Flüchtige Zeiten

Von Josef Schmid |
Kommt nicht jede Generation mit einem ureigenen Lebensgefühl zur Welt? Mit einem Lebenswillen, der nicht sofort nach Beständen und Fehlmengen fragt, sondern schlicht ans Werk geht? Gewiss, doch dazu braucht es eine Mindestausstattung: an materieller Kultur, an Gerät und Technologie wie an geistiger Kultur. Sie dürfte gegenwärtig das größere Problem darstellen, denn gerade die geistigen Orientierungen sind ins Rutschen gekommen.
Unter den Denkern, die unsere Zeit recht plausibel erklären, befindet sich ein polnischer Soziologe mit dem deutschen Namen Zygmunt Bauman. Er sagt, wir lebten schon seit Generationen in der Moderne, aber nicht mehr in einer festgefügten Moderne mit klaren Grenzen, einem eindeutigen Oben und Unten, nicht mehr mit festen Arbeitsplätzen und Arbeitszeiten in einer nationalstaatlich geordneten Industriegesellschaft. Nein, wir haben diese "feste" Moderne mit einer "flüssigen", "fließenden", ja "flüchtigen" Moderne vertauscht, aus der die klaren Grenzen verschwunden sind und die Verantwortlichkeiten, die einer ebenso klaren Hierarchie von Oben und Unten entspringen.

War es in der festen Moderne gar nicht so schwer, die Ursachen für steigende Preise und Arbeitslosigkeit aufzuzeigen und selbst die dafür Zuständigen namentlich zu nennen, so weiß aus dem derzeitigen interkontinentalen Desaster niemand so recht den Ausweg.

Der Arbeitsplatz ist befristet und unsicher. Der akademische Nachwuchs lebt in "Prekarität", er wird zum Wanderarbeiter auf höherer Ebene. Die nationalen Bildungstrümpfe, unter ihnen Geisteswissenschaft, werden im europäischen Vereinheitlichungsmorast versenkt. Es ist, als wollte man alten Wein aus ehrwürdigen Fässern in Bierflaschen mit Patentverschluss umfüllen.

Der Nationalstaat wird für überholt erklärt. Seine Autorität wankt angesichts der windhundartigen Bewegungsfreiheit übernationaler Wirtschafts- und Finanzkorporationen. Nun muss der Staat als Retter aus dem Koma geweckt werden, in den ihn der Sieger des Kalten Krieges, der schrankenlose Wirtschaftsliberalismus, hat versetzen lassen. Während dieser größten Krise der Wirtschaftsgeschichte braucht man seine Garantien in unvorstellbarer Höhe.

Trotzdem kann es eine politische Klasse nicht lassen, Hand an den Nationalstaat zu legen. Das jüngste Beispiel ist der Versuch, den sogenannten Lissabon-Vertrag durch die Legislative zu peitschen. Wesentliche Bereiche nationalstaatlicher Politik könnten demnach laufend einem diffusen Machtkonglomerat in Brüssel übertragen werden. Wie die Weltwirtschaft im Globalismus die Produktion in Niedriglohnländer auslagert, würden wichtige Gesetzgebung und Rechtsprechung an Gremien delegiert, die außer Landes hinter verschlossenen Türen tagen. Die staatliche Autorität und mit ihr die repräsentative Demokratie stehen nicht mehr Rede und Antwort, sondern verschwinden hinter der europäischen Vertragsunion.

Beherzten Bürgern ist zu danken, dass sich das Bundesverfassungsgericht eindeutig zu unveräußerlichen Rechten eines souveränen Staates bekannte, nachdem sie in den Gehirnen der politischen Klasse nicht mehr vollzählig gespeichert sind. Ihm obliegt letztlich die Gestaltungsmacht über die wirtschaftlichen, kulturellen Lebensverhältnisse. Sie dürfen von keiner Vertragsunion eingeengt werden. Damit ist eine Koexistenz von EU und souveränem Mitgliedstaat angemahnt und kein Untertänigkeitsverhältnis. Europa wird kein Bundesstaat, kein unbeweglicher Felsblock in der Landschaft, sondern eine bewegliche und bewegende Kette, die nur so stark ist wie ihre Glieder – und das sind Nationen und Identitäten.

Sie sind die Haltepflöcke und Hoffnungszeichen in flüchtigen Zeiten. Wenn noch beruhigende Grenzen wieder sichtbar werden und verlässliche Bindungen entstehen, dann hätten wir zum Erträglichen, zum Menschengemäßen zurückgefunden.

Josef Schmid, geboren 1937 in Linz/Donau, Österreich, zählt zu den profiliertesten deutschen Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Er studierte Betriebs- und Volkswirtschaft sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie. Von 1980 bis 2005 war Schmid Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seine Hauptthemen: Bevölkerungsprobleme der industrialisierten Welt und der Entwicklungsländer, kulturelle Evolution und Systemökologie. Schmid ist Mitglied namhafter nationaler und internationaler Fachgremien. Veröffentlichungen u.a.: "Einführung in die Bevölkerungssoziologie" (1976); "Bevölkerung und soziale Entwicklung" (1984); "Das verlorene Gleichgewicht – eine Kulturökologie der Gegenwart" (1992); "Sozialprognose – Die Belastung der nachwachsenden Generation" (2000). In "Die Moralgesellschaft – Vom Elend der heutigen Politik" (Herbig Verlag, 1999) wird der Widerspruch zwischen Vergangenheitsfixiertheit und der Fähigkeit zur Lösung von Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben scharfsichtig analysiert.
Josef Schmid
Josef Schmid© Maurer-Hörsch