Flaute in Sommerloch
Wir kennen es. Alle Jahre wieder rufen einige Redakteure das journalistische "Sommerloch", also eine ereignisarme Zeit, aus. Und alle Jahre wieder pilgern Journalistentrecks nach Sommerloch, dem gleichnamigen Ort.
Im Sommer. Weil ja dann "Sommerloch" ist. Sagt man. Und was ist in Sommerloch so los, wenn halt kein politisches Sommerloch geortet wird?
Ja gut, sagt Herr Keber häufig am Satzanfang. Wie der Berti Vogts. Ja gut, vielleicht liegt das daran, dass Herr Keber in den Glanzzeiten des SV Sommerloch auch mal gekickt hat. Damals, als seine Mannen ein Jahr lang durch die Amateurliga wirbelten. Aber vielleicht ist es auch einfach nur die Erfahrung eines Ortsschulzen mit den Medien des Landes: Alle Jahre wieder - Sommerloch.
Ja, ich kann die Uhr danach stellen. Ich weiß, wenn Juni, Ende, Mitte Juli kommt, dass es dann losgeht. Dann geht es mit Anrufen los. Und das ist dann meistens so, mit kleinen Statements von 1,2 Minuten. Länger dauert das nicht, das geht ganz schnell.
Herr Keber ist Ehrenbeamter und Bürgermeister. Das ist wichtig und sein Vorname: Ferdinand. Es gibt mehrere Keber, hier, in Sommerloch, in dem Dorf, wo man die Straßen noch findet, weil: man kann sie an zwei Händen abzählen; dort, wo die Friedhofstraße noch zum Friedhof führt und wo die Hauptstraße nicht mal 4oo Meter lang und dennoch die Hauptstraße ist. Sommerloch - gleich um die Ecke bei Bad Kreuznach.
Ja, was wollen die wissen? Die fangen die Sendung meistens so an, dass sie sagen: Wir haben es gesucht, wir haben es gefunden und so weiter. Es gibt es, es gibt das reale Sommerloch. Also nicht nur das Synonym, also nicht nur Loch Ness, es gibt es - Sommerloch, das real existiert. Das mussten wir suchen, aber wir haben es gefunden! Und dann fragen die: wie viel Einwohner, wo liegt es, wie komme ich nach Sommerloch, was ist da los, kann ich da Urlaub machen? Die fragen das alles.
So und ähnlich fangen die Medienleute Jahr um Jahr ihre Top-Sendungen über Sommerloch an. Meistens so, besagt die Erfahrung vom Keber-Ferdinand. Ja gut, originell fand er mal den Journalisten, der vor laufender Kamera ein Sommerloch in den Boden grub. Der Bürgermeister erinnert sich noch ganz genau: auf dem Sportplatz wars. Und ärgerlich kommt ihm die Schlagzeile vom Priestermord in Sommerloch hoch. Eine überregionale Tageszeitung hat er im Verdacht. Aber es war nur der "Öffentliche Anzeiger", der Frevler war der hiesige Lokalmatador, kein Weltblatt.
Also, Sommerloch steht nicht immer im "Öffentlichen Anzeiger" und nicht immer in der "Allgemeinen Zeitung". Das sind unsere beiden Lokalzeitungen. Aber Sommerloch steht für seine Größe oft genug in der Zeitung. Im Sommer, im Sommerloch um so mehr, sogar in Tagesblättern, in Weltblättern - sage ich jetzt mal - wie der FAZ.
Freitagmorgen in Sormmerloch. Der Matthes nimmt den Keber-Ferdinand und Gemündens Claudia mit. Der erste Bus um sechs Uhr kann nun durchfahren.
Heinz Rung dürfte schon auf seinem Arbeitsplatz, dem Flughafen in Frankfurt/Main angekommen sein. Bernd Sturm fährt gleich los ins Ministerium nach Mainz. Und Haßlinger, der Steuerberater, wird so gegen 6.4o Uhr aufbrechen.
Freitagfrüh in Sommerloch. An Arbeitstagen wie diesem, da schrumpft die 42o-Seelen-Gemeinde arg zusammen.
Eine Telefonzelle und vier Zigaretten-Automaten, ein Installationsbetrieb und ein Fensterbauer - dies sind weitere Ortsdaten. Und wer mehr als nur das Ortsschild mit der überraschenden Aufschrift "Sommerloch" zum zigsten Male im Visier hat, der weiß beispielsweise nach der Lektüre der Dorfchronik auch anderes.
