Flucht in die Provinz

Von Michael Hollenbach |
Bis vor wenigen Jahren hetzte Ulrich Kasparick als Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium von Termin zu Termin. Dann kehrte der damals 52-Jährige der Politik den Rücken und entschied sich für ein ganz anderes Leben - als Landpfarrer in einem kleinen Dorf in der Uckermark.
Ortstermin. Der marode Dachboden der Kirche in dem kleinen Dorf Nechlin in der Uckermark. Pfarrer Ulrich Kasparick trifft sich mit Mitarbeitern vom Denkmalschutz, um zu untersuchen, wie teuer eine Restaurierung würde. Einige Balken sind schon morsch. Man muss aufpassen, wo man hintritt.

"Wir hatten in der vorigen Woche noch eine Überraschung, da haben wir hier drüben noch eine versteckte Handgranate gefunden aus dem ersten Krieg. Da hatte ich noch den Munitionsbergungsdienst hier, der musste schnell handeln. Aber ist alles gut."

Der ehemalige Staatssekretär ist in der Provinz angekommen. Seit einem Jahr arbeitet der 55-Jährige mit dem grau melierten kurzen Haar nun in der Kirchengemeinde Hetzdorf. Der Pfarrer ist zuständig für 20 Ortschaften mit elf Kirchen und neun Friedhöfen.

"Zwei Drittel der Bevölkerung sind in der dritten Generation nicht-kirchlich; also da weiß schon der Großvater nichts mehr, das heißt, darauf muss man sich einstellen – sowohl in der Sprache als auch in der Art, wie man Angebote formuliert."

Entscheidend sei, dass man sich öffne, authentisch und ehrlich sei. Wer hier als Pfarrer salbungsvolle Reden halte, der habe schon verloren.

"Das heißt, man muss sich gegenseitig unterhaken, und ich bin so ein kooperativer Typ. Ich sage: Lass uns was zusammen für die Orte machen. Jeder bringt seinen Beitrag, und was wir beisteuern können, sind die Gebäude, ist Kultur, Musik, Konzerte, und natürlich Kontakte, Kontakte, Kontakte."

Auch wenn die Christen in der Uckermark nur noch eine kleine Minderheit sind, versteht sich Ulrich Kasparick doch als Seelsorger für alle. So versucht er mit verschiedenen Projekten, den Tourismus in der Region anzukurbeln.

"Ich merke, dass zunehmend Berliner kommen, die hier heiraten wollen, weil sie sagen: Wir haben hier einen schönen alten Raum, wir haben Gemeindebezug und wir haben All-inclusive-Versorgung, Übernachtung, Natur. Also Kirche wird zum Dienstleister."

Der Ortstermin auf dem Dachboden der Nechliner Kirche ist beendet. Frohe Botschaft für die Gemeinde von Nechlin: Die Renovierung des Dachs ist finanzierbar. Die Kirchenälteste, Bärbel Feierabend, hat unten an der Kirchenpforte gewartet.

Alles sofort. Schnell, schnell. Termine drängen. Es gibt keine Zeit zu verlieren. Wir reden nicht mehr miteinander, wir reden übereinander.

So steht es in dem Buch "Notbremse", das Ulrich Kasparick über seine Zeit als Politiker, als Staatssekretär im Bundesbildungs- und Verkehrsministerium geschrieben hat. Der Untertitel: "Ein Politjunkie entdeckt die Stille."

Zuhören ist eine seltene Kunst geworden. Seine Majestät, der Terminkalender, diktiert, wo ich hinzufahren habe. An manchen Tagen weiß ich am Abend nicht mehr, was eigentlich mein erster Termin am Morgen war.

"Und das sind so Zäsuren, wo man dann im Krankenbett liegt und sich fragt: Bist du noch auf der richtigen Spur unterwegs? Bei mir war der Punkt: Ich hatte mich selber überhaupt nicht mehr, ich war nur noch am Machen. Die erste Frage war morgens: Wo muss ich heute hin? Ich war überhaupt nicht mehr selbst gesteuert."

