Flüchtlinge in der Schule

Dreizehn Kinder, elf Nationen, eine Sprache

Kinder sitzen in einem Klassenraum und hören der Lehrerin zu.
Bis zu zwei Jahre dürfen die ausländischen Kinder in Bayern in einer Übergangsklasse bleiben. © dpa/ picture-alliance/ Caroline Seidel
Von Michael Watzke · 07.10.2015
Seit zwei Wochen läuft in Bayern wieder der Unterricht, und an vielen Schulen sitzen Flüchtlingskinder in sogenannten Übergangsklassen. Für die Kinder bedeutet das eine große Anstrengung. Für die Lehrer aber auch. Ein Unterrichtsbesuch.
Feuer-Alarm in der Grundschule an der Simmernstraße in München-Schwabing. Die meisten Schüler lachen und lärmen - sie wissen, die Sirene ist nur ein Probealarm. Bei einigen Kindern weckt das Warnsignal jedoch Erinnerungen. Sie stehen schüchtern in Zweierreihen auf dem Schulhof. Sie heißen ...
"Arash!"
"Kassandra!"
"Abdelraschid!"
"Shaheed!"
"Umit!"
"Hannah!"
"David!"
"Robert!"
"Adriana!"
"Anastasia!"
"Yoyo!"
Die Übergangsklasse 3 der Simmern-Schule. 13 Kinder, 11 Nationen, erklärt Lehrerin Claudia Litwin:
"Wir haben Afghanistan, Taiwan, Somalia, Syrien, Rumänien, Spanien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, Bulgarien ... Ich glaube, jetzt haben wir so ziemlich alle."
Die Kinder horchen auf, wenn sie Ihr Land hören. Sie lächeln unter Kopftüchern und durch Zahnlücken. Sie sind zwischen sechs und neun Jahre alt und alle haben eines gemeinsam: sie sprechen kaum Deutsch.
Mit Gesang und Gesten Deutsch lernen
Frau Litwin, wie die Kinder ihre Lehrerin rufen, setzt in ihrem Unterricht vor allem auf Mimik, Gestik und Gesang:
"Hallo, hallo, guten Morgen! Hallo, wie geht's? Danke, gut! Hallo, wie geht's? Nicht so gut! Hallo, wie geht's? Danke, es geht! Hallo, wie geht's? Wunderbaaaar!"
Die Kinder recken ihre Daumen in die Luft. Sie haben Glück - nicht nur mit ihrer engagierten Lehrerin, sondern auch mit der Klassenstärke. Zwölf Mitschüler - das ist vergleichsweise übersichtlich.
"Es kann bis zu über 20 gehen. Die Kinder sind zwischen sechs und zehn Jahren alt. Kommen aus ganz unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen Hintergründen. Von inner-europäischen Migranten über Kriegsflüchtlinge, die traumatisiert sind. Aber wir haben auch Akademiker-Kinder dabei. Wir haben eine sehr breite Spanne."
Das macht den Unterricht für Lehrerin Litwin spannend, aber auch anstrengend. Die 38-Jährige will allen Kindern gerecht werden, ohne einige von ihnen zu über- oder unterfordern.
"Ich komme aus Deutschland. David, woher kommst Du?"
"Ich komme aus Rumänien, woher kommst Du?"
"Ich komme aus Deutschland. Arash, woher kommst Du?"
" Ich komme aus Afghanistan."
"Aus Afghanistan, sehr gut."
Bis zu zwei Jahre lang dürfen Flüchtlingskinder in Bayern in einer sogenannten Übergangs-Klasse bleiben. Hier lernen sie vor allem Deutsch - egal, ob im Mathe-, Sachkunde- oder Sport-Unterricht. Sobald sie sprachlich weit genug sind, kommen sie in eine Regelklasse. Dort müssen sie dem normalen Unterricht folgen - was einige überfordern kann, erklärt Schulleiterin Gabriele Feichtmeier auf dem Schulhof:
"Das passiert natürlich schon mal. Aber da wir das auf Probe machen und schauen, dass die erstmal schnuppern, ist das eigentlich kein Problem. Wenn es wirklich so sein sollte, dass es nicht funktioniert, gehen sie halt nochmal zwei, drei Monate in die Übergangsklasse zurück. Und dann probiert man es nochmal."
In anderen Bundesländern stößt das Konzept der Übergangs- oder Willkommensklassen auch auf Kritik. Die Kinder würden dort zu lange unter sich bleiben, nicht schnell genug integriert. Momentan sind das Luxussorgen für die Pädagogen in München. Denn die große Einschulungswelle kommt erst noch - Flüchtlingskinder werden in Bayern erst drei Monate nach ihrer Ankunft schulpflichtig. Anfang November rechnet Schulleiterin Feichtmeier mit akutem Mangel an Lehrern und Klassenzimmern.
"Um die aufzunehmen, sind wir schon an der Grenze. Also wir haben wirklich nicht einen einzigen Raum, nicht mal einen kleinen Raum. Wir haben auch keine Ausweichräume, in die man noch eine kleine Klasse oder Gruppe setzen könnte."
Lehrer brauchen viel Kraft und Zeit
"Welches Wort hast Du noch gefunden, Maissa?"
"Bus, äh, Buch!"
"Ist es der, die oder das Buch?"
"Das Buch!"
"Richtig. Mein Freund liest das Buch!"
Deutsch-Unterricht in der Übergangklasse 5 an der Mittelschule Simmernstraße in München. Die Mädchen und Jungen hier sind zehn und elf Jahre alt. Lehrerin Julie Schulz erklärt 22 Schülern die undurchschaubare Welt der Artikel. Der, die oder das? Eine Hälfte der Kinder meldet sich überschwänglich, ist in ihrem Lerneifer kaum zu bändigen. Die andere Hälfte beobachtet still.
"Ich hab' einen Schüler drinsitzen, der kommt aus dem Irak. Der ist zehn Jahre alt - und unbegleitet! Ich weiß nicht, auf was für einer Schule er vorher war. Ob er überhaupt eine Schule besucht hat. Der kann weder lesen noch schreiben. Er kann auch kaum rechnen. Obwohl ich jetzt bemerkt habe, dass er mathematisch begabt zu sein scheint. Weil er mit Zahlen umgehen kann. Das heißt, ich kann mit ihm arbeiten. Und ich weiß, dass er das irgendwann schaffen wird."
Aber es wird viel Zeit und Aufmerksamkeit brauchen. Zeit, die ein einzelner Lehrer bei 22 Schülern ohne Deutschkenntnisse oft nicht hat. Oder die Belastung auf Dauer nicht aushält. Julie Schulz, 31 Jahre, ist taff. So taff, dass sie in ihrer Klasse sogar noch ein spezielles Förderprogramm namens "Taff" etabliert hat. "Talente finden und fördern", heißt es. Schulz ist sicher, dass viele ihrer Schüler die Anlage und vor allem den Willen haben, aufzusteigen. Aber es wird hart - wenn man mit zehn Jahren ohne Eltern in einem fremden Land lebt.
"Das nimmt einen natürlich auch als Lehrerin mit. Ich bin auch nur ein Mensch. Das nimmt einen mit, wenn man weiß: der ist alleine hier, lebt im Heim, muss alleine zurechtkommen. Spricht die Sprache nicht. Die im Heim sprechen seine Sprache nicht. Er kann nicht lesen, nicht schreiben. Das ist ... Hut ab vor diesem Schüler. Hut ab."
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