Zum Beispiel, dass die Sommerlocher eben nicht in einem Loch wohnen, sondern das sie eine vormals feuchte Mulde (sprich: Lache) besiedeln, die halt nach Süden (sprich: sumer) gelegen ist. Damit wäre also die sprachliche Herkunft von Sommerloch geklärt, das seit je her, also seit mindestens 785 Jahren, zu Füßen des Soonwaldes am Südhang des Hunsrück liegt und somit zum Weinbaugebiet Nahe gehört.
Zwei Nahwein-Königinnen wohnen im Orte, und die Antonette, sagt der Bürgermeister, war sogar deutsche Weinprinzessin. Das war 199o, heute zeigen einige gerodete Weinberge in der Gemarkung einen Strukturwandel an. Der Weinanbau nährt nur noch 13 reine Winzerbetriebe in der Gemeinde und die alten Sommerlocher halten nur noch aus Gewohnheit am Weinanbau als Nebenerwerb fest. Die jungen Leute winken schon lange ab.
Flaute in Sommerloch. Ein ganz gewöhnlicher Freitag ohne aufgeregte Reporter, tolle Fragen und dieses alle-Jahre-wieder-wolln-doch-mal-schaun-Abgenicke in den deutschen Wohnstuben. Alltag in Sommerloch, ganz gewöhnlicher Alltag.
Journalisten: Ja, ja. So langsam sage ich, wir könnten anfangen, wir könnten ins Fernsehen gehen. Die können das an den Nagel hängen.
Da, wo der Zimmermann seinen Zollstock trägt, da hat er einen Klappsäge stecken. Und die klobigen Schuhe, in denen der Günther Joerg über den Weinberg stapft, diese Schuhe sind zum Aufblasen. Army-Stiefel, die schön wärmen.
Die Wolken hängen tief, am Fuße des Steilhangs des Weinberges grasen Schafe, rechterhand, in der Mulde, reckt sich das Sommerloch - aus den Schornsteinen steigt Rauch auf. Der Weinbauer hat dafür keinen Blick übrig, zeigt dem Ort den Rücken. Rebschnitt ist angesagt.
Die schneide ich noch vorne ab.
Die schneiden wir noch ab.
Ach, die … sind so fest. Sehen Sie, der Bindedraht, der Biegedraht. Muss man alle klein schneiden.
Die rechte Hand ist zerkratzt, das ist er gewöhnt wie so manch anderes. Seit dem 15. Lebensjahr zieht er des Tags in die Weinberge oder aufs Feld, des Abends steht er hinter dem Thresen. Und an manchen Tagen ist es hundekalt und es zieht ein Mistgeruch so von der penetranten Art von Schuhriemens Scholle rüber.
War vergangenes Jahr beim Arzt gewesen in Kreuznach, beim Knochendoktor. Hat der untersucht. Normaler Verschleiß - das sagt der schon seit 2,3 Jahren. Ja, sag ich, muss ich schaffen, bis es ganz kaputt ist. (lacht)
Joerg schaut kurz vom Rebschnitt auf und erzählt dann von seinen fünf Kindern, die mit dem Weinberg nichts am Hut haben wollen, wie der Rebschnitt am Steilhang auszusehen hat, dass es heute noch Eisregen geben wird, weil es am gestrigen Abend diesig und windstill war und noch so andere Anzeichen gab.
Is auch so Sach. Ich bin es, wir sind es nicht anders so gewöhnt. Seit meiner frühen Kindheit … ich war gerade 15 Jahre, da ist mein Vater gestorben. Und seitdem mache ich es eben. Nix Buldog, nix Maschine. Oder in der Landwirtschaft … mit Sense gemäht. Nix Maschine. Wenn sie das heute der Junge erzählen, die sagen: Knn doch nicht wahr sein, dass es mal so war. So war es aber. Ja, so quälen wir uns ab, bis wir jämmerlich aufhören.
Zwei Morgen Weinberg hat er noch, früher wars mehr. Der Preisverfall und die Mengenregulierung, sagt Günther Joerg, und dass er bald aufhören werde mit dem Weinberg - wie die anderen Klassenkameraden auch, wie der Schuhriemen, der mit dem penetrant stinkenden Mist. Und überhaupt werde die einfache Arbeit zu gering geschätzt.
Was will man noch mehr. Und ich sage, mitnehmen können wir nichts. Und das ist das Einzige, was so schön eingerichtet ist, da sind Tote alle gleich, alle. Das ist das einzige wirklich gerechte auf der Welt, dass keiner was mitnehmen kann … und sich kein Leben kaufen. Also das finde ich. Finde ich mich auch mit ab.
