Flüchtig

Von Markus Böggemann · 17.06.2010
Sarah Nemtsovs Komposition "Sechs Zeichen" für Violoncello und (präpariertes) Klavier von 2010 verhält sich da anders: Ihr sind die Brüchigkeit und der Geltungsverlust von Traditionen kein Gegenstand der Trauer, sondern eine Grunderfahrung der Gegenwart und darüber hinaus die Voraussetzung, um eine eigene Klanglichkeit, eine individuelle Tonsprache zu entwickeln.
Dass dies gleichwohl nicht auf einer weißen Fläche geschieht, dass, um Neues zu schaffen, nicht alles Gewusste ausgeblendet wird – das deutet bereits der Titel an: Was dort als "Zeichen" angesprochen wird, meint, so die Komponistin, "das musikalische Material, auf das das Stück ursächlich aufbaut: glissando, gehaltener 2-Klang (meist None/Septime bzw. Sekunde), kurzer Ton/Attacke (staccato, pizzicato), Triolen-Bewegung, schnelle Figuration (32tel o.ä. - meistens sich aus den Intervallen 2/7/9 zusammensetzend), absteigendes Motiv.

Ich habe diese Module zunächst (als musikalische 'Zeichen') entwickelt und aus ihnen alles Weitere abgeleitet. Ich habe sie so miteinander verknüpft, dass sie sich trotz ihrer 'Zeichenhaftigkeit' mit einander 'verwickeln' lassen und sie zum Teil in andere Aggregatzustände überführt. Dabei geht es auch um polare musikalische Erscheinungen, die sich in der Verarbeitung wieder aufheben, bzw. ineinander greifen."

Was sich an der so beschriebenen Komposition erfahren lässt, das ist u.a. das Transitorische, Flüchtige von Musik: gleich der Beginn – ein statisches, von im Violoncello vierteltönig aufgerauten Klangflächen dominiertes Panorama, das durchsetzt ist mit einzelnen perkussiven Akzenten – kippt unmerklich in sich verselbständigende Bewegungsmodelle, die ihrerseits wieder zur Flächigkeit tendieren. Die von der Komponistin beschriebene Idee einer Überführung definierter Gestalten oder "Zeichen" in verschiedene Aggregatzustände wird hier wie im gesamten Stück greifbar.