Fliegender Holländer auf Französisch

Von Frederik Hanssen · 21.05.2013
Nicht nur Richard Wagner hat einen "Fliegenden Holländer" komponiert. Auch der Franzose Pierre-Louis Dietsch vertonte den Stoff, inspiriert von einem Entwurf Wagners. Mehr als 170 Jahre nach der Uraufführung wurde "Le vaisseau fantôme" nun wieder gespielt. Marc Minkowski dirigierte im Schlosstheater von Versailles.
Hoffnungsvoll macht sich der junge Richard Wagner 1840 von Riga aus auf den Weg, um die Weltmusikhauptstadt Paris zu erobern. Doch Wagners Werke will dort keiner spielen, der Intendant der Opéra bietet ihm lediglich 500 Francs für seine Prosaskizze zum "Fliegenden Holländer". Er hat dem Komponisten Pierre-Louis Dietsch nämlich schon lange ein Libretto versprochen. Während Wagner parallel an seinem "Holländer" schreibt, vertont Dietsch die französischen Verse, die ihm Paul Foucher geschmiedet hat.

Am 9. November findet die Uraufführung von "Le Vaisseau fantôme ou le maudit des mers" an der Pariser Oper statt. Ganze elf Mal wird das Stück gespielt, dann verschwindet die Partitur in der Bibliothek des Theaters. Pierre-Louis Dietsch macht danach keine weiteren Versuche auf dem Gebiet des Musiktheaters mehr, schreibt dafür zwei Dutzend Messen. Richard Wagner dagegen, der seinen "Fliegenden Holländer" knapp zwei Monate nach Dietsch in Dresden herausbringt, begründet mit dem Stoff seinen Weltruhm.

Der umtriebige Marc Minkowski hat das "Vaisseau fantôme" nun erstmals nach mehr als 170 Jahren in einer konzertanten Version wieder zur Diskussion gestellt. Angeregt wurde das Projekt, bei dem Minkowski auch Wagners "Holländer" dirigierte, von der Stiftung "Palazzetto Bru Zane", die sich seit einigen Jahren intensiv der Pflege der romantischen französischen Musik widmet.

Die Aufführung am Dienstag im Schlosstheater von Versailles verblüffte alle Zuhörer: Den Vorwurf, dass Pierre-Louis Dietsch "Feuer und Eingebung fehlten", wie man im einzigen Lexikon-Eintrag über ihn lesen kann – in der alten Ausgabe der "Musik in Geschichte und Gegenwart" –, vermochte Minkowski mit seinen Musiciens du Louvre und einem exzellenten jungen Sängerensemble zu entkräften. Unterhaltung auf hohem Niveau bietet Dietsch, seinem Melodien sind eingängig, mancher marschartige Chor mitreißend, die Gewitterstimmung auf See fängt er ebenso geschickt ein, wie man das von Gioacchino Rossinis "Cenerentola" kennt.
Rossini ist ein wichtiges Stichwort: Denn neben der grand opéra Meyerbeers und der leichten opéra comique nach Art von Daniel Francois Esprit Auber dominiert um 1840 der italienische Belcanto den Geschmack des Pariser Publikums. Und an dem orientiert sich Dietsch. Also schreibt er seiner Primadonna – die hier nicht Senta heißt, sondern Minna – große Arien mit vielen Koloraturen in der Stretta. Also darf bei ihm der Kapitänsvater als echter Bassbuffo launige Couplets singen, also legt er Minnas Verlobtem Magnus eine sentimentale Romanze in den Mund, die sich bestens dazu eignet, später in den großbürgerlichen Salons am Pianoforte nachgesungen zu werden.

Wie avantgardistisch, wie weit seiner Zeit voraus Richard Wagner mit dem "Fliegenden Holländer" war, zeigt sich an Dietschs Musik ebenso wie an seinem Libretto. Wo Wagners Figuren ein Geheimnis haben, doppeldeutig sind, ist hier alles ganz konventionell gestrickt: Minna erfährt erst durch Magnus von dem "Verdammten der Meere". Der nämlich hat einst im Streit Magnus Vater getötet und wurde darum mit einer ewig blutenden Wunde gestraft. Warum Minna, die mehrere Gesangsnummern lang ihrem Verlobten treu bleiben will, im Duett mit dem Holländer (der bei Dietsch ein Schwede ist), plötzlich doch emotional umschwenkt, wirkt unvermittelt.

Bei der Trauzeremonie, die Magnus durchführt, der überraschend Priester geworden ist, entlarvt sich der Verdammte selber, indem er beim Griff nach dem Ehering unabsichtlich seine Wunde zeigt. Dass sich Minna dennoch für ihn ins Meer stürzt, ist ein coup de théâtre, der wohl schon damals wenig einleuchtete. Nur so ist zu erklären, warum dieses musikalisch so publikumsfreundliche Stück 1842 durchgefallen ist.