Der Kater ist ein Findelkind und heißt Mikesch, die Ziege hat auch irgend einen Namen, der Hamster hat einen, auf den er nicht hört, nämlich Karotte, und Frau Feddersen kann sich noch immer darüber wundern, dassie Leute in Sommerloch zum Bäcker nicht Bäcker sagen, sondern Bäckersch.
Frau Feddersen ist eine Zugereiste. Das zeigt der Name schon an, der auf dem selbstgefertigten Türschild steht, und der von ihrem norddeutschen Mann ist, der gerade dienstlich für ein paar Tage auswärts unterwegs ist. Sie, Frau Feddersen, kommt aus Bayern und sagt, dass Helene eine kleine Hexe ist. Aber der Reihe nach.
Im Oktober 91 bestellten Feddersens eine Zentralheizung und Lenchen weigerte sich, in ihrer kleinen Kammer ins Bett zu gehen, sagte: Es brennt, es brennt. Die Zentralheizung ließ auf sich warten und zehn Tage vor Weihnachten brannte es, unter Lenchens Bett schlugen die Flammen hervor. Aus dem Abzug in der Kammer aus dem 3ojährigen Krieg waren Steine raus gebrochen.
Lenchen behielt also Recht und die Nachtwache der hiesigen Feuerwehr konnte endlich mal wieder einen gelöschten Brand feiern, also begießen, und Sommerloch zeigte, was hier Gemeinsinn heißt.
Drei Tage Notquartier bei Heths und ihren Kindern, drei Tage bei Orbens. Frau Barth brachte Töpfe mit Essen, andere Frauen aus dem Ort kamen mit Wäschekörben und der Aufforderung: Schmeiß mal rein.
Das ist auch so eine Freitagsgeschichte aus Sommerloch.
Ich sitze eigentlich viel da am Fenster, obwohl ich … gucke da durch die Gegend - und warte, bis die Sonne kommt - durch die Gegend und die Umgegend.
Heute sitzt Julius mit dem Rücken zum Fenster, er muss trinken, auf sein Wohl anstoßen. Auswärtige rufen ihn pausenlos ans Telefon und er läuft ein ums andere mal zum Apparat. Julius Barth hat Geburtstag. 75 hat er gezählt, die anderen haben auch mitgezählt und schauen mal rein.
Nämlich, wie gesagt, jeder kennt jeden, da weiß man genau an der hinteren Ecke, was wird gekocht auf der anderen Seite. Weil jeder jeden kennt.
Frau Barth ist um ihren üblichen Mittagsschlaf gekommen, denn die Gäste wollen versorgt sein: mit Speis und Trank, mit Neuigkeiten und Erinnerungen. Überhaupt hat Frau Barth auch sonst so ziemlich alles in der Hand und außerdem passt sie auch ein wenig auf ihren Julius auf. Weil: Das kommt doch alles auf Band, wie sie mehrfach zu ihm sagt.
Aber die Reportagen sind dann immer ziemlich knapp, vielleicht zwei Minuten. Dann ist das gesamte Thema … Und du sitzt nun am Ding und wartest. Des muss doch dann und dann kommen! Und dann kommt das auch, aber … dann ist das Ding schon rum.
So ist das Leben, und in dem ist Julius Barth Meister der Oberen Zunft in Sommerloch. Die geht bis auf das 17. Jahrhundert zurück, ebenso wie die Untere Zunft im Dorf. Sich gegenseitig unter die Arme greifen, dies sei hier Brauch, meint der 75-Jährige, damals so wie heute. Und im Todesfall sowieso. Das ist Zunftsache.
Und die tun dann das graben, machen, also die Erde ausheben, denn die Beerdigung als solches. Dann hernach, wenn alles vorbei ist, die Kränze rauflegen und das Kreuz aufstellen.
Der Zunftmeister weiß oft vor dem Bürgermeister, wenn einer im Ort gestorben ist, denn der Zunftmeister organisiert die Nachbarschaftshilfe, gibt den vier Männern in den nächsten vier Häusern Bescheid, sorgt für einen Ersatz, wenn einer mal nicht kann.
Und da kostet eine Beerdigung als solches 10 Mark. Und das wird dann in dem Sinne, wie das bei uns im Ortsbereich so heißt, wird die Hau dann versoffen. (lacht) Ich drücke das mal ganz krass aus.
Julius Barth erzählt dann noch ausführlich von dem Südwestfunk und von der Reportage von 1982. Zwei Übertragungswagen hier im kleinen Sommerloch, eine Originalsendung, von 12 bis 1 Uhr im "Rheinland-Pfalz Echo". Das Thema: Warum ist das Sterben auf dem Land heute billiger als in der Stadt?
Dicke Luft in Sommerloch. Wegen der Rauchschwaden in der Kneipe, wegen der Politik ... und überhaupt.
