Flucht in den Westen 1984

Als DDR-Bürger die Ost-Berliner US-Botschaft besetzten

13:37 Minuten
John Sherman Cooper, der amerikanische Botschafter in der DDR, befestigt am 9. Dezember 1974 am vorläufigen Botschaftsgebäude in Ost-Berlin das Messingschild.
Seit 1974 gab es eine Botschaft der USA in Ost-Berlin. Große Bedeutung hatte sie nicht – doch das änderte sich zehn Jahre nach der Eröffnung. © dpa/ Günter Bratke
Von Nana Brink · 14.11.2019
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1984 wurde die US-Botschaft in Ost-Berlin Schauplatz einer spektakulären Aktion: Sechs Bürger der DDR bitten in der dortigen öffentlichen Bibliothek um West-Asyl. Während sie in der Botschaft ausharren, dreht sich draußen das diplomatische Karussell.
"Erinnern Sie sich noch, wie das hier ausgesehen hat?"
"Aber natürlich, sehen Sie hier diese Ecke, wo der Bus ist, war ein OP, ein Observation Post und in der Ecke, da war auch noch einer. Dieses Haus war die Stasi: Südfrüchte unten und elektronische Überwachung oben von uns."
Ein nasser Novembertag 2019. James D. Bindenagel steht vor einer Baustelle in Berlin-Mitte in der Neustädtischen Kirchstrasse 4. Von dem alten Haus steht nur noch die stuckverzierte Fassade. Und die goldfarbene Metall-Eingangstür. Ein breites Grinsen geht über das Gesicht des ehemaligen Diplomaten. Vor genau 30 Jahren ist er jeden Tag durch diese Tür gegangen, als stellvertretender Botschafter der USA in der DDR. Der Kontakt zu den Menschen Ost-Berlin ist damals ... Bindenagel sucht nach einer diplomatischen Antwort.
"Das war distanziert, würde ich sagen, nicht mehr so angefeindet."

"Wir wollten nicht unser Leben an der Mauer riskieren"

Ex-Vize-Botschafter Bindenagel lacht. Als er in den 80er-Jahren nach Ost-Berlin kommt, sagt sein Chef: "Wir sind ruhig und spielen Tennis." Um die Ecke wird die große Politik gemacht, in der herrschaftlichen Botschaft der Sowjetunion Unter den Linden. Die amerikanische Botschaft verfügt gerade mal über zwei Dutzend Mitarbeiter.
"Die Sowjets waren wichtig, es war Kalter Krieg", so Bindenagel. "Die waren nur die SBZ, sowjetische Besatzungszone", sagt er mit Blick auf die DDR. "Wir saßen hier mit diesen komischen Leute, mit der SED, wir waren das Stiefkind des Westens."
Allerdings wird das "Stiefkind" plötzlich auffällig – sehr zum Ärger Washingtons und der "komischen Leute von der SED". Denn die Botschaft unterhält eine Bibliothek, die auch den DDR-Bürgern offen steht. Was wenige wissen. Aber einige nutzen – nicht unbedingt, um englische Zeitungen zu lesen.
Der Ex-Vize-Botschafter der USA in Ost-Berlin, James D. Bindenagel, steht vor dem früheren Botschaftsgebäude, das heute Baustelle ist.
Vom Haus der damaligen US-Botschaft in der DDR steht nur noch die stuckverzierte Fassade – und die goldfarbene Metall-Eingangstür.© Deutschlandradio/ Nana Brink
Am 20. Januar 1984 betreten sechs DDR-Bürger die US-Botschaft in Ost-Berlin. Sie gehen in die Bibliothek, stellen eine Reiseschreibmaschine auf den Tisch und tippen einen Brief an den amerikanischen Präsidenten, in dem sie um Asyl bitten.
"Ja es war schon eine abwegige Idee. Wir wollten eine spektakuläre Aktion machen, in der wir nicht beballert unser Leben riskieren, also was weiß ich, über die Mauer springen oder was. Wir sind rein gegangen und haben gesagt, wir gehen hier nicht mehr raus, wir treten in Hungerstreik, und verlassen die Botschaft auch nicht zu Fuß."

"Wenn wir jetzt da rein gehen, dann gibt es kein Zurück mehr"

