Flüchtlinge auf dem Mittelmeer

"Seeleute sind Weltmeister im Verdrängen"

Ein Boot mit Flüchtlingen steht auf der Seite im Wasser, die Menschen fallen und springen zum Teil vom Boot ins Wasser.
Ein Boot mit Flüchtlingen steht auf der Seite im Wasser, die Menschen fallen und springen zum Teil vom Boot ins Wasser © dpa/ANSA / ITALIAN NAVY
Markus Schildhauer im Gespräch mit Philipp Gessler · 27.11.2016
Kenternde Flüchtlingsboote, Menschen, die vor ihren Augen ertrinken - Seeleute erleben im Zusammenhang mit Flucht und Migration übers Mittelmeer Traumatisches. Wie sie damit umgehen, berichtet der Seelsorger Markus Schildhauer von der Deutschen Seemannsmission.
Philipp Gessler: Wenn wir davon hören, dass jährlich Tausende von Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil die Flucht über diese See auf schreckliche Weise scheitert, ist das schon schockierend genug. Was aber, wenn man das mit den eigenen Augen sieht? Was, wenn man helfen will, aber die Hilfe für manche missglückt, ja, sie bei der Rettung selbst umkommen? Solche Horrorgeschichten hört Markus Schildhauer immer wieder von Seeleuten. Schildhauer, geboren 1959 im bayrischen Fürstenfeldbruck, ist Leiter der Station Alexandria der Deutschen Seemannsmission in Ägypten. Er erzählt von den schrecklichen Erfahrungen der Seeleute und seinen Versuchen, ihnen zu helfen. Meine erste Frage an ihn war, ob das Klischee denn stimme: Seeleute haben eine harte Schale, aber einen weichen Kern.
Markus Schildhauer: Also dieses Klischee trifft absolut zu. Eine harte Schale, Seeleute sind Weltmeister im Verdrängen von irgendwelchen unangenehmen Sachen, der weiche Kern, der muss aufgebrochen werden. Es ist oft schwierig, aber innen drin sind es Menschen wie Sie und ich, und mit allen Belastungen, die dazu sind, ganz im Gegenteil sogar meistens noch mit mehr Belastungen als gedacht.
Gessler: Warum mehr Belastungen?
Schildhauer: Seeleute sind in der Regel einsam, sie leben bis zu neun Monate auf dem Schiff, in einer kleinen Gemeinschaft mit 18 bis 20 anderen Menschen, meistens Männern. Da tauscht man sich nicht sehr groß privat aus, da redet man über Allgemeinheitenplätze, aber nicht über persönliche Sachen. Und wenn Sie neun Monate von der Familie entfernt sind, das belastet auch Sie sicherlich in einem großen Maße.