Die sollten die Mauer wieder zumachen, gibt einer die Parole aus. Am Stammtisch regt sich kein Widerspruch. Am Nachbartisch rätseln derweil die Kandidaten der Freiwilligen Feuerwehr, ob ein C-Rohr nun 4 bis 6 oder 9 bis 12 mm Durchmesser habe. Und am Rentnertisch geht’s um die gute alte Weinzeit.
Freitag in Sommerloch, Freitagnacht beim Gastwirt Joerg. Eigentlich nichts Besonderes. Nach der Schicht auf dem Weinberg schenkt der Günther Joerg vor allem Bier aus. Der von ihm vorausgesagte Eisregen hatte ihn um 1 Uhr nach Hause geschickt.
Der Josef Gemünden hat seinen abendlichen Spaziergang mit seinem Bernasenner beendet und schweigt sich jetzt beim Bier aus. Viel Vieh, viel Müh, und dann noch der Weinberg. Vier Zeilen hat er heute geschafft.
Bei Feddersens im Fachwerkhaus brennt im ersten Stock noch lange das Licht. Und Julius Barth hat seine abendliche Geburtstagsfeier in der Besenwirtschaft nun hinter sich gebracht.
Alltag in Sommerloch, Flaute in Sommerloch - bis zum Sommerloch in den Medien, wenn dann zum 97. Male dem total erstaunten Bürger mitgeteilt wird: Man habe es gefunden, dieses reale Sommerloch, das gebe es doch nun wirklich.
Die Sommerpause heißt nicht mehr Sauregurkenzeit, sondern Sommerloch, und die Medien stopfen ihre Sommerlöcher mit tollen Bildern vom Ortsschild von Sommerloch und irren Berichten vom Kürbiswuchs in der Hauptstraße. Nicht immer, aber ... na, sie wissen schon.
Der Mann am anderen Ende des Telefons heißt Helmut Herles und sitzt in Bonn. Bonn hat es ihm angetan, ebenso hat er es mit der Sprache - und beides schon lange. Herles ist derjenige, der den Begriff vom Sommerloch in der Politik eingeführt hat.
Ja, ich kam im Herbst ´75 von der Süddeutschen Zeitung ausgehend wieder zurück zur FAZ. Und ich habe mir überlegt als politischer Korrespondent, welche Bilder, welche Vergleiche, welche Metaphern gebraucht er denn. Sport und Krieg sind für mich unmögliche Metaphern in der Politik. Und da ich über Nestroi gearbeitet habe, habe ich den Vergleich mit dem Theater herangezogen und habe 1976 vom Sommertheater gesprochen. Seit der Zeit läuft das Ding übrigens auch. Und im nächsten Jahr habe ich überlegt, Sommertheater - kannst nicht gleich wieder dieselbe Metapher gebrauchen. Und da war in Bonn gerade der Streit um die Bebauung des Lochs am Bonner Bahnhof. Und rein akustisch von Bonner Loch kam bei mir hoch Sommerloch. Das war also im Jahr 1977. Und seitdem lief es auch bei anderen. Ich bin allenfalls der Finder. Ich habe nicht geahnt, dass es das Dorf Sommerloch gibt. Das habe ich erst später gelernt.
Bürgermeister Keber, der ja der Weltpresse Interviews gibt, wußte das bis dato nicht, dachte, daß die Popularität von Sommerloch einem Versicherungskonzern zu danken sei. Nein, die Versicherung war es nicht.
Ich würde sagen, seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, des Beitritts der DDR zum Grundgesetz, ist das Sommerloch nicht mehr da, denn die Probleme der Überwindung der Diktaturen auf deutschem Boden oder der Kosten der Spaltung Deutschlands oder jetzt der Arbeitslosigkeit, das sind eben Themen, die eigentlich kein Sommerloch zulassen. Trotzdem machen es die Fraktionen wie immer: sie machen im Sommer eben, wenn sie in den Ferien sind, viele, viele Presseerklärungen, Pressekonferenzen. So erzeugen sie eine Präsenz, die eigentlich gar nicht das ist.
Bürgermeister Keber lehnt sich zurück: Der Herr Herles also der Erfinder vom politischen Sommerloch. Und dann erklärt der Keber-Ferdinand dem Gast aus dem fernen Berlin das Ganze aus der politischen Warte: Dass das mit dem Sommerloch alles von den Hausmeistern der Parteien ausgehe; dass die in den Parlamentsferien auf den Busch klopfen, und zwar mit Szenarien und Reizthemen; und dass bei großem Argwohn des Volkes die Politiker dann eben die Probleme anders anpacken. Ja gut, sagt Bürgermeister Keber, ja gut, Demokratie sei eben auch nicht einfach.
