Fleißig, ehrlich, unfreundlich

Von Ernst-Ludwig von Aster und Wojtek Mroz |
Umfragen zufolge hat sich 20 Jahre nach dem Mauerfall und fünf Jahre nach dem polnischen EU-Beitritt das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen normalisiert. Von großer Harmonie zwischen den Nachbarn kann dennoch keine Rede sein.
Im Sekundentakt schieben sich die Pkw über die Brücke. Daneben Fahrräder, Fußgänger. Von Ost nach West. Von West nach Ost. Unten rauscht die Oder, der Grenzfluss, oben rollt der polnisch-deutsche Alltagsverkehr. Über die Stadtbrücke zwischen Slubice und Frankfurt Oder

„Wir treffen uns doch jeden Tag, wir haben uns an die Deutschen gewöhnt.“

„Wir treffen uns jeden Tag, wir haben uns an die Deutschen gewöhnt“, sagt Sneschana. Die junge Polin ist auf dem Weg nach Frankfurt Oder, will dort Kontaktlinsenflüssigkeit kaufen.

„Als Polen dem Schengen-Abkommen vor eineinhalb Jahren beigetreten ist, da das gab es hier eine große Party mit Feuerwerk. Wir haben einen Umzug gemacht, die Wissenschaftler von der Uni, die Studenten, der Woiowode. Alle waren wir auf der Brücke. Einige saßen sogar auf den Pfeilern. Alle waren gut drauf ...“

Sneschana lacht, sie erinnert sich noch gut daran. Weil sie am nächsten Morgen Kopfschmerzen hatte.

Ein Rentnerpärchen bleibt stehen. Hört interessiert zu. Auch sie haben hier schon gefeiert. Vor fünf Jahren. Den EU-Beitritt.

„Vor fünf Jahren war hier eine nette Feier.“
„Hier gab es eine Bühne mit Show, dann kamen die Regierungsvertreter, alle haben gesungen, gefeiert, es war sehr lustig.“

Das war eine nette Feier, sagt der pensionierte Lehrer. Es gab eine richtige Bühne, der deutsche und der polnische Außenminister waren da. Alle haben gesungen und gefeiert. Und es gab reichlich Essen und Bier. Seine Frau nickt zustimmend. Damals fanden 44 Prozent der Polen die Deutschen seien „grundsätzlich sympathisch“. Heute sind nur noch 29 Prozent.

„Politik interessiert uns nicht, wir sind doch Rentner, ehemalige Lehrer, was sollen wir uns über die Nachbarn ärgern, es reicht uns, was wir hier haben ...“

„Politik interessiert uns nicht“, sagt der pensionierte Lehrer. Wir sind doch Rentner. Warum sollen wir uns über die deutschen Nachbarn ärgern, wir haben doch genug Ärger bei uns in Polen. Es ist doch schön, dass man jetzt einfach so von hier nach da gehen kann. Ganz ohne Kontrollen. Sneschana, die Studentin nickt. 700.000 Grenzgänger passieren die Brücke jeden Monat.

„Die Nachbarschaft ist nicht schlecht. Die Deutschen haben ein bisschen mehr im Kopf als die Polen. Die können ihre Dinge einfach gut organisieren. In politischen Fragen sind sie effizienter. Allgemein lebt man dort besser, als bei uns.“

Nein, deutsche Freunde hat sie nicht. Sie kennt ein paar Studenten. Mit denen geht sie manchmal Kaffee trinken. Dann reden sie auf Englisch miteinander. Jetzt aber muss sie weiter. Sneschana verabschiedet sich. Geht ein paar Schritte Richtung Westen, dreht dann noch einmal um. Ihr ist noch etwas eingefallen:

„Es ärgert mich ein wenig, dass die Deutschen Ansprüche auf Gebiete stellen, die sie angeblich verloren haben. Das ist nicht in Ordnung. Wir sind hier nicht von alleine hergekommen. Das war die Aufteilung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Polen könnten auch Ansprüche auf ihre Ostgebiete stellen, aber das ist doch Geschichte.“

