Flassbeck: Steinbrücks Prognosen sind fraglich

Moderation: Hanns Ostermann |
Der Chefvolkswirt bei der UNCTAD (UN-Konferenz für Handel und Entwicklung), Heiner Flassbeck, hat sich skeptisch zu den von Bundesfinanzminister Steinbrück (SPD) erwarteten Mehreinnahmen des Staates geäußert. Er rechne nicht damit, dass das Prognoseplus von 200 Milliarden Euro für Bund, Länder und Gemeinden bis 2011 auch tatsächlich eintrete, sagte Flassbeck im Deutschlandradio Kultur.
Hanns Ostermann: Mal ganz ehrlich: Wissen Sie, wie viele Nullen eine Milliarde hat? Ich brauchte knapp eine Minute. Bei einer Million sind es sechs, bei einer Milliarde dann neun Nullen. Vielleicht müssen das die Experten so genau auch gar nicht wissen. Tatsache ist, der Bundesfinanzminister rechnet mit Mehreinnahmen, die sich sehen lassen können. Bis 2011 dürfen Bund, Länder und Gemeinden mit insgesamt mehr als 200 Milliarden Euro zusätzlich rechnen.

Ein solches Prognose-Plus gab es in den letzten 50 Jahren nicht mehr, wobei sich über die Treffsicherheit von Schätzungen natürlich trefflich streiten lässt. Am Telefon von Deutschlandradio Kultur ist der Chefvolkswirt der UN-Organisation für Handel und Entwicklung, kurz UNCTAD in Genf, Dr. Heiner Flassbeck. Guten Morgen, Herr Flassbeck.

Heiner Flassbeck: Guten Morgen.

Ostermann: Jetzt hat Peer Steinbrück die Katze bereits aus dem Sack gelassen. Weshalb sitzen dennoch die Fachleute, die Steuerschätzer, in der jetzt beginnenden Woche tagelang zusammen?

Flassbeck: Na ja, es ist immer wichtig, doch einen unabhängigen Blick auf diese Dinge zu werfen. Wenn wir jetzt nur uns auf den Finanzminister verlassen würden, wäre es vielleicht ein bisschen einseitig. Und man weiß ja nicht, zu welchen politischen Zwecken das dann benutzt wird. Insofern ist so eine Kontrolle durch die Steuerschätzer in meinen Augen schon sehr wichtig.

Es ist natürlich nicht die Wahrheit, die da rauskommt. Machen wir uns nichts vor. Sie sagten schon, es gibt gewaltige Fehlschätzungen, und ich bin äußerst skeptisch, dass das in dies in 2011 so kommen wird, da sind doch noch viele Hindernisse dazwischen, und das wird mal wieder weggeblendet. Es ist eben immer so: Wenn Aufschwung ist, sind alle euphorisch, und wenn Abschwung ist, sind alle tief bestürzt und man findet die Mitte nicht sozusagen, also die Einsicht darin, dass solche Prozesse nicht ewig dauern, sondern von relativ kurzer Dauer sind, also so ein Aufschwung.

Ostermann: Wie ist das Verhältnis überhaupt zwischen Politik und Experten? Immerhin waren Sie acht Jahre lang bis '98 Konjunkturchef des DIW, des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Konnten Sie, konnten die Fachleute ungehindert forschen und veröffentlichen?

Flassbeck: Nein, das war eigentlich nie so. Es gab immer Interventionen, besonders dann, wenn man sich zu besonders heiklen Themen geäußert hat, wie zum Beispiel der deutschen Staatsverschuldung im Jahre 1997, als es um die Maastricht-Kriterien ging. Da hat eine Mitarbeiterin von mir kritische Worte geäußert, und es gab dann heftige, heftige Drohungen in der Politik, die bis dahin gingen zu sagen, den drehen wir den Geldhahn ab oder so.

Oder noch schöner, Anfang der 90er Jahre hatte ich einen jungen Mitarbeiter, der rechnete mal so aus Jux und Tollerei, wenn man die Wachstumsraten der ehemaligen DDR, Ostdeutschlands, extrapoliert und die Westdeutschlands, wann es eine Angleichung geben würde, und der kam auf 20 Jahre. Und das wurde dann im Jahr 1990 oder 91, wann es war, als politische Katastrophe empfunden, dass jemand überhaupt so was sagte, weil die offizielle Doktrin war ja, dass in drei bis fünf Jahren alles so vorbei sein wird. Daran sieht man sehr schön, dass man mit der Politik erstens vorsichtig sein soll und dass natürlich die Hoffnung da immer der Vater des Gedankens ist.

Ostermann: Allerdings natürlich, das werden Sie mir zugeben, auch mit den Erkenntnissen der Wissenschaftler, dass wir hier nicht einäugig sozusagen auf die Politik schimpfen. Zum eigentlich Thema, Herr Flassbeck: Wenn mehr Geld in die öffentlichen Kassen fließt, sollte dann weiter in erster Linie gespart, müssten dann weiter die Schulden abgebaut werden?

Flassbeck: Na ja, man muss sehen. Solange es einen Aufschwung gibt, muss man diesen Aufschwung nutzen. Man muss ihn dafür nutzen natürlich, Schulden abzubauen, das ist genauso wie im Abschwung, wo man Schulden auflaufen lassen muss, wo man also Schulden steigen lassen muss sinnvollerweise, um die Konjunktur zu stabilisieren. Aber man muss andererseits ja auch sehen, wir haben erst ein Jahr Aufschwung. Also ich bitte jetzt, man darf in Deutschland nicht erwarten, dass jetzt schon alle Wunder auf einmal passieren.