Und Sommerlochs Bürgermeister merkt noch an, dass alle was vom Sommerloch mitbekommen haben - nur die Touristikbranche nicht.
Ja gut, sagt Herr Keber häufig am Satzanfang. Wie der Berti Vogts. Ja gut, vielleicht liegt das daran, dass Herr Keber in den Glanzzeiten des SV Sommerloch auch mal gekickt hat. Damals, als seine Mannen ein Jahr lang durch die Amateurliga wirbelten. Aber vielleicht ist es auch einfach nur die Erfahrung eines Ortsschulzen mit den Medien des Landes: Alle Jahre wieder - Sommerloch.
Ja, ich kann die Uhr danach stellen. Ich weiß, wenn Juni, Ende, Mitte Juli kommt, dass es dann losgeht. Dann geht es mit Anrufen los. Und das ist dann meistens so, mit kleinen Statements von 1,2 Minuten. Länger dauert das nicht, das geht ganz schnell.
Herr Keber ist Ehrenbeamter und Bürgermeister. Das ist wichtig und sein Vorname: Ferdinand. Es gibt mehrere Keber, hier, in Sommerloch, in dem Dorf, wo man die Straßen noch findet, weil: man kann sie an zwei Händen abzählen; dort, wo die Friedhofstraße noch zum Friedhof führt und wo die Hauptstraße nicht mal 4oo Meter lang und dennoch die Hauptstraße ist. Sommerloch - gleich um die Ecke bei Bad Kreuznach.
Ja, was wollen die wissen? Die fangen die Sendung meistens so an, dass sie sagen: Wir haben es gesucht, wir haben es gefunden und so weiter. Es gibt es, es gibt das reale Sommerloch. Also nicht nur das Synonym, also nicht nur Loch Ness, es gibt es - Sommerloch, das real existiert. Das mussten wir suchen, aber wir haben es gefunden! Und dann fragen die: wie viel Einwohner, wo liegt es, wie komme ich nach Sommerloch, was ist da los, kann ich da Urlaub machen? Die fragen das alles.
So und ähnlich fangen die Medienleute Jahr um Jahr ihre Top-Sendungen über Sommerloch an. Meistens so, besagt die Erfahrung vom Keber-Ferdinand. Ja gut, originell fand er mal den Journalisten, der vor laufender Kamera ein Sommerloch in den Boden grub. Der Bürgermeister erinnert sich noch ganz genau: auf dem Sportplatz wars. Und ärgerlich kommt ihm die Schlagzeile vom Priestermord in Sommerloch hoch. Eine überregionale Tageszeitung hat er im Verdacht. Aber es war nur der "Öffentliche Anzeiger", der Frevler war der hiesige Lokalmatador, kein Weltblatt.
Also, Sommerloch steht nicht immer im "Öffentlichen Anzeiger" und nicht immer in der "Allgemeinen Zeitung". Das sind unsere beiden Lokalzeitungen. Aber Sommerloch steht für seine Größe oft genug in der Zeitung. Im Sommer, im Sommerloch um so mehr, sogar in Tagesblättern, in Weltblättern - sage ich jetzt mal - wie der FAZ.
Freitagmorgen in Sormmerloch. Der Matthes nimmt den Keber-Ferdinand und Gemündens Claudia mit. Der erste Bus um sechs Uhr kann nun durchfahren.
Heinz Rung dürfte schon auf seinem Arbeitsplatz, dem Flughafen in Frankfurt/Main angekommen sein. Bernd Sturm fährt gleich los ins Ministerium nach Mainz. Und Haßlinger, der Steuerberater, wird so gegen 6.4o Uhr aufbrechen.
Freitagfrüh in Sommerloch. An Arbeitstagen wie diesem, da schrumpft die 42o-Seelen-Gemeinde arg zusammen.
Eine Telefonzelle und vier Zigaretten-Automaten, ein Installationsbetrieb und ein Fensterbauer - dies sind weitere Ortsdaten. Und wer mehr als nur das Ortsschild mit der überraschenden Aufschrift "Sommerloch" zum zigsten Male im Visier hat, der weiß beispielsweise nach der Lektüre der Dorfchronik auch anderes.
Zum Beispiel, dass die Sommerlocher eben nicht in einem Loch wohnen, sondern das sie eine vormals feuchte Mulde (sprich: Lache) besiedeln, die halt nach Süden (sprich: sumer) gelegen ist. Damit wäre also die sprachliche Herkunft von Sommerloch geklärt, das seit je her, also seit mindestens 785 Jahren, zu Füßen des Soonwaldes am Südhang des Hunsrück liegt und somit zum Weinbaugebiet Nahe gehört.
