Flucht und Migration

Wir brauchen ein neues Ethos der Solidarität

04:07 Minuten
Auf einem nächtlichen Rollfeld stehen Menschen Schlange, um einen Airbus zu besteigen.
Sabine Hark plädiert für eine politische Moral, die sensibel ist für die vielfältigen Weisen von Entwürdigung und Entrechtung. © picture alliance / abaca / ABACA
Ein Standpunkt von Sabine Hark · 30.08.2021
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Die Hoffnungen Tausender Afghanen auf ein besseres Leben zerschellen derzeit am Flughafen von Kabul. Wir, der Westen, sind es, die entscheiden, wer überleben darf und wer nicht. Wir brauchen eine Solidarität, die für alle gilt, fordert Sabine Hark.
Vor einigen Tagen nahm ich an einer Kundgebung für eine Luftbrücke aus Kabul teil. Rund 3000 Menschen hatten sich vor dem Berliner Reichstagsgebäude eingefunden. Darunter viele in Berlin im Exil lebende Afghan*innen, die teils spontan ans Mikrofon traten, um von ihren eigenen Fluchterfahrungen zu berichten oder von der Gefahr für Leib und Leben, der ihre in Afghanistan zurückgebliebenen Freund*innen und Verwandte jetzt ausgesetzt sind. Nicht wenigen brach die Stimme, während sie sprachen. Die Worte einer Rednerin blieben mir besonders im Gedächtnis. "Sind wir keine Menschen?", fragte sie in die Menge. "Zählen unsere Leben nicht?"
Die Frage der jungen Afghanin erinnert uns daran, dass Solidarität, besonders die für demokratische Gesellschaften so wichtige Solidarität unter Fremden nicht umstandslos gegeben ist. Solidarität ist nicht, wenn sie nicht praktiziert wird. Doch genau dieses Praktisch-werden von Solidarität scheinen die gesellschaftlichen Verhältnisse heute eher zu verhindern als zu befördern. Oft genug wird Solidarität zudem als naives ‘Gutmenschentum‘ abgetan. Der Satz, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, bringt das unmissverständlich auf den Punkt.

Solidarität als Schattendasein

Das bürgerrechtliche demokratische Projekt der Solidarität existiert daher nur mehr als Torso. Als gesellschaftliche Praxis wurde sie zerrieben zwischen einem global entfesselten Marktgeschehen und nationalistisch agierenden, antidemokratischen Populismen. Das politische Projekt der dauerhaften Sicherung solidarischer, Selbstbestimmung ermöglichender Verhältnisse für alle führt Solidarität dagegen zunehmend ein Schattendasein.
Doch wie derzeit die Hoffnungen von Afghanen und Afghaninnen auf ein besseres Leben am Flughafen von Kabul zerschellen, lässt keinen anderen Schluss zu, als dass wir längst entschieden haben, wer überleben darf und wer nicht. Eine "Übung in Triage". So bezeichnet der US-amerikanische Journalist John Washington die gegenwärtige Asylpolitik. Tagtäglich werde entschieden, wer des Schutzes Wert sei und wer nicht, wer leben dürfe und wer nicht.

Solidarität muss für alle gelten

Wenn wir vor diesem Hintergrund über die Möglichkeiten der Wiedergewinnung von Solidarität sprechen, bedeutet das aus meiner Sicht, dass wir ein neues Ethos der Solidarität erlernen müssen. Ein Ethos, das nicht nur diejenigen berücksichtigt, mit denen wir uns - wie auch immer begründet - verbunden fühlen, sondern auch jene, die wir nicht kennen und verstehen. Und dies gerade, weil nicht wenige der Meinung sind, es könnten nicht alle berücksichtigt werden und wir könnten nur gegenüber den Angehörigen der "eigenen" Gruppe solidarisch sein. Solidarität heute sollte also identisch sein damit, "die ganze Zeit, Tag und Nacht, in Gesellschaft aller Menschen" voranzugehen, wie der Psychiater und postkoloniale Denker Frantz Fanon schrieb.
In Gesellschaft aller Menschen. Ein anderer Name für Solidarität. Für eine politische Moral, die sensibel ist für die vielfältigen Weisen von Entwürdigung und Entrechtung, für die vielen Gestalten körperlicher und emotionaler Versehrung. Die Grammatik einer Welt, in der jedes Leben zählt.

Sabine Hark, Soziolog_in, hat seit 2009 eine Professur für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin inne. Hark ist Mitherausgeber_in der Zeitschrift Feministische Studien. Aktuelle Publikation: Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation, Berlin: Suhrkamp 2021.

Prof. Sabine Hark, in den 50ern mit grauer Kurzhaarfrisur.
© privat
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