Das Richtige ist, dass der Staat jetzt bei seinem Ausgabepfad bleibt, auch versucht, die Inlandsnachfrage noch zu stabilisieren, weil dieser Aufschwung – kommen wir vielleicht noch drauf – sehr einseitig von der Auslandsnachfrage getragen ist. Und das würde heißen, öffentliche Investitionen jetzt in Gang zu setzen, die man über Jahre verschoben hat oder gar nicht getätigt hat, das scheint mir das Wichtige zu sein. Steuersenkungen sind im Moment überhaupt nicht notwendig. Und das ist auch die Art von Geld, die man nie mehr zurückbekommt, weil kein Mensch dann mehr die Steuern erhöhen kann oder nur auf sehr einseitige Art und Weise, wie wir das bei der Mehrwertsteuer gesehen haben. Also von Steuersenkung sollte man in meinen Augen jetzt die Finger lassen.

Ostermann: Also weitersparen und zusätzlich mehr investieren in Bildung und Forschung, also in die Zukunftsbereiche, habe ich Sie da richtig verstanden?

Flassbeck: In einem Aufschwung kann man eben beides tun, man kann sparen sozusagen, aber nicht in dem Sinne, dass man den Gürtel enger schnallt, sondern dass man nicht alles ausgibt. Aber man kann auch gleichzeitig mehr ausgeben, das ist eben das Schöne daran. Man kann mehr ausgeben als vorher und kann damit eben in die Zukunft investieren.

Ostermann: Jetzt ist Ihre Position klargeworden, und es gibt andererseits die Position des Wirtschaftsweisen, des früheren Wirtschaftsweisen Peffekoven, der sagt: Wenn die Zahlen so wirklich sind, dann könnte Peer Steinbrück bereits für 2008 einen ausgeglichenen Haushalt aufstellen.

Flassbeck: Ja, dieses Ausgeglichene-Haushalt-Aufstellen ist der größte Unsinn, das hat Herr Eichel ja versucht, und es weiß ja niemand, was genau passiert. Und das ist ja auch kein Ziel an sich. Man sollte mal aufhören, damit durch die Gegend zu ziehen und zu sagen, der Staat muss nun absolut null Schulden machen, das muss er nicht. Er kann immer eine gewisse Menge Schulden machen, er kann aber auch mal Überschüsse machen, null ist insofern überhaupt nicht sinnvoll. Wenn der Aufschwung jetzt wider Erwarten noch über drei Jahre extrem stark sein sollte, dann kann er auch mal kurze Zeit Überschüsse machen, das heißt Schulden abbauen.

Also diese Null-Linie, die da immer so durch den Raum schwebt, die ist nicht sinnvoll. Woran man sich orientieren sollte, ist ein vernünftiges Ausgabeverhalten des Staates. Das heißt, er sollte sagen, wir machen jetzt drei Prozent Ausgabezuwachs jedes Jahr für die nächsten fünf Jahre, und was auf der Einnahmeseite passiert, die Konjunktur, das muss man hinnehmen, da darf man sich nicht drüber aufregen, wenn es weniger wird, und man darf sich auch nicht in Verzückung und Gedankenlosigkeit ergeben, wenn es mehr wird. Das ist der zentrale Punkt.

Ostermann: Sie haben eben auch von der Notwendigkeit gesprochen, die Binnennachfrage, die Binnenkonjunktur anzukurbeln. Jetzt gab es in der Metallbranche den Abschluss, der Streik wurde verhindert. Wie bewerten Sie denn dort die Verhandlungsergebnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern?

Flassbeck: Das ist der erste Abschluss seit vielen Jahren, der in die richtige Richtung geht, der also fast das Ergebnis trifft, was man sich erwartet hätte, nämlich irgendetwas um die dreieinhalb Prozent, sind, glaube ich, wenn man richtig rechnet, nicht ganz so viel, weil da wird ja immer viel verdeckt und versteckt. Insgesamt sind es vielleicht so dreieinhalb Prozent nach meiner Schätzung pro Jahr aufs Jahr gerechnet, und das muss man ja tun. Und das ist eine sehr vernünftige Linie. Und bei der Linie kann man auch in den anderen Bereichen gehen.

Und wenn jetzt dann tatsächlich diese Tarife auch durchgesetzt werden können in dem Sinne, dass nicht die Arbeitgeber wieder effektiv dann viel weniger bezahlen – was in der Metallbranche sicher nicht der Fall sein wird, weil es da super gut läuft –, dann kriegen wir eine Stabilisierung der Binnennachfrage und – und das ist das Wichtige, was immer vergessen wird – dabei wird die deutsche Wettbewerbsfähigkeit in keiner Weise vermindert, sie wird nur nicht noch weiter erhöht.

Und das können wir uns sowieso nicht leisten, weil man muss sagen, dieser Aufschwung ist in vieler Hinsicht ein geborgter Aufschwung, es ist ein vom Ausland geborgter Aufschwung, weil das Ausland insgesamt sich massiv verschuldet, um den deutschen Aufschwung zu finanzieren. Das wird leider total vergessen. Und deswegen muss man auch bedenken die Zukunft dieses Aufschwungs, das wird nicht noch drei, vier, fünf Jahre so weitergehen.

Ostermann: Dr. Heiner Flassbeck, er ist Chefvolkswirt der UN-Organisation für Handel und Entwicklung.