Fische küssen mit offenen Augen

11.11.2013
Eine magische Kindheit am Meer - und ein Sommer, in dem ein Zehnjähriger spürt, dass er erwachsen wird: Der italienische Bestsellerautor Erri De Luca legt mit "Fische schließen nie die Augen" eine einfache Erzählung über eine erste Liebe vor und nimmt den Leser mit an den Golf von Neapel, wie er einmal war.
Am Anfang ist es eine Stimme, die sich im Ohr des Erzählers einnistet, eine Stimme aus seiner Kindheit. Es geht um das Meer und Köder und darum, dass das Meer einen nichts lehrt, sondern auf seine ganz eigene Weise handelt. Auf dem Meer sei der Junge allein, schärft ihm der Fischer ein, dessen dialektale Redewendungen wie Felsen inmitten von Wellen wirken, dort gebe es nichts außer dem Meer und ihm – und dies ist die grundlegende Erfahrung, die der Junge in diesem Sommer macht.

Zehn Jahre ist er alt, er beginnt sich zu verpuppen, von den Eltern zu lösen und seinem kindlichen Körper zu entwachsen. Er absolviert Kraftproben, stellt sich Aufgaben, verfolgt geheime Pläne. Dabei ist auch ein Mädchen im Spiel, das die Tierwelt studiert und ihm beibringt, auf die Bedeutung der Wörter zu achten.

"Fische schließen nie die Augen" ist eine kleine, poetische Kindheitsgeschichte des neapolitanischen Schriftstellers Erri De Luca, die durchaus autobiografische Züge aufweist. De Luca arbeitet den Prozess des Erinnerns und Heraufbeschwörens in den Kurz-Roman mit ein, auch Splitter aus der Gegenwart tauchen auf, so wie der gesamte Lebensweg des Erzählers auf dem Hintergrund dieses Sommers eine bestimmte Logik entwickelt.

Das Mädchen versteht den Sinn der Mutprobe
Die Rahmenbedingungen sind in dem besagten Sommer ungewohnt: Der Junge kehrt gemeinsam mit seiner Mutter wie jedes Jahr für die Ferien auf die namenlose Insel zurück, die in vielem an Ischia erinnert, sein Vater hält sich in den USA auf und sucht Arbeit, seine draufgängerische, jüngere Schwester ist mit Freunden auf Reisen. Unter dem Sonnenschirm löst der Junge mit unerbittlicher Akribie Kreuzworträtsel. Eines Tages freundet er sich mit einem Mädchen an, das ihn wegen seiner Ernsthaftigkeit fasziniert. "Ich bin Schriftstellerin", verrät sie ihm, sie schreibe Geschichten über Tiere. Von nun an spricht der Junge jeden Tag mit ihr. Das fordert die Eifersucht anderer Heranwachsender heraus, die ihn ärgern, bis er sich rächt, sich anschließend aber bewusst verprügeln lässt und sogar im Krankenhaus landet. Das Mädchen versteht den Sinn dieser Mutprobe. Sie bringt ihm bei, wie man sich küsst, und wie ein Fisch schließt der Junge dabei nie die Augen.

De Lucas Erinnerungsrecherche besticht durch die Atmosphäre. Kindheit scheint hier nicht als ein verlorenes Paradies auf, sondern als eine Phase, die von magischem Denken und Unsicherheit beherrscht wird. Ein Gegengewicht bildet das Mädchen mit seiner Achtsamkeit. De Luca, der in Italien ein Bestsellerautor ist und vor allem in Frankreich große Erfolge feiert, verwendet eine spröde, einfache Sprache mit bildhaften Vergleichen, wenige Male schlägt er einen hohen Ton an und wagt ein gewisses Pathos, was eine Spur zu manieriert wirkt. Aber das sind nur kurze Momente. Immer wieder tauchen dialektale Formulierungen auf, die die Übersetzerin Annette Kopetzki mit sicherem Instinkt im Original belassen hat und dann ins Deutsche überträgt. Auf diese Weise blitzen Überbleibsel aus einer anderen Zeit auf, Anker im Meer der Erinnerung.

Besprochen von Maike Albath

Erri De Luca: Fische schließen nie die Augen
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Graf Verlag, München 2013
149 Seiten, 16,99 Euro