Die Angst der Seeleute vor den Booten

Gessler: Für viele ist das Erleben von Fluchtbooten bei den Seeleuten eine Belastung. Warum ist das eine Belastung?
Schildhauer: Für die Seeleute ist einfach das Problem, dass die im östlichen Mittelmeer mit dem Thema Flucht und Migration sehr intensiv konfrontiert werden, sei es, dass sie Menschen im Meer treiben sehen, also Leichen, Gegenstände, die Menschen zuordenbar sind, sei es dass sie Menschen retten müssen, Flüchtlingsboote beiseite nehmen müssen oder gar an Bord nehmen, oder sei es auch nur, dass sie Angst davor haben – auch das belastet die Seeleute mittlerweile sehr stark.
Gessler: Manche Bergungen von Flüchtlingen, die eben auf hoher See gefunden werden, scheitern. Dabei können, nehme ich an, auch Menschen sterben vor den Augen der Seeleute. Das kann traumatisch sein, oder?
Schildhauer: Es kann nicht nur traumatisch sein, es ist traumatisch. In den Gesprächen, die ich erlebe mit den Seeleuten im Hafen, wenn ich sie an Bord besuche, sind in der Regel größere traumatische Erlebnisse, die sie irgendwie verarbeiten müssen. Stellen Sie sich einfach vor, Sie möchten jemandem helfen beim Retten, und in der Regel passiert das auch so, dass die Leute nicht diszipliniert auf dem Schiff sitzen bleiben, sondern alle auf eine Seite gehen. Vielleicht können Sie sich erinnern, vor einem Jahr liefen durch die Medien in Deutschland Filmberichte von einem Schiff, das gekentert ist und die Leute ins Wasser gefallen sind – das passiert häufig – oder auch beim Übertreten auf das große Schiff.
Wir haben eine kleine Brücke, eine Leiter, die die hochgehen, dann stürzen Leute ab und sie können nicht schwimmen. Auf so einem großen Containerschiff, wenn wir das mal als Beispiel nehmen, ist keine Rettungsmöglichkeit für diese Menschen vorhanden. Also Sie haben 20 Schwimmwesten, wenn da im Schiff 400 Menschen sitzen, können Sie mit den Schwimmwesten auch nicht viel anfangen. Und in der Regel erleben Seeleute immer bei der Rettung persönliches Leid in einem hohen Maße, also persönliches Leid der Flüchtlinge. Sei es, dass auf den Booten schon tote Flüchtlinge sind, sei es, dass die Flüchtlinge in einem erbärmlichen Zustand sind, oder sei es auch, dass beim Retten Flüchtlinge versterben, ertrinken.
Der Seelsorger Markus Schildhauer leitet die Station Alexandria der Deutschen Seemannsmission.
Der Seelsorger Markus Schildhauer leitet die Station Alexandria der Deutschen Seemannsmission. © Foto: privat
Gessler: Wie wirken sich solche Traumata denn aus bei den Seeleuten?
Schildhauer: Erst einmal nach außen hin gar nicht. Also Seeleute sind ja, wie ich Ihnen gesagt habe, Weltmeister im Verdrängen, und sie versuchen, das auch so weit wie möglich von sich fernzuhalten. Wenn ich im Hafen mit den Seeleuten an Bord spreche, ein bisschen kratze – ich muss schon ganz schön kratzen meistens –, dann öffnet sich plötzlich die Seele, dann öffnet sich das Wesen des Menschen. Und dann geht der Fluss langsam los, dieses Erleben dieses ganzen Drumherum. Es sind Erlebnisse, die ich persönlich niemals erleben möchte.
Jemanden, dem ich helfen will, vor meinen Augen sterben zu sehen, ist einfach schlimm. So ein Seemann an Bord wird es nicht auch seiner Reederei erzählen unbedingt, es ist ja ein Zeichen von Schwäche. Er wird es nicht unbedingt seinem Kollegen erzählen, es ist ein Zeichen von Schwäche. Und damit zeigt er auch, okay, ich bin vielleicht für diesen Beruf nicht so geeignet. Insofern versuchen sie halt das so weit wie möglich zu verbergen, zu verstecken, nach hinten zu verschieben. Stellen Sie sich vor, Sie sind Kapitän von so einem Schiff oder Chef einer Firma, und Sie rufen Ihren Oberchef an und sagen, mir geht's gerade ganz schlecht, ich hab psychische Probleme, weil jetzt … Da rufen Sie nicht an, das macht keiner.

