Flüchtlinge

"Der Libanon ist heillos überfordert"

Frauen sitzen am 10.11.2015 im Libanon in der Bekaa Ebene in einem Flüchtlingslager vor ihren Behausungen. Die zumeist syrischen Flüchtlinge aus der Region
Das Leben im Flüchtlingslager wird im Libanon zur Dauerlösung. © picture-alliance/ dpa / Thomas Rassloff
Friedrich Bokern im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Der Nothelfer Friedrich Bokern beklagt die dramatische Lage der Flüchtlinge im Libanon. Es fehle an Geld für Lebensmittel, es gebe bewusste Schikanen und einen sanften Druck zur Rückkehr nach Syrien.
Der Mitbegründer der Hilfsorganisation Relief and Reconciliation, Friedrich Bokern, hat die unzureichende Versorgung der Flüchtlinge im Libanon kritisiert. Die internationale Hilfe für die mehr als eine Million syrische Flüchtlinge im Libanon liege immer noch weit unter dem Niveau dessen, was noch vor drei Jahren gezahlt worden sei, sagte der NGO-Vertreter im Deutschlandradio Kultur anlässlich der UNHCR-Konferenz in Genf. Während die Vereinten Nationen vor drei Jahren noch 31 Dollar Lebensmittelhilfe im Monat pro Flüchtling gezahlt hätten, liege der Betrag heute bei nur etwa 23 Dollar pro Person. Davon könne man nicht leben, denn die Preise für Lebensmittel lägen in Libanon auf vergleichbarem Niveau wie in Deutschland.

Die Hälfte der Einwohner sind heute Flüchtlinge

"Den Flüchtlingen geht es leider weiterhin sehr schlecht, gerade im Libanon", sagte Bokern, dessen Organisation in den Flüchtlingslagern Hilfe leistet. "Das Land ist heillos überfordert." Die Infrastruktur des Landes sei immer noch vom Bürgerkrieg und den kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem benachbarten Israel geprägt. Bei vier Millionen Einwohnern hätten im Libanon rund zwei Millionen Flüchtlinge Aufnahme gefunden, von denen eine Million aus Syrien geflohen sei. Die 800.000 palästinensischen Flüchtlinge lebten dort bereits seit Jahrzehnten.

Schikanen und Hilfsbereitschaft

"Den Syrern, die gestrandet sind, werden die fundamentalsten Menschenrechte vorenthalten", sagte Bokern. Das größte Problem für die syrischen Flüchtlinge sei, dass sie aus den informellen Lagern nicht mehr herauskämen und ihre Aufenthaltspapiere seit mehr als einem Jahr nicht mehr verlängert würden. "Sie sind illegal", sagte Bokern. Wer sich aus dem Lager entferne, werde an Kontrollposten von der Armee oder von der Polizei angehalten. Die Flüchtlinge würden zum Glück dann nicht nach Syrien zurückgeschickt, aber landeten einige Tage im Gefängnis. "Es ist eine bewusste Schikane den Flüchtlingen gegenüber, um ihr Leben so unangenehm wie möglich zu machen", sagte Bokern. Dennoch gebe es in der libanesischen Bevölkerung eine große Hilfsbereitschaft.

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Millionen Syrer fliehen vor dem Krieg in ihrer Heimat, nur wenige Staaten sind bislang bereit, sie aufzunehmen. Die Vereinten Nationen wollen mehr Länder zu konkreten Hilfszusagen bewegen und damit Schleppern das Handwerk legen. Auf der UNHCR-Konferenz in Genf heute geht es wieder um mehr Geld. Und eines der Länder, das jahrelang Syrer aufgenommen hat, ist der benachbarte Libanon, und Friedrich Bokern kennt sich dort aus, er hat die Hilfsorganisation Relief and Reconciliation mitgegründet, die dort im Libanon seit gut drei Jahren Hilfsprojekte initiiert, Peace-Center eröffnet, damit sich alle Flüchtlings- und Bevölkerungsgruppen treffen können, psychosoziale Hilfe für traumatisierte Kinder und Erwachsene leistet und außerdem Bildungsangebote und ganz praktische Hilfen. Friedrich Bokern war gerade im Libanon und fliegt morgen dorthin zurück, jetzt ist er bei uns im Studio. Schönen guten Morgen!
Friedrich Bokern: Guten Morgen!
von Billerbeck: Beschreiben Sie uns doch mal die Situation, wie es den Flüchtlingen derzeit im Libanon geht! Was sind die größten Probleme?
Bokern: Den Flüchtlingen geht es leider weiterhin sehr schlecht, gerade im Libanon. Das Land ist heillos überfordert. Libanon hat vier Millionen Einwohner, inzwischen mehr als zwei Millionen Flüchtlinge, das heißt mehr als eine Million Syrer, und hinzu kommen noch 800.000 Palästinenser, die in den Lagern seit mehr als 40 Jahren leben. Das Land ist überfordert, die Infrastruktur ist immer noch geprägt vom Bürgerkrieg und von den Auseinandersetzungen mit Israel, und den Syrern, die gestrandet sind, werden wirklich die fundamentalsten Menschenrechte vorenthalten zum Teil auch.
Das größte Problem für die meisten Syrer, die in den informellen Lagern im Libanon leben, ist ganz einfach, dass sie aus ihren Lagern nicht mehr herauskommen – sie sind Illegale. Seit mehr als einem Jahr erneuert der Libanon die Aufenthaltsgenehmigungen nicht, weil dort politisch gesagt wurde, es muss jetzt Schluss sein, wir können nicht mehr – das ist auch verständlich bei dem Ausmaß.
von Billerbeck: Bei solchen Mengen von Menschen.
Bokern: Und seitdem sind fast alle Syrer im Lande illegal und können sich einfach nicht bewegen. Weil wenn sie sich herausbewegen – es sind alle paar Kilometer Checkpoints, Kontrollen der Armee, der Polizei …

Tagelang im Gefängnis

von Billerbeck: Dann werden sie wieder zurückgeschickt ins Lager?
Bokern: Sie werden nicht zurückgeschickt nach Syrien zum Glück, das muss man wirklich auch anerkennen, aber sie werden für einige Tage ins Gefängnis genommen, was keine angenehme Erfahrung ist im Libanon, und werden danach einfach wieder freigelassen. Das heißt, es ist eine bewusste Schikane den Flüchtlingen gegenüber, um ihr Leben so unangenehm wie möglich zu machen.
von Billerbeck: Und um sie mit dieser, in Anführungsstrichen, "sanften Gewalt" dazu zu bewegen, wieder zurückzukehren?
Bokern: Ganz genau. Und auch die internationale Hilfe kommt nicht an, wie sie sollte. Wir haben die berühmten 13 Dollar 50, die Sigmar Gabriel ja auch im Bundestag genannt hat …
von Billerbeck: Was heißt 13 Dollar 50?
Bokern: 13 Dollar 50, auf diesen Betrag ist es gefallen, ist die monatliche Hilfe für eine syrische Flüchtlingsperson im Libanon gefallen durch die UN, die Lebensmittelhilfe. Und das bei Preisen …
von Billerbeck: Kann man davon leben?
Bokern: Man kann es nicht, nein. Das sind auch die Gründe, die die große Migration nach Europa hin bewirkt haben. Vor drei Jahren, als wir begonnen haben mit unserer Arbeit, gab es noch 31 Dollar pro Monat – auch das war schon knapp, weil die Lebensmittelpreise sind vergleichbar mit denen in Deutschland –, und es ist innerhalb von eineinhalb Jahren aufgrund von Geldmangel der internationalen Organisationen auf 13 Dollar 50 gesunken. Und das war nicht mehr machbar. Inzwischen sind wir wieder höher, ich glaube, die letzte Rate war jetzt 23 Dollar, aber wir sind immer noch nicht dort, wo wir vor drei Jahren waren. Das heißt, den Flüchtlingen geht es immer noch schlechter, als es vor drei Jahren der Fall war – und das, obwohl wir jetzt im fünften Jahr der Krise sind.