Zwei Nahwein-Königinnen wohnen im Orte, und die Antonette, sagt der Bürgermeister, war sogar deutsche Weinprinzessin. Das war 199o, heute zeigen einige gerodete Weinberge in der Gemarkung einen Strukturwandel an. Der Weinanbau nährt nur noch 13 reine Winzerbetriebe in der Gemeinde und die alten Sommerlocher halten nur noch aus Gewohnheit am Weinanbau als Nebenerwerb fest. Die jungen Leute winken schon lange ab.
Flaute in Sommerloch. Ein ganz gewöhnlicher Freitag ohne aufgeregte Reporter, tolle Fragen und dieses alle-Jahre-wieder-wolln-doch-mal-schaun-Abgenicke in den deutschen Wohnstuben. Alltag in Sommerloch, ganz gewöhnlicher Alltag.
Journalisten: Ja, ja. So langsam sage ich, wir könnten anfangen, wir könnten ins Fernsehen gehen. Die können das an den Nagel hängen.
Da, wo der Zimmermann seinen Zollstock trägt, da hat er einen Klappsäge stecken. Und die klobigen Schuhe, in denen der Günther Joerg über den Weinberg stapft, diese Schuhe sind zum Aufblasen. Army-Stiefel, die schön wärmen.
Die Wolken hängen tief, am Fuße des Steilhangs des Weinberges grasen Schafe, rechterhand, in der Mulde, reckt sich das Sommerloch - aus den Schornsteinen steigt Rauch auf. Der Weinbauer hat dafür keinen Blick übrig, zeigt dem Ort den Rücken. Rebschnitt ist angesagt.
Die schneide ich noch vorne ab.
Die schneiden wir noch ab.
Ach, die … sind so fest. Sehen Sie, der Bindedraht, der Biegedraht. Muss man alle klein schneiden.
Die rechte Hand ist zerkratzt, das ist er gewöhnt wie so manch anderes. Seit dem 15. Lebensjahr zieht er des Tags in die Weinberge oder aufs Feld, des Abends steht er hinter dem Thresen. Und an manchen Tagen ist es hundekalt und es zieht ein Mistgeruch so von der penetranten Art von Schuhriemens Scholle rüber.
War vergangenes Jahr beim Arzt gewesen in Kreuznach, beim Knochendoktor. Hat der untersucht. Normaler Verschleiß - das sagt der schon seit 2,3 Jahren. Ja, sag ich, muss ich schaffen, bis es ganz kaputt ist. (lacht)
Joerg schaut kurz vom Rebschnitt auf und erzählt dann von seinen fünf Kindern, die mit dem Weinberg nichts am Hut haben wollen, wie der Rebschnitt am Steilhang auszusehen hat, dass es heute noch Eisregen geben wird, weil es am gestrigen Abend diesig und windstill war und noch so andere Anzeichen gab.
Is auch so Sach. Ich bin es, wir sind es nicht anders so gewöhnt. Seit meiner frühen Kindheit … ich war gerade 15 Jahre, da ist mein Vater gestorben. Und seitdem mache ich es eben. Nix Buldog, nix Maschine. Oder in der Landwirtschaft … mit Sense gemäht. Nix Maschine. Wenn sie das heute der Junge erzählen, die sagen: Knn doch nicht wahr sein, dass es mal so war. So war es aber. Ja, so quälen wir uns ab, bis wir jämmerlich aufhören.
Zwei Morgen Weinberg hat er noch, früher wars mehr. Der Preisverfall und die Mengenregulierung, sagt Günther Joerg, und dass er bald aufhören werde mit dem Weinberg - wie die anderen Klassenkameraden auch, wie der Schuhriemen, der mit dem penetrant stinkenden Mist. Und überhaupt werde die einfache Arbeit zu gering geschätzt.
Was will man noch mehr. Und ich sage, mitnehmen können wir nichts. Und das ist das Einzige, was so schön eingerichtet ist, da sind Tote alle gleich, alle. Das ist das einzige wirklich gerechte auf der Welt, dass keiner was mitnehmen kann … und sich kein Leben kaufen. Also das finde ich. Finde ich mich auch mit ab.
Der Kater ist ein Findelkind und heißt Mikesch, die Ziege hat auch irgend einen Namen, der Hamster hat einen, auf den er nicht hört, nämlich Karotte, und Frau Feddersen kann sich noch immer darüber wundern, dassie Leute in Sommerloch zum Bäcker nicht Bäcker sagen, sondern Bäckersch.
