Migration in der Coronakrise

Flucht vor der Armut

09:15 Minuten
Flüchtlinge auf der Ladefläche eines Frachtwagens.
Während der Coronakrise sind viel mehr Menschen vor der wachsenden Armut in ihren Heimatländern geflohen. In Guatemala versuchen kirchliche "Migrantenhäuser" zu helfen. © picture alliance / AP Photo / Moises Castillo
Von Andreas Boueke · 21.11.2021
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Man könnte meinen, in Pandemie-Zeiten würden weniger Menschen das Risiko eingehen, ihre Heimat zu verlassen. Doch in Mittelamerika geschieht das Gegenteil. Für viele ist die Krise der letzte Anstoß, sich auf den Weg zu machen.
Vor einer Metalltür im alten Zentrum von Guatemala-Stadt wartet eine Gruppe Migrantinnen und Migranten, Erwachsene und Kinder, eng gedrängt auf Einlass. Für die katholische Sozialarbeiterin Carina Lopez sind solche Menschenansammlungen normal.
Auch jetzt, in Zeiten von Covid: „Hier im ‚Haus der Migranten‘ haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Pandemie die Menschen nicht davon abhält, ihre Heimat zu verlassen. Im Gegenteil. Viele sehen die Migration als eine Möglichkeit, ihr Überleben zu sichern.“

Corona hat die wirtschaftliche Not verstärkt

Das Coronavirus hat die schon zuvor schwachen Volkswirtschaften Mittelamerikas und der Karibik weiter ausgebremst.
„Eine Konsequenz der Pandemie war die Zunahme der Arbeitslosigkeit. Wir helfen Menschen, die das Ziel haben, Mexiko und die USA zu erreichen. Die meisten sagen, sie machen sich auf den Weg, weil sie in ihrer Heimat keine Arbeit und kein Einkommen haben“, sagt Carina Lopez.

Hoffnung auf eine bessere Zukunft

In manchen Monaten lassen über hunderttausend Menschen alles in ihrer Heimat zurück, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder. Das Ziel der meisten sind die USA. In aller Regel führt ihr Weg durch Guatemala, die kleine Nation im Süden Mexikos.
Dort leitet der brasilianische Pater Mauro Verzeletti das „Casa del Migrante“, einen Zufluchtsort für Menschen in Not: “Seit Beginn der Pandemie entscheiden sich viele Familien in Honduras, El Salvador und Nicaragua zur Migration. Die sozialen Konflikte in diesen Ländern haben zugenommen. Genauso in Haiti. Seit Beginn der Pandemie haben wir dreihundert Haitianer unterstützt.“

Die „Migrantenhäuser“ bieten Zuflucht zwischen den Etappen

Familien werden bevorzugt aufgenommen. Gerade für Kinder sind die Migrantenhäuser wichtige Rettungsanker. In den verschiedenen Ländern Mittelamerikas ermöglichen sie eine Pause, um neue Kraft zu schöpfen - für die nächste Etappe.
Ein schwarzer Mann mit Gesichtsmaske steht im Eingang zu einem kleinen Raum mit Hochbett, darauf eine Frau, den Kopf sorgenvoll nach unten gerichtet, an seiner Hand ein kleines Mädchen, das neugierig in die Kamera schaut.
Baptiste ist mit seiner Frau und der kleinen Tochter aus Haiti geflüchtet - das "Casa del Migrante" in Guatemala bietet vorübergehend Zuflucht.© Andreas Boueke
Baptiste aus Haiti ist froh, dass er mit seiner Frau und seiner dreijährigen Tochter über die Schwelle der Eisentür treten darf. In dieser Nacht werden die drei in einem sauberen Doppelstockbett schlafen.
Auf dem Rücken trägt er einen kleinen Stoffrucksack, in dem fast die gesamte Habe der Familie verstaut ist: „Als es mit COVID losging, hatte ich keine Angst, mich auf den Weg zu machen. Weshalb ich keine Angst hatte? In Haiti gibt es keine Arbeit. Ich habe für meine Familie gekämpft, aber die Situation ist schlecht und wird immer schlimmer. Wie soll man da überleben? Das Leben dort ist sehr hart.“

Die meisten fliehen nicht vor Verfolgung – sondern Armut

Die meisten Haitianer und Mittelamerikaner verlassen ihre Heimat nicht primär aus Angst vor Verfolgung oder Gewalt. Deshalb haben sie, entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention, kein Recht auf Asyl.
Man könnte sie wohl „Wirtschaftsflüchtlinge“ nennen, aber mit diesem Begriff kann Pater Mauro nichts anfangen: „Die Armut ist grausam, hart, hier in Mittelamerika ist sie besonders furchtbar. An den Ampelkreuzungen wird die Armut der Familien offensichtlich. Da stehen sie und betteln, mit ihren weißen Fahnen. Kinder bitten um Nahrungsmittel. Die Armut hat ein Gesicht. Die Armut bedeutet Obdachlosigkeit, die Armut zerstört das Leben der Menschen.“
Die Odyssee der haitianischen Migranten von ihrer karibischen Insel bis in die USA ist lang, strapaziös und gefährlich. Seit sich im Juli dieses Jahres mit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse die politische und wirtschaftliche Krise im Land verstärkt hat, sind Zehntausende Flüchtlinge an der Küste von Kolumbien gelandet. In ihrer Heimat sehen die Gestrandeten keine Perspektive mehr.

