Flaute in der Windenergiebranche

Stellenabbau bei Enercon ist eine Katastrophe für Aurich

10:57 Minuten
Blick hinauf zu einem Windrad: Oben kontrolliert ein Mann die Anlage.
Die Produktion von Windenergie-Anlagen steht stark unter Druck, besonders im friesischen Aurich. © picture alliance / dpa / Bernd Wüstneck
Von Felicitas Boeselager · 20.12.2019
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Mit Enercon und dem Aufstieg der Windenergie setzte in Aurich eine Art Industrialisierung ein. Das Unternehmen boomte und prägte die Stadt. Nun stellt Enercon dort die Rotor-Produktion ein und streicht 1500 Stellen – für die Stadt ist das ein Schock.
Steffen Haake zeigt aus dem Autofenster. "Wenn man jetzt hier geradeaus guckt, und wir fahren auch eigentlich geradeaus: Das ist das Stammhaus von Enercon – also da oben, bei den Spitzgiebeln, wo Licht brennt, da hatte der Aloys Wobben sein Büro." Dort hat der Gründer von Enercon, Aloys Wobben, bis vor sieben Jahren die Geschicke des Windenergie-Konzerns geleitet.
Es ist ein regnerischer Nachmittag im Winter, Haake führt durch seine Heimatstadt Aurich und zeigt, wie groß der Einfluss von Enercon auf diese Kleinstadt ist. Haake ist 26 Jahre alt und das jüngste Mitglied im Auricher Stadtrat.

Produktion der Rotorblätter wird beendet

Enercon gibt es hier, seit er denken kann: "Es war jetzt nicht so identifizierend für mich wie in einer Stadt, wo vielleicht ein Autowerk ist, man jetzt denkt: Ah, Auto, das ist das tollste Produkt, oder so, wie es jetzt bei kleinen Jungs oder Mädchen manchmal ist. Also Windräder lösen ja jetzt nicht so starke Emotionen im Positiven aus bei Menschen, vielleicht eher im Negativen. Aber es war schon was, was ich immer faszinierend fand, auch technisch."
Die aktuelle Situation treibe ihn um. Schließlich wird die Krise der Windkraftbranche in der ostfriesischen Stadt greifbar. Nicht nur sind die Einnahmen der Gewerbesteuer in den vergangenen Jahren gefallen, viel schlimmer noch: Anfang November kündigte Enercon an, man werde 1500 Stellen streichen müssen und die Produktion von Rotorblättern in Aurich beenden. "Und hier rechts sieht man jetzt das KTA, da ist die Rotorblattfertigung, die kürzlich erst gebaut wurde und jetzt dicht gemacht wird."
KTA steht für Kunststofftechnologie Aurich. Nur wenige Minuten dauert es von der Auricher Innenstadt bis zum großen Gewerbegebiet, auf dem sich die Produktionshallen von Enercon aneinanderreihen. Vor der ersten Produktionshalle steht ein futuristisches, sichelförmiges Gebäude.

Wahrzeichen der Branche in Aurich

Man kann das Gebäude nur über eine Brücke erreichen, es liegt hinter einem künstlich angelegten Wassergraben. Das Energie Erlebnis Zentrum von Aurich (EEZ) ist so etwas wie ein Wahrzeichen für die Windkraftbranche in Aurich. Vor vier Jahren wurde es eröffnet.
Stefan de Jonge leitet das Zentrum und führt durch die Dauerausstellung. Auf großen Displays, Installationen oder durch Spiele wird hier gezeigt, wie Energie entsteht, welche unterschiedlichen Arten von Energie es gibt, aber auch, warum Windkraft umstritten ist.
Blick auf das Gebäude des Enercon Besucherzentrums im EEZ (Energie-, Bildungs- und Erlebniszentrum). Das Gebäude ist rund und hat silbrig erscheinende Außenwände, EEZ steht in großen Buchstaben darauf. 
Steht heute neben verlassenen Hallen: das Besucherzentrum im EEZ.© picture alliance / dpa / Mohssen Assanimoghaddam
Neben dem großen Ausstellungsraum mietet auch Enercon eine Fläche für ihr Besucherzentrum, dort informiert das Unternehmen über seine Technologie. So kann man zum Beispiel in die erste Gondel klettern, die von der Firma gefertigt wurde, oder Modelle der Rotorblätter anschauen, die bis vor Kurzem direkt nebenan hergestellt wurden.
Die Nähe des EEZ zu den Fertigungshallen von Enercon kommt nicht von ungefähr: "Ursprünglich war das mal geplant mehr in der Nähe der Innenstadt, wir sind ja eine Bildungseinrichtung und wir richten uns zum Teil in der Hauptsaison auch an Touristen", sagt de Jonge.