Frau Feddersen ist eine Zugereiste. Das zeigt der Name schon an, der auf dem selbstgefertigten Türschild steht, und der von ihrem norddeutschen Mann ist, der gerade dienstlich für ein paar Tage auswärts unterwegs ist. Sie, Frau Feddersen, kommt aus Bayern und sagt, dass Helene eine kleine Hexe ist. Aber der Reihe nach.
Im Oktober 91 bestellten Feddersens eine Zentralheizung und Lenchen weigerte sich, in ihrer kleinen Kammer ins Bett zu gehen, sagte: Es brennt, es brennt. Die Zentralheizung ließ auf sich warten und zehn Tage vor Weihnachten brannte es, unter Lenchens Bett schlugen die Flammen hervor. Aus dem Abzug in der Kammer aus dem 3ojährigen Krieg waren Steine raus gebrochen.
Lenchen behielt also Recht und die Nachtwache der hiesigen Feuerwehr konnte endlich mal wieder einen gelöschten Brand feiern, also begießen, und Sommerloch zeigte, was hier Gemeinsinn heißt.
Drei Tage Notquartier bei Heths und ihren Kindern, drei Tage bei Orbens. Frau Barth brachte Töpfe mit Essen, andere Frauen aus dem Ort kamen mit Wäschekörben und der Aufforderung: Schmeiß mal rein.
Das ist auch so eine Freitagsgeschichte aus Sommerloch.
Ich sitze eigentlich viel da am Fenster, obwohl ich … gucke da durch die Gegend - und warte, bis die Sonne kommt - durch die Gegend und die Umgegend.
Heute sitzt Julius mit dem Rücken zum Fenster, er muss trinken, auf sein Wohl anstoßen. Auswärtige rufen ihn pausenlos ans Telefon und er läuft ein ums andere mal zum Apparat. Julius Barth hat Geburtstag. 75 hat er gezählt, die anderen haben auch mitgezählt und schauen mal rein.
Nämlich, wie gesagt, jeder kennt jeden, da weiß man genau an der hinteren Ecke, was wird gekocht auf der anderen Seite. Weil jeder jeden kennt.
Frau Barth ist um ihren üblichen Mittagsschlaf gekommen, denn die Gäste wollen versorgt sein: mit Speis und Trank, mit Neuigkeiten und Erinnerungen. Überhaupt hat Frau Barth auch sonst so ziemlich alles in der Hand und außerdem passt sie auch ein wenig auf ihren Julius auf. Weil: Das kommt doch alles auf Band, wie sie mehrfach zu ihm sagt.
Aber die Reportagen sind dann immer ziemlich knapp, vielleicht zwei Minuten. Dann ist das gesamte Thema … Und du sitzt nun am Ding und wartest. Des muss doch dann und dann kommen! Und dann kommt das auch, aber … dann ist das Ding schon rum.
So ist das Leben, und in dem ist Julius Barth Meister der Oberen Zunft in Sommerloch. Die geht bis auf das 17. Jahrhundert zurück, ebenso wie die Untere Zunft im Dorf. Sich gegenseitig unter die Arme greifen, dies sei hier Brauch, meint der 75-Jährige, damals so wie heute. Und im Todesfall sowieso. Das ist Zunftsache.
Und die tun dann das graben, machen, also die Erde ausheben, denn die Beerdigung als solches. Dann hernach, wenn alles vorbei ist, die Kränze rauflegen und das Kreuz aufstellen.
Der Zunftmeister weiß oft vor dem Bürgermeister, wenn einer im Ort gestorben ist, denn der Zunftmeister organisiert die Nachbarschaftshilfe, gibt den vier Männern in den nächsten vier Häusern Bescheid, sorgt für einen Ersatz, wenn einer mal nicht kann.
Und da kostet eine Beerdigung als solches 10 Mark. Und das wird dann in dem Sinne, wie das bei uns im Ortsbereich so heißt, wird die Hau dann versoffen. (lacht) Ich drücke das mal ganz krass aus.
Julius Barth erzählt dann noch ausführlich von dem Südwestfunk und von der Reportage von 1982. Zwei Übertragungswagen hier im kleinen Sommerloch, eine Originalsendung, von 12 bis 1 Uhr im "Rheinland-Pfalz Echo". Das Thema: Warum ist das Sterben auf dem Land heute billiger als in der Stadt?
Dicke Luft in Sommerloch. Wegen der Rauchschwaden in der Kneipe, wegen der Politik ... und überhaupt.
Die sollten die Mauer wieder zumachen, gibt einer die Parole aus. Am Stammtisch regt sich kein Widerspruch. Am Nachbartisch rätseln derweil die Kandidaten der Freiwilligen Feuerwehr, ob ein C-Rohr nun 4 bis 6 oder 9 bis 12 mm Durchmesser habe. Und am Rentnertisch geht’s um die gute alte Weinzeit.
