Flüchtlinge im Niemandsland

Von Stefan Keim · 22.01.2010
Das Schauspiel Essen zeigt mit der Inszenierung von Anna Seghers Roman "Transit" eine Flüchtlingsgeschichte der 40er-Jahre. Insgesamt kommt die Aufführung unaufdringlich und bewegend daher. Am Grillo-Theater, ebenfalls in Essen, bringt Roger Vontobel "Peer Gynt" in neuem Gewand auf die Bühne.
Die Bühne zeigt eine Welt aus Staub und Koffern. Mittendrin sitzt ein junger Mann. Er beginnt zu erzählen, von seiner Flucht, erst aus einem deutschen KZ und dann aus einem französischen Arbeitslager, von einem Schiff, das untergegangen sein soll.

Anna Seghers Roman "Transit" handelt von Flüchtlingen, die im Marseille der 40er-Jahre auf eine Reisemöglichkeit nach Mexiko warten. Ihr Leben ist eine ständige Jagd nach den nötigen Papieren. Es reicht nicht, dass der mexikanische Konsul, was historisch verbürgt ist, vielen Flüchtlingen die Einreise ermöglichte. Die Menschen brauchten auch Durchreisegenehmigungen der Staaten, an deren Küsten ihr Schiff anhielt, und eine Ausreisebewilligung Frankreichs. Der Schweizer Dramatiker Reto Finger streicht in seiner Bühnenfassung viele Nebenhandlungen und Figuren, er verdichtet den episodenhaften Roman auf zwei Stunden Theater.

Finger zeigt das seelische Elend der Flüchtlinge, die stets präsente Angst, die zermürbende Unsicherheit, was die Zukunft bringen wird. Sie leben in einer Zwischenwelt und verlieren das Gefühl für die Wirklichkeit. Das unterstreicht Regisseur Anselm Weber mit leiser Klaviermusik und grobkörnigen Schwarzweißbildern, die auf der mit Kreide bemalten Hinterwand flackern.

Der junge Mann lernt eine schöne Frau kennen, Marie, die sich oft umschaut und nach ihrem Ehemann sucht. Doch der hat sich vergiftet. Er besaß ein Visum und einen Transitschein, die durch Zufall in die Hände des jungen Mannes gefallen sind. Weil sich ihre Namen ähneln, hat er sich auf dem Konsulat als der Verstorbene ausgegeben. Marie hört, dass ihr Ehemann in der Stadt sei, was sie in noch größere Verwirrung stürzt. Heiko Rupprecht und Nadja Robiné setzen Glanzpunkte in einem hervorragenden Ensemble. Anselm Webers Inszenierung überzeugt durch atmosphärische Dichte und eine Aktualität, die keine zeigefingerhaften Regieeinfälle braucht. Dass heutige Flüchtlinge ähnliche Situationen erleben, wird sofort klar. "Transit" ist politisches Menschentheater auf der Höhe der Zeit, unaufdringlich und bewegend.

Auch Peer Gynt ist ein Flüchtling und Heimatloser, verloren in seinen Fantasien. In Essen scheinen beide Stücke auf ungewöhnliche Weise eine Einheit zu bilden. Denn Peer hat hier gar nichts von einem großen Lügner und Abenteurer. Er ist ein junger, etwas dicker Mann, der in die Luft schlägt und imaginäre Gegner verprügelt. Die anderen mobben ihn, er hat nichts als seine Fantasien. Ob er die Abenteuer bei den Trollen, in Afrika und im Irrenhaus wirklich erlebt, ob er Prophet und König wird, ist fraglich. Selten hat ein Dramatiker seinen Protagonisten derart gnadenlos demontiert. Ein Knopfgießer will ihn am Ende einschmelzen, als Rohstoff recyceln und in den großen Topf werfen. Weil Peer wie eine Zwiebel sei, nur Schichten, ohne Kern, ohne Seele.

Auf einer fast leeren Bühne spielt ein Männerquartett mit Dame die Afrikaner und die Bewohner einer Irrenanstalt, die Dorfbewohner und die Trolle, die als abgedrehte Band auftreten. Anstatt die Kostüme zu wechseln, kippen sich die fünf bei den Rollenwechseln Farbeimer über die Köpfe. Mit ähnlichen, körperlich intensiven Bildern hat Roger Vontobel schon in seiner Essener "Orestie" gearbeitet.

Peer ist immer wieder mit den gleichen Gesichtern konfrontiert. Trotzdem flüchtet er mit aller Kraft in seine Träume und Wahnvorstellungen. Denn er hat nichts anderes. Auch die von Ibsen so tragisch beschriebene Liebesgeschichte mit der jungen Solveig hinterfragt die Essener Regie auf boshafte Weise. Solveig ist ein Mauerblümchen in einem hässlichen Kleid, eine von den Frauen, die auf Partys immer herum stehen und niemals angesprochen werden. Sie hängt sich an Peer Gynt, den Verlierer, weil kein anderer sie beachtet. Solveig wartet nicht auf ihn, auch wenn Peer sich das so vorstellt. Als er sie am Schluss als letzte Zeugin gegen seine Mittelmäßigkeit aufsuchen will, hat Solveig längst einen anderen. In diesem Augenblick gibt Peer auf. Nun will er, dass auf seinem Grabstein steht: Hier ruht ein Nichts. Und das Licht geht aus.

Roger Vontobel wirft einen harten, bitteren Blick auf das Stück. Dabei geht einiges verloren von der poetischen Strahlkraft des Textes. Die Kürzungen auf eine Spielzeit von zweieinviertel Stunden ohne Pause haben zur Folge, dass sich manche Rollen wie Peers Mutter Aase kaum entwickeln können. Doch immerhin ist die Todesszene ein grandioser Auftritt für die Schauspielerin Judith van der Werff. Peer fantasiert für sie eine wunderschöne Himmelsfahrt, Aase hört zu, schmiegt sich an ihn, schließt die Augen, stirbt. Doch plötzlich spricht die Leiche wieder, beschimpft Peer als Lügner und lässt sich nicht mehr zum Schweigen bringen.

Auch wenn Peer sie schließlich von der Bühne schleift, wird er diese dämonische Stimme nie mehr los werden. Florian Lange ist eine hervorragende Besetzung für diesen Unterschichten-Peer. Er ist ein Egoshooter, für den die ganze Welt ein Computerspiel ist, und gleichzeitig ein dickes Kind, das geliebt werden will. Aber dafür ist es bereits von Anfang an zu spät.

Termine Peer Gynt :27. und 31. Januar (19 Uhr), 12. und 20. Februar, jeweils 19.30 Uhr, Grillo-Theater, Theaterplatz 11, 45127 Essen.

Termine Transit: 26. Januar, 9., 20., 26. Februar, jeweils 19 Uhr, Schauspiel Essen, Casa, Theaterplatz 7, 45127 Essen (in den Theaterpassagen).

Karten: 0201 – 8122 200. Internet: www.theater-essen.de