Besucherzentrum ohne Produktion

Als das EEZ geplant wurde, ahnte aber niemand, dass es in wenigen Jahren neben verlassenen Hallen stehen würde. De Jonge bleibt aber zuversichtlich: "Das Besucherzentrum, das bleibt wahrscheinlich weiterhin bestehen. Wir bieten zum Beispiel weiterhin Führungen an, die finden dann direkt hier im Bildungs- und Erlebniszentrum statt, und das werden wir auch weiterhin machen."
Außerdem, fügt er hinzu, mache Enercon ja nicht vollkommen dicht, viele Arbeitsplätze, wie zum Beispiel die im Innovationszentrum, blieben schließlich bestehen.
"Ja, still ruht der See hier", sagt Stadtrat Haake. Über die Brücke geht es zurück zum Auto. Am Ende des Parkplatzes, vor der Produktionshalle, ragen Rotorblätter über den Zaun.
Die letzten, die hier produziert wurden, vermutet Haake. "Ja, so ein Industriestandort wird abgezogen, das ist schon: irgendwie zum einen ja viele persönliche Tragödien, zum anderen ja für eine Stadt dann echt ein heftiger Einschnitt", macht Haake klar. "Wenn man sieht, was hier eben alles aufgebaut wurde – und dafür ist ja dieses EEZ wirklich Symbol auch."
Das EEZ ist ein Symbol für die Entwicklung der Stadt. Aurich wurde durch die Gewerbesteuereinnahmen von Enercon zwischenzeitlich zu einer der reichsten Kleinstädte Deutschlands. "Hier links ist das Rathaus, da hat man dann hier zum Beispiel den Ratssaal aufgeständert, für über 250.000 Euro", so Haake. "Sprich, da war unten noch ein Ratskeller drin."

Einschnitt in die städtischen Finanzen

Entscheidungen, die die Vorgänger von Horst Feddermann getroffen haben. Aurichs Bürgermeister ist erst vor wenigen Wochen ins Rathaus gezogen, sein Amtsantritt begann mit einem Paukenschlag. "Drei Tage war ich im Amt, da bekam ich den Anruf vom Geschäftsführer der Firma Enercon. Das zog mir den Boden unter den Füßen weg in dem Moment, das muss ich sagen", erinnert er sich.
"Dass da irgendwas passiert, das war jedem klar, weil die ganzen Randbedingungen, die zum Genehmigen der Anlagen führen, eben nicht besser geworden sind", fährt Feddermann fort. "Und dass die Firma Enercon auch irgendwann reagieren muss, das war auch allen klar, da kann man die Augen nicht vor zumachen. Aber dass das so schnell und in dieser Heftigkeit geschieht, das habe ich nicht gedacht."
Seitdem stand das Telefon bei Horst Feddermann kaum noch still, erst langsam werden seine Tage wieder planbarer, viel tun könne er aber in dieser Situation nicht. Für einen ausgearbeiteten Masterplan habe die Zeit noch nicht gereicht, er könne nur "zugucken im Augenblick, was passiert – und versuchen zu reagieren. Derzeit sind wir ja im Gespräch mit dem Landkreis, mit dem Land Niedersachsen, um zu sehen: Wo sind die Auswirkungen und welche Maßnahmen können ergriffen werden, im Bereich Wirtschaftsförderung möglicherweise. Ja, müssen wir schauen, da gibt es kein Patentrezept, glaube ich."