Doch manchmal reicht die Geschichte bis in die Gegenwart. Und trübt dann das polnisch-deutsche Verhältnis. So wie im Danziger Stadteil Oliva. Nur wenige Kilometer von der Westerplatte entfernt. Wo heute des Ausbruchs des zweiten Weltkrieges vor 70 Jahren gedacht wird.
Ein braunes Holztor vor der Einfahrt, daneben ein kleiner Holzpavillon. Ein Zaun und eine dichte Hecke versperren den Blick von der Straße. Der Besitzer des Hauses Nr. 52 an der Uliza Polanki im Danziger Stadtteil Oliva liebt die Zurückgezogenheit. Hier wohnt Lech Walewsa, der ehemalige polnische Präsident und Friedensnobelpreisträger. Drei Häuser weiter rechts aber ist es mit der Ruhe vorbei, hier suchen Nachbarn förmlich die Aufmerksamkeit.

Andrzej Felsztynski steht in seinem kleinen Vorgarten, legt den Kopf in den Nacken, gehrt einige Schritte rückwärts. Versucht das große weiße Banner in den Blick zu bekommen, das sich quer über die Hauswand zieht. Zwischen Erdgeschoss und erstem Stock steht:

„Es ist das nächste Haus, das welches sie uns wegnehmen. Die Regierung wartet auf ein Wunder, wir warten auf die Rettung.“

Knallrote Buchstaben auf weißem Grund. Zweizeilig quer über die ganze Hauswand. Schon von weitem zu sehen. Nur ein einziges Wort ganz oben rechts zugeklebt? Felzytysnski lächelt.

„Sie sehen, das Wort Deutsche ist zugedeckt. Der Stadtrat hat auf uns Druck ausgeübt, dass wir das Wort Deutsche abdecken ...“

Und da er keinen Ärger will, hat er es abgeklebt. Denn Ärger hat er schon genug. Der schlanke Endfünfziger bittet ihm zu folgen, es geht einige Schritte rechts herum, dann an der Seitenwand des Hauses entlang.

„Mein Großvater ist aus Gdynia verjagt worden, nach dem Krieg ist er hier eingezogen, 1947. Damals lebte der Besitzer noch hier, das war ein Herr Lindhoff. Als er 1963 starb, ist seine Frau nach Deutschland ausgewandert. Sie hat auf das Haus verzichtet. Und dafür eine Entschädigung bekommen. Aber jetzt wittert die nächste Generation, dass hier Geld zu holen ist, und will das Haus zurückhaben.“

Felstynszki bittet ins Haus, über alte Holzdielen geht es, an der Küche vorbei ins Wohnzimmer. Dort sitzt sein Sohn auf dem Sofa.

„Hier ist mein Sohn, der lernt in der Schule die deutsche Sprache.“

„Er lernt Deutsch in der Schule“, sagt der Vater. Der 16-Jährige nickt kurz zur Begrüßung. Verschwindet dann schnell in sein Zimmer. „Das Sprechen muss er noch ein bisschen üben“, witzelt sein Vater.

„Ich bin hier geboren, mein Großvater kam hier 1947 oder 48 her, genau weiß ich es nicht. Hier haben meine Eltern geheiratet, ich bin hier geboren, meine Eltern sind hier verstorben, meine erste Frau ist hier gestorben. Alles, was meine Person angeht, dreht sich um diese Wohnung.“

Auf einem kleinen Beistelltisch hat er gut ein Dutzend DIN A 4 Kopien bereitgelegt. Der 56-Jährige beugt sich nach vorne, zieht ein Blatt aus dem Stapel. Die erste Mitteilung, dass eine deutsche Familie Ansprüche auf das Haus erhebt, kam ausgerechnet an einem 1. April.

„Ich dachte nach dem ersten Brief, dass das ein Scherz ist. Wir sind dann gleich zu unserer kommunalen Hausverwaltung gelaufen. Und die haben gesagt: Lassen Sie die Sache einfach in Ruhe laufen.“

Doch unruhig wurde er trotzdem. Nun beschäftigt dieser Fall schon seit zwei Jahren die Gerichte und es ist völlig unklar, wie es mit den sieben Mietern des Hauses weitergehen soll.

