, alles transparent zu machen und auch, dass Pushbacks nicht gegen Frauen und Minderjährige angewendet werden."


Dass Letzteres tatsächlich eingehalten wird, zeige sich daran, dass weiterhin 30 bis 40 Migranten am Tag einreisen, sagt Tomas Raskevičius, der im litauischen Parlament sitzt.
Hinter einem Zaun stehen mehrere Zelte in einem Aufnahmelager.
"Kinder sollten auch nicht sehen, wie Menschen hinter Zäunen leben." – Das Aufnahmelager in Rudininkai im Südosten von Litauen.© Deutschlandradio / Markus Nowak
Die litauische Innenministerin Agne Bilotaite hat vor zwei Wochen angekündigt, die belarussisch-litauische Grenze geschlossen zu halten. Arnoldas Abramavičius, stellvertretender Innenminister, verteidigt die Maßnahme.
"Die Migranten werden zurückgedrängt auf die belarussische Seite oder zu den Grenzübergängen umgeleitet. Diese können sie ja nutzen. Man weiß ja nicht, ob sie als belarussische Touristen bei uns Asyl wollen oder sich an der Grenze verirrt haben. Es ist ein Weg, wie wir die Grenze schützen."

Bisher brauchte die Grenze zu Belarus keinen Zaun

Ich bin in der Nähe der belarussisch-litauischen Grenze, die heute weitgehend in einem Waldgebiet liegt. Auf einem gelben Schild steht in mehreren Sprachen: "Valstybes Sienos Absaugos Zona" – "Sicherheitsgebiet der Staatsgrenze".
Diese Markierung existiert seit dem Zweiten Weltkrieg – damals waren Belarus und Litauen zwei Sowjetrepubliken, die keine Sicherung brauchten. Das ist spätestens seit 2004 anders: Seitdem ist es eine EU-Außengrenze und erfordert spätestens seit dem Schengen-Beitritt Litauens 2007 eine wirkungsvolle Abwehr von Migranten.
Durch die aktuellen Ereignisse alarmiert, will Litauen nun durch einen Zaun für mehr Sicherheit sorgen, erklärt der stellvertretende Innenminister Abramavičius. 1,80 Meter hoch soll der Zaun werden und noch bis Ende des Jahres fertig sein. Die 679 Kilometer lange Grenze zu Belarus wird dann mit Stacheldraht geschützt. Mit dem Segen, aber vorerst nicht mit dem Geld der EU.


Andrzej Pukszto ist Politikwissenschaftler an der Universität Kaunas. Ihn erinnern die Pushbacks und der Grenzzaun an die vielmals kritisierte Politik von Viktor Orban im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 – und doch sieht er Unterschiede.
Eine Frau mir kurzen Haaren steht vor einer EU-Flagge.
EU-Innenkommissarin Ylva Johansson hat Litauen Unterstützung signalisiert.© picture alliance / AA / Alexandros Michailidis / Pool
"Orban sprach von dem Grenzzaun nicht nur im Sinne einer physischen Grenze, sondern ähnlich wie Donald Trump von einer Grenzwand als einem geistigen Symbol – wir grenzen uns ab und es interessiert uns überhaupt nicht, wer an unsere Grenze kommt. Unsere Regierung schottet sich mit ihrem aktuellen Handeln einerseits ab und sagt damit: Wir sind so besonders, da soll niemand rein! Andererseits hat Litauen sehr viele politische Flüchtlinge aufgenommen, zum Beispiel die Oppositionsbewegung aus Belarus! Litauen sagt also nicht, wir machen einen Grenzwall und es ist uns egal, was dahinter passiert. Man versucht vielmehr, einen Ausweg aus der Situation zu finden."
So etwas haben wir noch nie gehabt, sagt Jovita Sandaitė von der Internationalen Organisation für Migration IOM der Vereinten Nationen. Und dabei gehe es nicht nur darum, praktische Lösungen zu finden wie: Wo bringt man die Flüchtlinge hin, wo können sie bleiben.