Irritation ob der Bundespolitik

Außerdem sei nicht nur die Stadt Aurich, sondern die ganze Region von diesem Stellenabbau betroffen – vor allem Zulieferbetriebe. Bürgermeister Feddermann sagt, er bleibe optimistisch, auch wenn ihn die Politik der Bundesregierung irritiert. "Ich finde es seltsam, dass man die Energiewende möchte, dass man sich auch so artikuliert hat, seit Jahren schon, dass wir ein Unternehmen haben, dass die Energiewende sehr stark bearbeitet und auch für saubere Energie sorgt, und dass so eine Branche dann quasi kaputt gemacht wird."
Der parteilose Bürgermeister fährt fort: "Alle, die hier arbeiten, die haben sich – mich eingeschlossen – schon darauf verlassen, dass die Energiewende das Thema der Zukunft wird. Und es sagt jeder, dass ohne Windkraft die Klimaziele nicht zu erreichen sind – und diese Branche, die lässt man jetzt quasi verhungern. Im gleichen Atemzug wird der Abbau der Arbeitsplätze im Braunkohleabbau kompensiert, da gibt es Strukturfördermittel."
Feddermann jedenfalls will weiterhin auf die Energiebranche in seiner Region setzen. Schließlich habe man mit Enercon den Weltmarktführer und dessen Know-how in der eigenen Stadt, auch wenn die Produktion nun ins Ausland verlagert wurde. Ihm sei wichtig, sagt Feddermann, "dass nicht die Krise im Vordergrund steht, dass sie natürlich im Moment da ist, aber dass wir weiter machen und auch optimistisch weitermachen – und wir uns nicht auf den Abbau der Arbeitsplätze reduzieren. Sondern, dass wir uns fragen: Wo sind unsere Stärken? Wie machen wir weiter?"

Kleine Industrialisierung der "Behördenstadt"

In der Auricher Fußgängerzone ist von einer Krise nichts zu sehen. Viele Menschen sind an diesem Freitagabend unterwegs, machen Besorgungen und gehen auf den Weihnachtsmarkt. Steffen Haake trifft hier auf seinen ehemaligen Geschichtslehrer Alexander Wiebel, der sich erinnert, wie Enercon in Aurich groß geworden ist.
"Es gibt ja so einen Gründungsmythos, der ist ja fast so Silicon-Valley-reif, wo Herr Wobben in irgendeiner Garage die ersten Mühlen zusammengeschraubt haben soll", erzählt Wiebel. "Ja, und der hat eben wirklich mit sehr kleinen Maschinen angefangen und hat das immer größer gemacht. Und plötzlich waren überall diese Mühlen und man entwickelte fast so ein bisschen wie Lokalpatriotismus."
Vor dem Aufstieg von Enercon war Aurich eine Behördenstadt in einem strukturschwachen Gebiet. Seit den 1980er-Jahren erlebte diese ostfriesische Kleinstadt dann eine kleine Industrialisierung. Vieles hier ist auf Enercon ausgerichtet: Die Ampeln sind höher, damit die Schwerlaster darunter hindurch passen, auch sind die Straßen ungewöhnlich breit.
Jetzt spüre man die Krise der Windenergie an vielen Ecken und Enden, sagt Wiebel. Es sei nicht nur das Mitgefühl für die Menschen, die ihre Arbeitsstelle verlieren, sondern auch der Einbruch der Gewerbesteuern, der den Aurichern Sorge bereite, erzählt der Lehrer. "Jetzt fragt man sich natürlich, können wir uns in den nächsten Jahren überhaupt noch was erhoffen, wenn die Steuereinnahmen dermaßen zurückgehen?"

Lokalpatriotismus und Stolz auf Enercon

Auch in der Kneipe gegenüber vom Rathaus kennt jeder den Gründungsmythos von Enercon; so wie fast jeder Auricher jemanden kennt, der bei Enercon arbeitet. So recht will man hier noch nicht glauben, dass wirklich 1500 Stellen gestrichen werden.
"Es könnte ja auch so sein, dass man Druck auf die Politik ausüben möchte von dem Betrieb her und das macht man ja dann dadurch, dass man sagt: Wir müssen so und so viele Leute entlassen. Ob das dann nachher so ist, ist eine andere Frage", sagt einer.
Die Windkraftkrise sei auch deshalb bedauerlich, weil Enercon Aurich zu einem gewissen Ruhm verholfen habe. "Ich habe da immer gern von erzählt, meinen Verwandten im Rheinland zum Beispiel. Also Enercon, die kannte ja auch jeder."
Ein anderer Mann stimmt ein: "Also autobahnmäßig irgendwo lang fahren und da sieht man gleich: Das ist Enercon. Made in Ostfriesland."
Lokalstolz unverkennbar: "Also Enercon, das ist schon eine Hausnummer in Deutschland. Als Auricher kann man da schon stolz sein."
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