Jacek, der Nachbar kommt herein. Ein Hüne in Jeans und Pullover, Bernsteinschleifer von Beruf. Er legt noch einen Stapel Dokumente auf den kleinen Glastisch.

„Wir haben die Wohnung meiner Mutter gegen diese hier eingetauscht, das haben wir über die Stadtverwaltung gemacht. Wir waren überzeugt, dass dieses Haus der Gemeinde gehört, dass die alten Besitzer auf alle Rechte verzichtet hätten.“

Die Kommune schloss mit ihm einen Mietvertrag. Wie mit allen Nachbarn. Felstynski nickt. Greift wieder in seinen Kopien- Stapel, zieht noch ein Dokument hervor.

„Sogar die Kinder der Besitzerin haben verzichtet. Dr. Raymond Lindhoff, der bis vor kurzem noch lebte, hat an die Kommunal-Verwaltung geschrieben. Und seinen Verzicht bestätigt. Das hat er 1966 gemacht. Das wurde sogar beim Notar gemacht.“

Trotzdem schaffte es die Enkelin der ehemaligen Hausbesitzerin sich in das Grundbuch eintragen zu lassen. Wie das geschehen konnte, weiß bis heute niemand. Allerdings steht fest:

„Wir konnten sehen, das unsere Kommunal-Regierung das verschlafen hat. 1967 war notariell alles klar. Und die Kommune hat das in die Schublade gelegt. Und liegenlassen. Jahre später hat die Gemeinde die Erben angeschrieben, mit der Bitte, zu verzichten. Das war für die deutsche Seite ein Signal: „Oha, hier gibt es etwas zu holen.“

Andrzej Felstynski schüttelt den Kopf. Der pensionierte Lackierer hat viele deutsche Freunde, seine Patentante lebt in Hamburg. Keiner kann verstehen, was zur Zeit hier abläuft. Die Freunde regen sich mindestens so auf wie wir, sagt er.

„Sie waren empört, dass die versuchen das hier wiederzukriegen. Obwohl ihre Vorfahren verzichtet haben. Und das ohne Rücksicht auf die Leute, die hier leben. Hätte ich gewusst, dass es soweit kommt, dann wäre ich doch in eine Wohnungsbaugesellschaft eingetreten und hätte nicht mein Geld in dieses Haus gesteckt. Hier war nichts, keine Heizung, nichts.“

Dass nun irgendwelche deutschen Erben davon profitieren sollen, macht ihn ärgerlich. Jacek nickt. Auch er hat viel in den Umbau seiner Wohnung investiert, lebt seit zehn Jahren hier. Er lächelt resigniert. In Deutschland, sagt er, wäre so etwas nicht passiert:

„Die Deutschen sind vielleicht ein bisschen steif, sie sind nicht spontan. Und sie improvisieren nicht so gerne wie wir. Aber sie sind ordentlich, achten ihre Regierung und handeln so, wie es das Gesetz vorsieht.“

Eine deutsche Gemeinde hätte ihre Besitzansprüche auf das Haus sofort eingetragen, da ist er sich ganz sicher. Doch das hilft ihnen jetzt nicht weiter. Sie müssen kämpfen. Mit den Versäumnissen der Vergangenheit. Und den Begehrlichkeiten von heute. Die Stadtverwaltung hat signalisiert, dass sie ihnen helfen wird. Der Oberbürgermeister hat versprochen, dass er sich kümmert. Und gebeten, das Wort „Deutsche“ von der Hauswand zu streichen. Das haben sie getan. Und seitdem aus der Stadtverwaltung nichts mehr gehört

„Aus der historischen Sicht – ist es eine Sache. Aus der menschlichen Sicht eine andere. Aus der juristischen Sicht aber ist die Sache für uns verloren. Es ist einfach traurig, das unsere Politiker nur an sich gedacht und über 20 Jahre nichts gemacht haben.“

Jacek zuckt mit breiten Schultern. Hält die Papiere in den großen Händen. Was sollen sie machen? Er weiß es nicht.