Die Sicht auf Migranten muss sich ändern

"Es geht auch darum, wie man die Sicht der Gesellschaft auf die Migranten verändert. Dass man auch Dinge findet, wo wir uns ähneln und nicht nur unterscheiden. Wir sollten uns vor Augen führen, dass auch die Litauer massenweise ausgewandert sind, als wir 2004 der EU beigetreten sind. Oder dass diese Menschen aus Ländern stammen, in denen es bewaffnete Konflikte gibt. Auch das kennen wir hier in Litauen aus der Vergangenheit. Beides ist ein Lernprozess."
Nachdem ich mehrere Tage von Frontex und den litauischen Grenzschützern hingehalten wurde, um bei einer Grenz-Patrouille mitzufahren, wird mir immerhin erlaubt, ein Migrantencamp zu besichtigen.

In Rudininikai, eine halbe Autostunde von der Hauptstadt Vilnius entfernt, wurde auf dem Truppenübungsplatz eine provisorische Zeltstadt errichtet, schnell Zäune gezogen und darin rund 600 Menschen untergebracht.
Der Anblick ähnelt dem, was man aus dem Fernsehen kennt. Viel Staub und Dreck, vor allem junge Männer sprechen auf Arabisch. Zahlreiche Männer versuchen, mich anzusprechen, wollen ihre Geschichte erzählen.
Einer der Männer am Zaun heißt Leman, ist 27 Jahre alt, Business-Student aus dem Irak und spricht daher gut Englisch. Er bestätigt die von den Medien recherchierte Route.

"Wir haben uns selbst auf den Weg gemacht"

"Ich kam mit dem Flugzeug von Bagdad nach Belarus. Und dann sind wir zur Grenze und haben sie überquert. Das machen die meisten. Wieso? Weil die Menschen den einfachsten Weg wählen und der ist nun über Belarus nach Litauen, vorher war es von der Türkei nach Griechenland. Die Litauer glauben, der belarussische Präsident hat uns hergebracht. Aber das ist nicht der Fall. Wir haben uns selbst auf den Weg gemacht und haben das gewählt. Ich weiß, es gibt da einen Konflikt zwischen den Ländern, aber von uns allen hat jeder seine eigene Geschichte und Ursache, und für uns Iraker war es der einfachste Weg."
Auf dem Weg zurück nach Vilnius komme ich an Rudininkai vorbei, einem Dorf, das wegen der vielen Holzhäuser ein Freilichtmuseum sein könnte. An manchen Zäunen hängen die gleichen Plakate wie schon in Dieveniškės, wo die Einwohner mit Erfolg gegen ein Migrantencamp protestiert haben. Hier allerdings steht das Lager einige Kilometer weiter weg im Park. Dennoch seien vor einigen Tagen hier Migranten aus dem Camp gesehen worden, sagt Bronislaw, einer der Einwohner. Sie seien von den Beamten gleich geschnappt worden.

"Nicht nur nachts, auch tagsüber sperren wir jetzt die Türen ab. Mein Schwager arbeitet in dem Lager und er fragte einen, wieso sie nach Litauen wollten. Einer konnte Russisch und sagte, ihnen seien hier Wohnungen, Arbeit und gutes Geld versprochen worden. Sie haben es geglaubt. Es ist die gleiche Geschichte wie die von meinem jüngsten Sohn. Er hat die Schule beendet und ist nach England emigriert. Ihm wurde eine Wohnung und Arbeit versprochen, und als er mit dem Bus dort ankam, wurden 24 von ihnen in eine Baracke gesteckt. Klar, er kann jetzt Englisch und ist nun seit 16 Jahre da."
Ein Plakat gegen Flüchtlinge hängt an einem Gartenzaun in einer Ortschaft.
Ein Plakat gegen Flüchtlinge in der Ortschaft Rudininkai.© Deutschlandradio / Markus Nowak
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