Fluch oder Segen?
Wir hatten das Problem zuletzt vor sechshundert Jahren. Beim Eintritt in das Zeitalter des Buchdrucks, fürchteten diejenigen, die sich bis dahin als Hüter des wahren Wissens sahen, den Untergang des Abendlandes.
Den damaligen Kirchengelehrten nicht unähnlich, malen die heutigen Gralshüter der säkularen Wissenschaft das Ende Gutenberggalaxis in düsteren Farben. Wenn jeder, alles, für alle zugänglich, unkontrolliert als Wissen ins Netz stellen könne, dann sei das Ende des abendländischen Rationalismus nahe. Das Internet, der entfesselte Dämon des endlosen unkontrollierten grenzenlosen Murmelns, bedroht die Ordnung der Diskurse. Jeder kann dort behaupten, er habe die endgültige Lösung für dieses oder jenes Problem gefunden und es genügt ein bisschen Webdesign, um auf dem Bildschirm der Nutzer den Netzauftritt einer seriösen Institution erscheinen zu lassen.
Wir stehen wie die Pennäler vor dem Aufsatzthema: Das Internet – Fluch oder Segen? Natürlich hat uns der Buchdruck nicht nur eine Demokratisierung des Wissens, sondern im Laufe der Jahrhunderte auch eine literarisch-semantische Umweltverschmutzung gebracht. Mit dem Internet verhält es sich ähnlich. Die Kommunikationsangebote wachsen dank dieser neuen Technologie exponentiell an. Ebenso der Müll, die Verlockungen und die Nötigungen, die heute Spam heißen.
Und nicht zu vergessen: Das Netz ist ein riesiges Geschäft. Es kann Geld verdient, es können Arbeitsplätze eingespart werden. Im medialen Rauschen der erregten Kulturkritik tritt dieser ökonomische Aspekt des Internet oft in den Hintergrund. Amazon setzt dem Buchhandel, E-Bay dem Einzelhandel und diverse andere Portale der virtuellen Marktplätze diversen anderen Branchen zu. Die durch das Netz ausgelöste Implosion von Raum und Zeit beschleunigt die ökonomisch wichtigen Transaktionen. Wenn Sie heute wegen einer Frage an ein Unternehmen ein Callcenter anrufen, dann wissen Sie nicht, wo auf der Welt ihr ebenso freundlicher, wie inkompetenter Gesprächspartner sitzt. Und wenn Sie noch als sozialversicherungspflichtig beschäftigte Arbeitskraft am Monatsende ihre Gehaltsabrechnung bekommen, dann kann es sein, dass die von fleißigen Billigkräften auf dem indischen Subkontinent erstellt worden ist.
Im Vergleich dazu sind die Fragen nach der Kontrolle von Enzyklopädien wie Wikipedia im Netz nur von untergeordneter Bedeutung. Auch wer sich um die zunehmende Virtualisierung der menschlichen Kontakte durch das Internet sorgt, wiederholt vermutlich nur die Schlachten des Kulturkampfs, die bei der Einführung von Telefon und Fernsehen geschlagen wurden.
Wie alle neuen Technologien bildet das Netz zunächst auch den Ort eines Kampfs: Wer hat die Kontrolle? Ist der virtuelle Raum des Internet rechtsfrei? Gibt es eine Netzpolizei und wie sollte die beim Kampf gegen das Böse im Cyberspace vorgehen? Wie kommt man Pädophilen und Terroristen bei, die sich dort tummeln und Kinder und Staat bedrohen? Wir kennen das Problem in seiner hausbacken papierenen Form der staatlichen Zensur von Druckerzeugnissen, der wir – Ironie der Geschichte – unsere heutigen gut sortierten Staatsbibliotheken verdanken.
Die überlebensgroßen Sorgen und Hoffnungen, die sich an die neue Kommunikationstechnologie knüpfen, kann man leicht auf ein realistisches Normalmaß bringen. Die frei flottierenden Informationsmengen müssen immer noch durch den Flaschenhals des menschlichen Kopfes oder in der Sprache der Computerkultur: Software und Hardware ändern sich, aber die Wetware bleibt vorerst in ihren evolutionär gewachsenen Grenzen.
Wirklich interessant würde es erst dann, wenn es gelänge, das Nutzerinterface, die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine qualitativ zu verändern. Wenn es also eines Tages möglich wäre, die Pizza oder den neuesten Bestseller nicht nur über das Internet zu bestellen, sondern den jeweiligen Inhalt gleich direkt zu verdauen und dem Organismus zuzuführen. Vielleicht wären dann die Sorgen, dass Menschen zu reinen Anhängseln von Maschinen werden, wirklich berechtigt.