„Ich möchte die Leute, die das Interesse hier am Haus haben, gerne kennenlernen. Es wäre doch gut, wenn sie uns treffen würden, sie sollen uns anschauen, mit uns reden. Vielleicht würden sie dann anders denken.“

Sein Nachbar nickt. Er will die Hoffnung nicht aufgeben. Die deutschen Erben könnten doch den großen Garten bekommen, dort das Bauland zu Geld machen. Und die Mieter könnten weiter bei der Kommune im Haus wohnen.

„Ich sage: Als der alte Herr Lindhoff krank war, hat meine Mutter ihn mit gepflegt, er war doch sehr gebrechlich. Die Polen und die Deutschen haben in diesem Haus doch immer sehr gut zusammen gelebt.“

Gut 400 Kilometer südwestlich, in Slubice, sitzt Dr. Krystof Wochiejowski an seinem Schreibtisch. Studiert polnische und deutsche Tagezeitungen. Wie jeden Morgen. Seit Jahren verfolgt der Soziologe und Philosoph die Stimmungsschwankungen im deutsch-polnischen Verhältnis. Aus beruflichen Gründen: Der 53-Jährige leitet das Collegium Polonicum. Hier lernen polnische und deutsche Studenten zusammen. Eine grenzüberschreitende Bildungsstätte, gegründet von der Adam-Miskiewicz Universität aus Poznan. Und der Europauniversität Viadrina aus Frankfurt (Oder).

„Ich sehe manchmal mit Staunen und Schrecken, wie aus unbedeutenden problematischen Phänomenen richtige Affären entstehen: Die Gründung von der preußischen Treuhand, fünf Mann haben einen Verein gegründet ... etwas was am Rande der deutschen Gesellschaft passiert, was in Deutschland übenhaupt nicht zählt, so etwas führt in Polen zu einem Parlamentsbeschluss ...“

Wojchiechowski wiegt den Kopf. Ob Vertriebenen-Debatte, Preußische Treuhand, oder – wie erst kürzlich – der Sorgerechtsstreit eines polnisch-deutschen Paares um das gemeinsame Kind – die polnische Presse berichtet ausführlich. Und ausgiebig:

„Diese Empfindlichkeit gegenüber allen unser Selbstwertgefühl mindernden Signalen von der deutschen Seite ist wirklich sehr beachtlich. Das hat nichts mehr mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, das ist auch bei der Generation vorhanden, die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg geboren ist. Das hat auch nichts mit Frau Steinbach zu tun oder den Vertriebenenverbänden. Das ist einfach eine Relation: großer Nachbar mit großer Wirtschaft, großem Geld usw. kleiner Nachbar mit kleinem Geld usw.“

Ein Ähnliches Verhältnis verbindet Polen auch mit Litauen, sagt Wojciechowski. Nur dass in diesem Fall Polen der große Nachbar ist. Der 53-Jährige nimmt einen Schluck Kaffee, lehnt sich im Bürostuhl zurück. Streckt die Beine untern dem Tisch aus. Rund 6000 deutsch-polnische Ehen werden jedes Jahr geschlossen, hat er neulich in der Zeitung gelesen. 61 Prozent der Polen würden heute einen deutschen Schwiegersohn oder Schwiegertochter akzeptieren. Wochichowski schmunzelt. So schlecht kann da das polnisch-deutsche Verhältnis doch nicht sein. Vielleicht ist es ein wenig so wie in einer Ehe, sagt er. Wie in einer Ehe, die in die Jahre gekommen ist.

„Und in so einer Ehe gibt es mit eiserner Konsequenz gewiss Erscheinungen. Zum Beispiel: Man kennt sich sehr gut und man findet den anderen nicht so sexy wie früher und nicht so spannend und interessant wie vor der Ehe oder in den ersten Jahren. Allerdings man ist gewissenhaft. Und erfüllt gewisse Verpflichtungen.“