Jörg Hejkal ist einer der sechs Botschafts-Besetzer. Heute lebt der 57-Jährige als Fotograf in Köln. An seinem Küchentisch lässt er die Ereignisse von damals Revue passieren. Alle sechs seien in Zweiergruppen auf unterschiedlichen Wegen zur Botschaft gegangen. Hejkal erzählt, er sei am Brandenburger Tor vorbeigelaufen, um zur Botschaft zu kommen.
Vor diesem Tor habe er eines der seltenen Gebete in seinem Leben gesprochen: "Lieber Gott, lass mich irgendwie am Ende des Tages auf der anderen Seite stehen", erinnert sich Hejkal. "Das war krass, das war wirklich ein sehr bewusster Moment." Es sei klar gewesen, dass sie alles zurück gelassen hatten. "Das ist der radikalste Schritt. Wenn wir jetzt da rein gehen, dann gibt es kein Zurück mehr."
Hejkal schüttelt den Kopf und nippt an seinem Tee. Wahnsinnige Zeit. Unwirklich, heute. Als junger Mann sitzt er vor seiner Botschafts-Besetzung zwei Jahre wegen Republikflucht im Gefängnis. Sein Vater, ein Stasi-Offizier, bespitzelt den eigenen Sohn. Nach seiner Entlassung trifft Hejkal in Ost-Berlin Gesinnungsgenossen. "Und so wussten wir, es gab Fälle von Asyl, weil die Botschaft selber ist ein exterritoriales Gelände des Landes." Auf dem Grundstück, auf dem die Botschaft steht, gilt das Recht des Landes, das die Botschaft vertritt.
Als sie dann an die Botschaft gekommen seien, sei der Trick gewesen, so Hejkal: "Wir haben gesagt, wir bleiben jetzt hier, wir gehen hier nicht raus; da haben die gesagt, ihr könnt nicht hier drin bleiben – wir können Sie auch nicht rausschmeißen!"

Das diplomatische Karussell

Die US-Amerikaner trifft die Besetzung völlig unvorbereitet. Jörg Hejkal lehnt sich zurück, dreht seinen grauen Zopf und muss lachen, wenn er daran zurück denkt. "Die waren sehr, sehr freundlich, als wir dort drin waren. So, was nehmen sich denn die Knirpse heraus oder so, hier bei den Amerikanern auf der Botschaft hier so aufzutreten." Oder vielleicht sei es auch die Perspektive gewesen, die sie als Ost-Berliner hatten, auf Amerikaner zu schauen, mutmaßt Hejkal. "Es war in irgendeiner Form friedfertig, lustig und ernstzunehmend gleichzeitig."
Während die sechs in der US-Botschaft ausharren, dreht sich draußen das diplomatische Karussell. Wolfgang Vogel, Honecker-Vertrauter und DDR-Unterhändler in Sachen Häftlingsfreikauf, wird eingeschaltet. Hans Otto Bräutigam, Chef der Ständigen Vertretung in West-Berlin, kommt zu Besuch. Es werden Angebote gemacht: Ihr geht nach Hause und dürft in ein paar Wochen ausreisen. Die Botschaftsflüchtlinge lehnen ab.
"Es wurde 18 Uhr, also kein Mitarbeiter war mehr da, nur noch Militäruniformen, es wurde Licht ausgeschaltet, nur der Gang beleuchtet, dort wurde es 19, 20 Uhr und wir waren in der Botschaft drin." Kurz vorher sei noch der der ARD-Korrespondent in Ost-Berlin, Peter Merseburger, vorbeigekommen, mit einem Aufnahmegerät - und habe gesagt: "Hey Jungs, habt ihr euch das gut überlegt? Das wird 'ne harte Nummern, wenn die Botschaft schließt, werden die euch vor die Tür setzen", erinnert sich Hejkal an Merseburgers Worte - und die Entgegnung: "Uns setzen sie nicht vor die Tür!"

Der Schlagbaum in Richtung Westen hebt sich

Peter Merseburger berichtet noch am gleichen Tag. Und Botschafter James Bindenagel bekommt Anrufe aus Washington. "Was können wir machen?", erinnert er sich an die damalige Frage. "Wir sind nicht hier, um uns einzumischen. Ein Diplomat hat zwei Aufgaben: Erstens sein Land in einem fremden Land zu erklären, und umgekehrt das fremde Land in unserem Land zu erklären."
Dann geht plötzlich alles ganz schnell. Noch am Sonntag, nur zwei Tage später, hebt sich für die sechs Botschaftsflüchtlinge der Schlagbaum in Richtung West-Berlin. Ihre kühne Aktion im Januar 1984 löst eine Kettenreaktion aus. Bis zum Sommer werden die westlichen Botschaften des Warschauer Paktes immer wieder besetzt. Dann beruhigt sich die Lage. Vorerst. Die US-Botschaft fällt wieder in ihren Dornröschen-Schlaf.
(abr)

Auch nach der erfolgreichen Flucht der sechs DDR-Bürger in den Westen über die Bibliothek der Ost-Berliner US-Botschaft bleibt die Bibliothek weiterhin offen. Sie ist Sehnsuchtsort für ganz Neugierige – und so mancher Bürger der DDR, wie der damals 15-jährige Marco Bertram aus Berlin-Mahlsdorf, findet dort eine Art Ersatz-Heimat.Über die Bibliothek kam er gar zu einem Brief von US-Präsident George Bush an ihn. Und er erinnert sich auch an die Zeit im Oktober 1989, als sich zeigte, dass die US-Botschaft aus den Erfahrungen der Besatzung von 1984 nicht gelernt hatte. Nana Brink hat Marco Bertram jetzt, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, getroffen:
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Ein Briefumschlag mit Absender "The White House" an  "M. Bertram" von 1989
© Detuschlandradio/ Nana Brink
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