Eine der gefährlichsten Migrationsrouten

Die nächste Etappe laufen viele zu Fuß. Das sumpfige Urwaldgebiet Darién ist dem Roten Kreuz zufolge eine der gefährlichsten Migrationsrouten der Welt. Auch Baptiste hat es durchquert: „In diesem Dschungel gibt es keine Straße. Von Kolumbien aus kämpfen wir Haitianer uns da durch, genauso wie die Kubaner, die Venezolaner, die Afrikaner. Alle müssen über dieselben furchtbaren Pfade gehen. Es geht rauf und runter durch den Wald. Immer wieder musste ich mit meiner Frau und meiner Tochter durchs Wasser waten.“
Wem es gelingt, den Dariéndschungel bis nach Panama zu durchqueren, kann mit Bussen weiterreisen, durch die Länder Costa Rica, Nicaragua, Honduras und Guatemala.

"Du nimmst den Kampf auf, um weiter zu kommen."

Baptiste

"In jedem neuen Land ruhst Du Dich aus. Wir sind jetzt hier in Guatemala. Ich habe kein Geld mehr. Von meinen Angehörigen in den USA überweist mir niemand mehr Geld“, erzählt Baptiste.

Mehr Migration trotz geschlossener Grenzen

Im Moment weiß Baptiste nicht, wie seine Familie weiterkommen soll. Zu Beginn der Pandemie waren die Grenzen in Mittelamerika offiziell monatelang dicht. Das hat die Migration aber nicht aufgehalten, weiß Pater Mauro: „Trotz der geschlossenen Grenzen hat die Pandemie noch mehr Menschen dazu motiviert, ihre Länder zu verlassen. Viele haben ihre Arbeit verloren und sich mit anderen Migranten zu Karawanen zusammengeschlossen. Weil die Armut immer schlimmer wird, suchen die Leute gemeinsam Stellen, an denen sie die Grenzen ohne Kontrolle überschreiten können.“
Niemand will in Guatemala bleiben. Nahezu alle Migranten wollen Mexiko durchqueren, obwohl auf der Route dort mehr Gefahren auf sie warten als in allen anderen Ländern zuvor. Baptiste weiß nichts davon, dass die US-amerikanischen Einwanderungsbehörden zurzeit starken Druck auf Mexiko ausüben. In diesem Jahr wurden mehr haitianische Flüchtlinge in Mexiko aufgegriffen und abgeschoben als je zuvor. Baptiste glaubt, dass er es schaffen wird, auch wenn er kein Geld hat.

Die Pandemie hat auch Hilfsorganisationen hart getroffen

Auf der Route durch Mittelamerika und Mexiko betreiben katholische Ordensschwestern und -brüder ein regelrechtes Netz von Migrantenhäusern. Doch auch diese Orte der Menschlichkeit haben unter der Pandemie gelitten, erklärt Pater Mauro:
„Wir sind abhängig von den Spenden der internationalen Gemeinschaft, von der Organisation für Migration, von ACNUR, vom norwegischen Rat. Doch auch diese Organisationen sind von der Pandemie betroffen. Zurzeit können sie uns nur wenige Mittel zur Verfügung stellen. Deshalb können wir weniger Migranten aufnehmen. Das ist wie eine Kette, die dazu führt, dass die Migranten nur noch kurz in unserer Einrichtung bleiben dürfen. Wir können ihnen nicht mehr so lange helfen wie vor der Pandemie.“

Flüchtlingshilfe ist eine christliche Aufgabe

Nicht wenige Haitianer hatten vor ihrer Reise nur oberflächlichen Kontakt zu christlichen Institutionen. Das Leben in den Gemeinden ihrer Heimatdörfer ist häufig von naturverbundenen Religionen afrikanischen Ursprungs geprägt. Baptiste hat gute Erfahrungen mit ihnen gemacht:
„Die Katholiken sind gute Menschen. Sie helfen uns Migranten, geben uns etwas zu essen, Frühstück am Morgen und Mittagessen um zwölf Uhr. Wo sonst bekommst du eine Mahlzeit umsonst? Nur in einem Casa del Migrante, sonst nirgends. Als ich mit meiner Tochter und meiner Frau hier in Guatemala-Stadt ankam, wusste ich nicht, wo wir übernachten können. Aber als ich hier gefragt habe, ob es Platz für uns gibt, haben sich die Leute im Haus gefreut und uns rein gelassen. Gott sei Dank.“
In der konkreten Unterstützung von Migranten in Not sieht Pater Mauro eine christliche Aufgabe: „Das Evangelium ist da eindeutig. Wir sind zur universellen Solidarität aufgerufen. Die Geschwisterlichkeit ist der Weg, um in diesen Zeiten der Pandemie das Zusammenleben der Menschen zu stärken. Nur so können die Hungrigen ein Leben führen, das ein wenig dem Reich Gottes entspricht, einem Leben in Würde. In dieser Welt gibt es so viel Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd. Wir müssen Brücken bauen, damit der Reichtum aller gerecht verteilt wird.“

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