Bis dahin können wir beruhigt die Horrormeldungen über Angriffe der Cyborgs und den Untergang des Abendlandes durch das Internet genießen. Wenn wir es nicht mehr lesen wollen, genügt ein Mausklick und damit schalten wir bisher immer noch nur den Computer und nicht unser eigenes System ab. Wenn Sie aber gerne diesen Beitrag noch einmal hören oder lesen wollen, dann müssen Sie ihren Computer anschalten und ins Internet gehen. Unter www.dradio.de finden Sie alle Beiträge des Politischen Feuilletons zum Nachlesen wieder.
Dr. Reinhard Kreissl, geb. 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat u. a. an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Letzte Buchpublikation: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist".
Wir stehen wie die Pennäler vor dem Aufsatzthema: Das Internet – Fluch oder Segen? Natürlich hat uns der Buchdruck nicht nur eine Demokratisierung des Wissens, sondern im Laufe der Jahrhunderte auch eine literarisch-semantische Umweltverschmutzung gebracht. Mit dem Internet verhält es sich ähnlich. Die Kommunikationsangebote wachsen dank dieser neuen Technologie exponentiell an. Ebenso der Müll, die Verlockungen und die Nötigungen, die heute Spam heißen.
Und nicht zu vergessen: Das Netz ist ein riesiges Geschäft. Es kann Geld verdient, es können Arbeitsplätze eingespart werden. Im medialen Rauschen der erregten Kulturkritik tritt dieser ökonomische Aspekt des Internet oft in den Hintergrund. Amazon setzt dem Buchhandel, E-Bay dem Einzelhandel und diverse andere Portale der virtuellen Marktplätze diversen anderen Branchen zu. Die durch das Netz ausgelöste Implosion von Raum und Zeit beschleunigt die ökonomisch wichtigen Transaktionen. Wenn Sie heute wegen einer Frage an ein Unternehmen ein Callcenter anrufen, dann wissen Sie nicht, wo auf der Welt ihr ebenso freundlicher, wie inkompetenter Gesprächspartner sitzt. Und wenn Sie noch als sozialversicherungspflichtig beschäftigte Arbeitskraft am Monatsende ihre Gehaltsabrechnung bekommen, dann kann es sein, dass die von fleißigen Billigkräften auf dem indischen Subkontinent erstellt worden ist.
Im Vergleich dazu sind die Fragen nach der Kontrolle von Enzyklopädien wie Wikipedia im Netz nur von untergeordneter Bedeutung. Auch wer sich um die zunehmende Virtualisierung der menschlichen Kontakte durch das Internet sorgt, wiederholt vermutlich nur die Schlachten des Kulturkampfs, die bei der Einführung von Telefon und Fernsehen geschlagen wurden.
Wie alle neuen Technologien bildet das Netz zunächst auch den Ort eines Kampfs: Wer hat die Kontrolle? Ist der virtuelle Raum des Internet rechtsfrei? Gibt es eine Netzpolizei und wie sollte die beim Kampf gegen das Böse im Cyberspace vorgehen? Wie kommt man Pädophilen und Terroristen bei, die sich dort tummeln und Kinder und Staat bedrohen? Wir kennen das Problem in seiner hausbacken papierenen Form der staatlichen Zensur von Druckerzeugnissen, der wir – Ironie der Geschichte – unsere heutigen gut sortierten Staatsbibliotheken verdanken.
Die überlebensgroßen Sorgen und Hoffnungen, die sich an die neue Kommunikationstechnologie knüpfen, kann man leicht auf ein realistisches Normalmaß bringen. Die frei flottierenden Informationsmengen müssen immer noch durch den Flaschenhals des menschlichen Kopfes oder in der Sprache der Computerkultur: Software und Hardware ändern sich, aber die Wetware bleibt vorerst in ihren evolutionär gewachsenen Grenzen.
Wirklich interessant würde es erst dann, wenn es gelänge, das Nutzerinterface, die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine qualitativ zu verändern. Wenn es also eines Tages möglich wäre, die Pizza oder den neuesten Bestseller nicht nur über das Internet zu bestellen, sondern den jeweiligen Inhalt gleich direkt zu verdauen und dem Organismus zuzuführen. Vielleicht wären dann die Sorgen, dass Menschen zu reinen Anhängseln von Maschinen werden, wirklich berechtigt.
Bis dahin können wir beruhigt die Horrormeldungen über Angriffe der Cyborgs und den Untergang des Abendlandes durch das Internet genießen. Wenn wir es nicht mehr lesen wollen, genügt ein Mausklick und damit schalten wir bisher immer noch nur den Computer und nicht unser eigenes System ab. Wenn Sie aber gerne diesen Beitrag noch einmal hören oder lesen wollen, dann müssen Sie ihren Computer anschalten und ins Internet gehen. Unter www.dradio.de finden Sie alle Beiträge des Politischen Feuilletons zum Nachlesen wieder.
Dr. Reinhard Kreissl, geb. 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat u. a. an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Letzte Buchpublikation: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist".