Flirrende Momentaufnahmen

07.07.2008
In den Texten des Buches "Madrid. Eine literarische Einladung" spielt immer wieder eine Rolle, dass die spanische Metropole eine Stadt der Zugezogenen ist - ein Pflaster, das manche betreten und auf dem andere aufschlagen. Herausgekommen ist kein in sich ruhendes und ausgefeiltes Panorama-Gemälde über literarische Orte der Stadt , sondern eine unruhige Collage aus flirrenden Momentaufnahmen.
Kann eine "Einladung" in eine Stadt funktionieren, von der einer, der in dieser Anthologie versammelten Texte, versichert, sie sei "eine unwirkliche Stadt" (Javier Marías)? Sollte man sich einem Ort nähern, von dem ein anderer Autor, Ramón Gómez de la Serna, behauptet, er sei "so romanhaft, dass sein perfekter Roman von dem noch Ungeschehenen handelt"? Wo die Seelen der Toten mit dem Bus fahren, als sei das normal (Santiago Roncagliolo)? Wäre es nicht ratsamer, sich fern zu halten von einer Szenerie, in der eine eher flüchtige Bekannte einem Ich-Erzähler versichert, sie sei verrückt, und obendrein allen Ernstes behauptet, die Frau des Regierungschefs zu sein (Juan José Millás)? Von dubiosen Messerwerfern oder Zuhältern ist die Rede (Rosa Montero, Manuel Rivas), von einem Fluss, der eher einer Kloake ähnelt (Francisco Umbral), von jungen Männern aus Osteuropa, die sich prostituieren (Eduardo Mendicutti), und jungen Frauen, die die Nacht wie einen großen Drogenbasar durchstreifen (Lucía Etxebarría).

Es ist das Privileg der Literatur, andere Blicke werfen zu dürfen als es ein touristisches Interesse nahelegen könnte. Diese Blicke reichen meist tiefer hinein in das nicht immer glänzende Wesen eines Ortes, an dem sich freilich – siehe oben – statt der Gewissheiten auch neue Rätsel auftun können. Willkürlich zusammengestellt ist diese Anthologie aber trotz solcher Rätselhaftigkeit keineswegs. Sie bildet zum einen eine Art Chronik des 20. Jahrhunderts, indem sie von einer modernistisch bewegten Boheme am Jahrhundertanfang über das kontrovers-romantische intellektuelle Kaffeehaus-Klima am Vorabend des Bürgerkriegs, den Bürgerkrieg selbst, die Nachkriegszeit, den Umbruch durch den Tod Francos und die nachfolgende eruptive vitale Entfesselung bis zu den Veränderungen nach dem Berliner Mauerfall die wesentlichen historischen Abschnitte streift, die für Spanien und damit für Madrid wesentlich waren.

Auch inhaltliche Linien lassen sich – über die Zeiten hinweg – immer wieder verfolgen. Der Umstand etwa, dass Madrid eine Stadt der Zugezogenen ist, ein Pflaster, das manche betreten und auf dem andere aufschlagen, spielt in den Texten immer wieder eine Rolle.

Lässt sich so eine Stadt literarisch porträtieren? Unbedingt. Aber es kommt kein in sich ruhendes und ausgefeiltes Panorama-Gemälde dabei heraus, sondern eine unruhige Collage aus flirrenden Momentaufnahmen, die den Geist dieser Stadt hervorragend widerspiegelt.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Marco Thomas Bosshard, Juan-Manuel García Serrano (Hrg.):
Madrid. Eine literarische Einladung

Aus dem Spanischen, übersetzt u. a. von
Heinrich von Berenberg, Fritz Rudolf Fries, Dagmar Ploetz und Gerda Schattenberg-Rincón
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008
144 Seiten, 15,90 Euro