Seelsorge per E-Mail

Gessler: Was machen Sie denn, wenn Sie jetzt solche Traumata erkennen, vielleicht auch mit Folgen, Schlafstörungen oder Depressionen, was kann man da machen? Sie haben ja nur kurz Zeit, die Seeleute.
Schildhauer: Ja, die Liegezeiten im Hafen sind in der Regel zwischen vier und acht Stunden, da ist die Zeit sehr kurz. Ich kann versuchen, mit den Menschen zu reden, ich kann versuchen, diese Menschen reden zu lassen, ich stehe aber auch mit einigen aus diesen Gesprächen danach noch im E-Mail-Kontakt. Das ist glücklicherweise heutzutage viel einfacher geworden, auch für Seeleute. Wenn sie in den nächsten Hafen kommen, können sie wieder E-Mails senden und empfangen, und da entsteht langsam auch eine, ich sag mal, Seelsorge per E-Mail ein bisschen.
Gessler: Keine Braut im Hafen, weil die nicht mehr an Land gehen dürfen in Alexandria.
Schildhauer: Ja, dieses Klischee – vielleicht machen Sie mal Ihre Augen zu und denken mal drüber nach, was ist denn Ihr Bild vom Seemann? Das ist eben ein Hans Dampf in allen Gassen, in jedem Hafen eine Braut und die ganze Welt erleben, aber dieses Bild ist ein völlig falsches Bild von der Seefahrt heutzutage. Ein Seemann sitzt in der Regel bis zu neun Monaten an Bord, kann dieses Schiff selten verlassen, bei Liegezeiten von vier bis sechs Stunden im Hafen, da können sie nicht mal zum Picheln ans Land gehen, und in der Zeit muss er entweder arbeiten, also schauen, dass die Ladung ordentlich verpackt wird, oder er muss sich erholen in der Zeit, damit er wieder später arbeiten kann. Dieses Seemannsleben, das wir so in unseren Köpfen haben, das ist völlig falsch.

Besser gar nicht an Deck kommen

Gessler: Manche Seeleute verkriechen sich unter Deck, um keine Flüchtlingsboote oder vielleicht Leichen auf hoher See zu sehen. Können Sie das verstehen?
Schildhauer: Das verstehe ich sehr gut. Sie erzählen mir immer wieder, wenn wir sozusagen in das Mittelmeer hereinkommen, in das östliche Mittelmeer, vor allem spätestens ab Libyen, verlassen sie nur noch, wenn es wirklich sein muss, das Innere des Schiffes, weil jedes Mal, wenn sie draußen sind … also allein die Angst davor, etwas zu sehen, lässt sie eher dann an Bord innen drin verbleiben. Gut, auf so einem Tankerschiff, auf so einem Containerschiff ist es jetzt auch nicht wirklich prickelnd, draußen sich in die Sonne zu setzen und da vielleicht wie auf einer Kreuzfahrt im Liegestuhl zu sitzen, aber wenn es nicht sein muss, verlassen Seeleute dort in dieser Region noch seltener das geschützte Schiffsinnere wie jetzt vielleicht in anderen Regionen.
Gessler: Manche Reedereien verbieten es ihren Kapitänen, größere Umwege zu fahren, um Flüchtlingsbooten zu helfen, wenn sie wissen, da sind andere Boote, die auch zur Rettung herbeieilen. Ist das nicht ein Skandal?
Schildhauer: Grundsätzlich sind alle Schiffe, alle Beteiligten im Schiffsverkehr zur Rettung anderer verpflichtet, also das ist erst mal so ein Grundsatzproblem. Wir hatten tatsächlich diesen Fall, dass ein deutscher Kapitän uns angefragt hat, er kann eigentlich nicht mehr in diesem Beruf arbeiten. Er ist zu Hilfe gerufen worden zur Rettung eines Schiffes und hätte einen Umweg von drei Stunden in Kauf nehmen müssen. Jetzt muss man dazusagen, ein Umweg von drei Stunden bedeutet nicht, dass der drei Stunden länger fährt und dann irgendwo ankommt, sondern dann kommt die Rettungsaktion dazu, dann kommt das ganze … also es wird bis zu einem Tagesbedarf sein. Und ein Tag auf einem Schiff kostet mindestens 10.000 Euro, das muss man sich auch zum Schutz der Reeder sich vorstellen.
Wenn jetzt mehrere Schiffe kommen, so wie es bei ihm war, da hat die Reederei gesagt, nein, in dem Fall ist es besser, du fährst geradeaus und du darfst jetzt da nicht hinfahren. Er hat später erfahren, dass dieses Schiff gekentert ist und untergegangen ist, die Menschen ertrunken sind, und er macht sich bis heute Vorwürfe, dass er nicht sich über diesen Befehl hinweggesetzt hat. Ob er die erreicht hat oder nicht, das weiß er selber nicht, aber allein die Tatsache, diese Gewissensbisse zu haben, hätte ich da helfen können.