Die Hilfsbereitschaft ist überwältigend

von Billerbeck: Wie ist denn nun die Stimmung unter der libanesischen Bevölkerung, die nicht Flüchtlinge sind, wie reagieren die auf diese vielen Menschen? Es ist ja eine enorme Hilfsbereitschaft, die ein Land da auf sich genommen hat, so viele Menschen unterzubringen, ich stelle mir das hier bei uns vor – aber wie ist die Stimmung dort?
Bokern: Ja, das muss man in der Tat an erster Stelle nennen, diese Hilfsbereitschaft ist überwältigend, und der Libanon hat mehr geschultert als alle anderen Länder der Region, als wir hier in Europa bei weitem, und es ist erstaunlich, wie gut die Menschen trotz all der Schwierigkeiten damit umgehen. Das heißt aber, die Spannungen sind ja dort, und die Tatsache, dass so viele Flüchtlinge aufgenommen werden konnten, ist auch damit begründet, dass es eben keinen funktionierenden Sozialstaat gibt, der damit umgehen müsste, sondern sie werden ganz einfach hineingelassen und sie kommen zurecht, indem sie sich privat Land mieten et cetera. Da ist leider auch sehr, sehr viel Missbrauch im Spiel.
Es gibt immer wieder Berichte von informellen Flüchtlingslagern, die sich auf einem Stück Land etabliert haben, das sie gemietet haben, und sobald sie ein wenig die Bedingungen verbessern, sobald Infrastruktur gebaut wird, Toiletten gebaut werden, kommt der Landbesitzer und sagt: So, jetzt möchte ich gerne die doppelte Miete. Das heißt, das gibt es eben auch leider Gottes.
von Billerbeck: Schwierige Situation, vor allem auch für eine westliche Hilfsorganisation wie Ihre. Wie agieren Sie zwischen den widerstreitenden Interessen?
Bokern: Das genau ist unser Ansatz. Wie der Name sagt – Relief and Reconciliation –, versuchen wir Friedensarbeit mit humanitärer Hilfe zu verbinden. Und da geht es eben um mehr als nur um Geld, sondern es geht um Einsatz, um menschlichen Einsatz. Das ist auch immer eine Botschaft, die ich immer versuche zu vermitteln: Es kann in so einer epochalen Krise nicht nur darum gehen, Geld zu überweisen, sondern es muss auch um Einsatz, um menschlichen Einsatz gehen. Das heißt, unsere Arbeit beruht hauptsächlich auf Freiwilligenarbeit. Keiner unserer internationalen Helfer vor Ort hat nicht als Freiwilliger bei uns begonnen, und unsere internationalen Helfer verdienen weniger als die Ortskräfte in vergleichbarer Position.

Ohne Bildung kein Frieden

von Billerbeck: Was machen Sie konkret, womit helfen Sie konkret?
Bokern: Unser Ansatz wie gesagt, Friedensarbeit mit humanitärer Hilfe zu verbinden, indem wir alle Gemeinschaften vor Ort, also auch verfeindete Gemeinschaften vor Ort, um ein gemeinsames Anliegen vereinen: die Zukunft der Jugend. Das heißt, wir unterwerfen uns der Leitung der Gemeinschaft vor Ort. Das ist dann ganz konkret, dass es einen Leitungsausschuss gibt mit verschiedenen moralischen Autoritäten, die uns sagen im Konsens, wo wir tätig werden sollten. Ganz konkret heißt das vor allem Bildung, weil Bildung ist immer noch eines der größten Notlagen.
Ohne Bildung wird es keinen Frieden geben, wird es keinen Wiederaufbau geben, und wir haben immer noch im Libanon heute mehr als 200.000 syrische Kinder im schulpflichtigen Alter, die seit mehr als drei Jahren keine Form von Bildung erfahren haben. Das heißt, wir haben Lagerschulen eröffnet, wir waren die Ersten seinerzeit, die solche Lagerschulen mit den Syrern selbst aufgebaut haben, unter ihrer Leitung, und haben inzwischen mit sehr bescheidenen Mitteln, mit Privatspenden hauptsächlich, mehr als 800 Schüler zurück in eine regelmäßige Schulbildung bringen können.
von Billerbeck: Friedrich Bokern war das, Mitbegründer der Hilfsorganisation Relief and Reconciliation, die im Libanon in Flüchtlingslagern seit gut drei Jahren Hilfe leistet. Morgen fliegt er wieder dorthin zurück. Danke fürs Kommen hier in Deutschlandradio Kultur!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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