Immer schneller dreht sich das Rad. Immer lauter werde ich. Immer unfähiger, zuzuhören. Das ist die Welt des Lärms. Das ist die Welt der Politik. Das ist die Welt der Junkies. Abhängige sind wir.

Im Herbst 2009 kehrt Ulrich Kasparick dem Politbetrieb den Rücken; er nimmt sich ein Jahr Auszeit, macht in der Schweiz eine Ausbildung zum Körpertherapeuten.

"Ich weiß: Zu mir gehört eine aktive Seite, ich bin ein Problemlösungsmensch. Und dann habe ich aber eine ganz stille Seite – das gehört eben auch dazu."

Diese stille Seite kann er nun als Landpfarrer ausleben.

"Wenn Sie hier in der Uckermark draußen sitzen, dann können Sie im Winter den Schnee fallen hören. Ich hatte hier Gäste aus der Stadt: die konnten die erste Nacht nicht schlafen, weil es so still ist."

Entspannt sitzt Ulrich Kasparick auf dem Gutshof Wilsickow bei einer Tasse Kaffee. Neben ihm Ilsa-Marie von Holtzendorff, die vor 20 Jahren aus Schleswig-Holstein in die Uckermark kam. Sie war begeistert, als sie hörte, dass der ehemalige Staatssekretär statt nach Kenia in ihre Gemeinde kommen wollte.

"Da habe ich gesagt: Das ist genau das Richtige. Erstaunt waren wir natürlich, wir hatten ja auch wein wenig in seiner Vita gelesen. Er hatte sich ja zu entscheiden zwischen Nairobi und der Uckermark. So ein großer Unterschied, habe ich gesagt, ist das im Grunde nicht, auch überall hier müssen Brunnen gebohrt werden, damit was passiert."

Sie gehört zu den wenigen, die sich in der Kirchengemeinde engagieren. Doch sie spürt auch die Unterstützung für die Kirche durch Atheisten und Agnostiker.

"Und ich habe den Eindruck, dass ganz viele kirchenfremde Menschen sich plötzlich für die Dinge interessieren. Und sei es, dass sie feststellen, die Kirche im Dorf gehört zu unserer langjährigen Geschichte, die steht da seit 1000 Jahren. Und wir engagieren uns dafür, unabhängig, ob sie das Vater Unser kennen."

Und jenen, die das Vater Unser nicht mehr kennen, kommt Ulrich Kasparick entgegen. Zum Beispiel mit der Idee eines Rosengartens.

"Das hier vorne ist eine Chili. Die kann man sehr schön zum Kochen nehmen. Hier unsere Zweitälteste, die Sorte ist 2500 Jahre alt. Damaszenerrose, die wunderbar duftet."

Der Rosengarten entstand zuerst im Internet. Auf seiner Facebook-Seite berichtete Kasparick von der Idee, einen Rosengarten hinterm Pfarrhaus anzulegen. Drei Tage später kam die erste Rose von einer Freundin aus Finnland.

"Interessant sind auch die Kochrezepte: Was man alles kochen kann, das glauben Sie gar nicht. Zum Beispiel hinten habe ich eine, die heißt Golden Gate, das ist eine Kletterrose, die ist gelb, und dann nehmen Sie einfach mit der Pinzette ein Rosenblatt, machen Schokolade flüssig, halten das Rosenblatt rein, lassen es trocknen. Können Sie essen, schmeckt wie After Eight."

Mittlerweile – nach wenigen Monaten – wachsen im Pfarrgarten von Hetzdorf schon 40 verschiedenen Rosensorten. Mit tatkräftiger Unterstützung von Menschen, die sonst nichts mit Kirche am Hut haben.

"Und hier sehe ich zu meinem Erstaunen Rehspuren. Da müssen wir mal gucken, die gehen gerne daran und fressen Rosen ab."

Ein neues Problem – aber dafür hat bestimmt einer aus der weltweiten Facebook-Gemeinde des Landpfarrers eine Lösung.


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