Freitag in Sommerloch, Freitagnacht beim Gastwirt Joerg. Eigentlich nichts Besonderes. Nach der Schicht auf dem Weinberg schenkt der Günther Joerg vor allem Bier aus. Der von ihm vorausgesagte Eisregen hatte ihn um 1 Uhr nach Hause geschickt.
Der Josef Gemünden hat seinen abendlichen Spaziergang mit seinem Bernasenner beendet und schweigt sich jetzt beim Bier aus. Viel Vieh, viel Müh, und dann noch der Weinberg. Vier Zeilen hat er heute geschafft.
Bei Feddersens im Fachwerkhaus brennt im ersten Stock noch lange das Licht. Und Julius Barth hat seine abendliche Geburtstagsfeier in der Besenwirtschaft nun hinter sich gebracht.
Alltag in Sommerloch, Flaute in Sommerloch - bis zum Sommerloch in den Medien, wenn dann zum 97. Male dem total erstaunten Bürger mitgeteilt wird: Man habe es gefunden, dieses reale Sommerloch, das gebe es doch nun wirklich.
Die Sommerpause heißt nicht mehr Sauregurkenzeit, sondern Sommerloch, und die Medien stopfen ihre Sommerlöcher mit tollen Bildern vom Ortsschild von Sommerloch und irren Berichten vom Kürbiswuchs in der Hauptstraße. Nicht immer, aber ... na, sie wissen schon.
Der Mann am anderen Ende des Telefons heißt Helmut Herles und sitzt in Bonn. Bonn hat es ihm angetan, ebenso hat er es mit der Sprache - und beides schon lange. Herles ist derjenige, der den Begriff vom Sommerloch in der Politik eingeführt hat.
Ja, ich kam im Herbst ´75 von der Süddeutschen Zeitung ausgehend wieder zurück zur FAZ. Und ich habe mir überlegt als politischer Korrespondent, welche Bilder, welche Vergleiche, welche Metaphern gebraucht er denn. Sport und Krieg sind für mich unmögliche Metaphern in der Politik. Und da ich über Nestroi gearbeitet habe, habe ich den Vergleich mit dem Theater herangezogen und habe 1976 vom Sommertheater gesprochen. Seit der Zeit läuft das Ding übrigens auch. Und im nächsten Jahr habe ich überlegt, Sommertheater - kannst nicht gleich wieder dieselbe Metapher gebrauchen. Und da war in Bonn gerade der Streit um die Bebauung des Lochs am Bonner Bahnhof. Und rein akustisch von Bonner Loch kam bei mir hoch Sommerloch. Das war also im Jahr 1977. Und seitdem lief es auch bei anderen. Ich bin allenfalls der Finder. Ich habe nicht geahnt, dass es das Dorf Sommerloch gibt. Das habe ich erst später gelernt.
Bürgermeister Keber, der ja der Weltpresse Interviews gibt, wußte das bis dato nicht, dachte, daß die Popularität von Sommerloch einem Versicherungskonzern zu danken sei. Nein, die Versicherung war es nicht.
Ich würde sagen, seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, des Beitritts der DDR zum Grundgesetz, ist das Sommerloch nicht mehr da, denn die Probleme der Überwindung der Diktaturen auf deutschem Boden oder der Kosten der Spaltung Deutschlands oder jetzt der Arbeitslosigkeit, das sind eben Themen, die eigentlich kein Sommerloch zulassen. Trotzdem machen es die Fraktionen wie immer: sie machen im Sommer eben, wenn sie in den Ferien sind, viele, viele Presseerklärungen, Pressekonferenzen. So erzeugen sie eine Präsenz, die eigentlich gar nicht das ist.
Bürgermeister Keber lehnt sich zurück: Der Herr Herles also der Erfinder vom politischen Sommerloch. Und dann erklärt der Keber-Ferdinand dem Gast aus dem fernen Berlin das Ganze aus der politischen Warte: Dass das mit dem Sommerloch alles von den Hausmeistern der Parteien ausgehe; dass die in den Parlamentsferien auf den Busch klopfen, und zwar mit Szenarien und Reizthemen; und dass bei großem Argwohn des Volkes die Politiker dann eben die Probleme anders anpacken. Ja gut, sagt Bürgermeister Keber, ja gut, Demokratie sei eben auch nicht einfach.
Und Sommerlochs Bürgermeister merkt noch an, dass alle was vom Sommerloch mitbekommen haben - nur die Touristikbranche nicht.