Die Handelsschiffe sind nicht für die Versorgung von Flüchtlingen ausgerichtet

Gessler: Wie hieß denn die Reederei?
Schildhauer: Das ist eine ausländische Reederei gewesen.
Gessler: Es sind ja in der Regel Handelsschiffe von den Seeleuten, die Sie betreuen. Die sind, Sie haben es angedeutet, oft nicht ausgestattet, haben nicht genug Rettungswesten zum Beispiel für Flüchtlinge, oder man kommt, wie Sie geschildert haben, überhaupt schwer an Bord von außen. Versteht man da manchmal auch die Dilemmata, in denen die Kapitäne sind?
Schildhauer: Absolut. So ein Handelsschiff ist ausgerichtet, Waren von A nach B zu transportieren, und die auf dem Schiff arbeitenden Menschen, um die 20 herum, zu versorgen, das heißt, für diese 20 eine Unterkunft zu bieten, für diese 20 eine Ernährung zu bieten und so was. Jetzt kommen Sie an ein Flüchtlingsschiff, nehmen wir mal eine normale Durchschnittszahlen von 300, 400 Menschen, die, wenn Sie diese retten wollen, bei sich an Bord nehmen, wo bringen Sie die überhaupt hin? Wie bringen Sie die unter? Wir haben in den Medien immer wieder die Berichte auch von erfrorenen Flüchtlingen auf Schiffen – im letzten Jahr ist das zweimal durch die Medien gegangen.
Wir haben die Problematik, wenn die an Bord kommen, Sie müssen sie ja auch wieder loswerden. Also wenn ein Schiff zum Beispiel mit Flüchtlingen nach Alexandria fahren würde, das können Sie vergessen, dort werden die nicht angenommen, die Flüchtlinge. Also heißt es, nach Europa zu fahren, heißt es, eventuell Umwege in Kauf zu nehmen, heißt es, eventuell – früher war das noch so, mittlerweile hat sich das Gott sei Dank geändert – als Schlepper angeklagt zu werden. Das beste Beispiel war die Cap Anamur, der Rupert Neudeck, der ja in Malta angeklagt worden ist als Schlepper, weil er Flüchtlinge gerettet hatte.

"In der Not wird jeder zum Gläubigen"

Gessler: Jetzt ist ja das Klischee, dass zumindest früher die Seeleute doch eher gläubige Menschen waren, weil sie wussten, der Tod ist relativ nah. Wie ist das heute, sind Seeleute eher gläubig? Wie erleben Sie das?
Schildhauer: Ja, die Gläubigkeit an Bord ist eine sehr spannende Angelegenheit. Wir haben in Alexandria eine hohe Nachfrage nach Gottesdiensten, nach Andachten an Bord, nach Segnungen, weitaus höher als vielleicht in anderen Häfen, wobei Seeleute grundsätzlich schon sehr gläubig sind. Sehr viele sind ja Filippinos, und Filippinos kommen aus einem katholischen Umfeld, aber mir passiert es auch immer wieder, dass vor allem russische, polnische Offiziere auf mich zukommen und sagen, nein, ich bin nicht gläubig, mich interessiert das nicht, aber dann am Gottesdienst teilnehmen und vielleicht auch noch ihre Kabine segnen lassen wollen. In der Not wird jeder zum Gläubigen, behaupte ich jetzt einmal.
Gessler: Markus Schildhauer war dies. Er hat uns über die Nöte der Seeleute und das Elend der Flüchtlinge im Mittelmeer berichtet. Mehr Informationen zur Deutschen Seemannsmission unter Seemannsmission unter www.seemannsmission.org und in Schildhauers Blog unter www.schildhauer.net.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema