Flüchtlinge an EU-Außengrenze

Wir sind das Wegschauen gewohnt

03:37 Minuten
Frau mit Kind wärmt sich am Feuer: Flüchtlinge in Belarus an der Grenze zu Polen.
Der Umgang mit Flüchtlingen an der polnisch-belarussischen Grenze zeigt, wie sich die Politik in der EU verschärft hat. © imago / SNA / Viktor Tolochko
Ein Kommentar von Sieglinde Geisel · 17.11.2021
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Dass vor der Haustür Europas Menschen erfrieren, müsste uns alarmieren. Stattdessen haben wir uns daran gewöhnt. Längst sind wir dem „Faschismus des Herzens“ anheimgefallen, meint die Journalistin Sieglinde Geisel.
Es ist mitten in der Nacht. Ich kann nicht schlafen, deshalb schreibe ich diesen Text. Ich kann nicht schlafen, weil mich Bilder heimsuchen. Wie fühlt es sich an, bei Minusgraden im Wald auszuharren, ohne Wasser, Essen, Dach über dem Kopf? Tausende von Menschen sitzen an der polnischen Grenze in der Falle, sie haben keine Windeln für ihre Babys, nichts, was sie ihnen zu essen oder zu trinken geben könnten.
Ich kann es mir nur vorstellen, denn die polnische Armee verweigert allen den Zugang, Hilfsorganisationen ebenso wie Journalisten, niemand soll wissen, was für Szenen sich in dieser Zone jenseits der Zivilisation abspielen. Von einem Dutzend Toten ist die Rede. Es sind mit Sicherheit mehr.

Die EU hat keine Migrationspolitik

Täter, Opfer und Zuschauer – so die Trias bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von denen alle wissen. In den Medien taucht die Todeszone an der EU-Grenze nur sporadisch auf. Es alarmiert niemanden, und genau das müsste uns alarmieren. Wir haben uns ans Zuschauen gewöhnt, nein: ans Wegschauen. Wir schauen seit Jahren weg, und wir wissen sehr wohl, was los ist.
In den bosnischen Wäldern erledigen die Kroaten das Drecksgeschäft des „Grenzschutzes“. Im Mittelmeer setzt die EU-Agentur Frontex Menschen auf dem offenen Meer aus, illegale Push-Backs, die niemand sanktioniert. Und auf den griechischen Inseln werden mit EU-Mitteln geschlossene Lager in den Bergen gebaut, fernab von menschlichen Siedlungen. Auch dort haben Journalisten und Hilfsorganisationen keinen Zugang. Die EU hat keine Migrationspolitik – doch diese Nicht-Politik hat durchaus System.

Das heutige Europa zuckt mit den Schultern

Die Menschen, die nun an der polnischen Grenze erfrieren, sind Lukaschenkos vergifteten Versprechungen gefolgt. Niemand von ihnen konnte damit rechnen, dass sie vor der Haustür Europas in der Falle sitzen würden. Vor zehn Jahren wäre so etwas in Europa tatsächlich undenkbar gewesen. Das heutige Europa zuckt nur mit den Schultern. „Oder soll man es lassen?“ Unter dieser Schlagzeile gab es vor drei Jahren immerhin noch eine Debatte über die Seenotrettung im Mittelmeer. Jetzt reicht es nicht einmal mehr dafür.

Die Grenzen des Sagbaren nach rechts verschoben

Stattdessen sagt ein Ministerpräsident, wir müssten diese Bilder nun aushalten. Das ist angeblich nötig, um Europa zu retten – vor Menschen, die wir nicht retten wollen.

Das Gerede von den Bildern, die wir aushalten müssen, kommt nicht von der AfD, sondern von einem CDU-Politiker, und auch das müsste uns alarmieren. Es zeigt, wie weit sich das Fenster des Sagbaren nach rechts verschoben hat. Der amerikanische Autor William H. Gass hat den Begriff „Faschismus des Herzens“ geprägt. In seinem Roman „Der Tunnel“ listet er die Emotionen dieses Faschismus auf: Kleinlichkeit, Geiz, Gefühlskälte gehören dazu. Der alltägliche Faschismus beginnt dort, wo die Menschlichkeit endet.

Warum haben wir diesen Weg eingeschlagen? – So frage ich mich in der Nacht. Und wohin wird dieser Weg uns führen? 

Sieglinde Geisel studierte in Zürich Germanistik und Theologie und arbeitet als freie Journalistin. Sie ist für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin tätig und lehrt an der Freien Universität Berlin sowie an der Universität St. Gallen. Geisel ist Gründerin von „tell – Onlinemagazin für Literatur und Zeitgenossenschaft“ und schreibt dort regelmäßig.

© Deutschlandradio / Melanie Croyé
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