Finanzexperte über private Verschuldung

"Es kann im Prinzip jeden treffen"

Das Bild zeigt den Schriftzug "Schulden", gebaut aus Scrabblesteinen.
Treffen kann es jeden - und Schuld ist nicht immer der ungehemmte Konsum, sondern auch viel persönliches Pech. © dpa / picture alliance / Jens Büttner
Dirk Ulbricht im Gespräch mit Dieter Kassel · 14.08.2017
Jeder zehnte Erwachsene kann seine Rechnungen nicht bezahlen. Meist sind es Krankheiten, Scheidung oder Arbeitslosigkeit, die in die Überschuldung treiben – und nicht unkontrollierter Konsumrausch. Die Betroffenen verlieren oft jede Hoffnung, sagt Finanzexperte Dirk Ulbricht.
In Deutschland leben rund zehn Prozent der erwachsenen Bürger permanent im Minus - unbezahlte Rechnungen türmen sich. Das sind 6,85 Millionen Menschen. Bei fast 90 Prozent dieser Menschen ist die Ursache nicht selbstverschuldet. Entscheidend sind vielmehr Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Scheidung, die die Betroffenen ganz schnell in die Schuldenspirale geraten lassen.

Überzogenes Konsumverhalten ist nur bei elf Prozent der Menschen der Grund für eine Überschuldung. Doch mit dem Wirtschaftswachstum, wachsen unsere Ansprüche, und damit steigen auch die Fixkosten. Unser soziales Netz verheißt Sicherheit, aber im Notfall ist doch jeder auf sich gestellt. Wir sprechen mit Dirk Ulbricht, Direktor des Instituts für Finanzdienstleistungen (iff) über Ursachen, Wirkungen und über die Scham der Betroffenen.

Ulbricht sagt: "Es kann im Prinzip jeden treffen, auch ganz vernünftig Planende."

Restschuldbefreiung schwer zu erlangen

Doch das ist für die Betroffenen kein Trost, denn:
"In Deutschland ist es tatsächlich stigmatisiert, überschuldet zu sein. Das sieht man auch daran, dass die Restschuldbefreiung, im Gegensatz zu anderen Ländern, bei uns sehr schwer zu erlangen ist. (...)Überschuldung bringt Scham, und da weigern sich die Leute, das zu akzeptieren. Dadurch wird das Problem aber teilweise noch viel größer. Weil, wenn die Schulden erst mal anfangen zu laufen, dann Inkassounternehmen dazukommen und Zinsen draufpacken, Anwaltskosten und Ähnliches, wird es nicht besser."
Im gesellschaftlichen Aus zu landen, macht das Problem womöglich noch größer, weil die Situation als ausweglos betrachtet wird. Dazu scheint zu passen, dass "die Anzahl der Restschuldbefreiungsverfahren, also der Leute, die versuchen, ihre Schulden loszuwerden, in den letzten Jahren sinkt." Das habe vermutlich etwas damit zu, "dass die die Hoffnung fahren lassen."

Hören Sie auch unser "Zeitfragen"-Feature: "'Leben im Minus'. Warum immer mehr Menschen in Deutschland überschuldet sind" von Georg Gruber. Audio Player


Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Wirtschaftlich geht es den Menschen in Deutschland so gut wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das kann man statistisch belegen, was Durchschnittseinkommen, Arbeitslosigkeit, Summe der vererbten Gelder und vieles andere angeht. Man kann statistisch aber auch was anderes eindeutig belegen, nämlich dass die Zahl der Menschen, die in Deutschland überschuldet sind, auch so hoch ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Es sind 6,85 Millionen gewesen, als es das letzte Mal konkret gemessen wurde im vergangenen Herbst, und das heißt, ungefähr jeder zehnte Erwachsene in Deutschland ist inzwischen überschuldet. Woran das liegt und wie man aus einer solchen Situation wieder herauskommen kann, das wollen wir jetzt von Dirk Ulbricht wissen. Er ist der Direktor des Instituts für Finanzdienstleistungen, IFF. Das IFF ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Hamburg und mit dem Ziel, vor allem den Interessen von Verbrauchern, Anlegern und Kleinunternehmern zu dienen. Herr Ulbricht, einen schönen guten Morgen!
Dirk Ulbricht: Guten Morgen!
Kassel: Eigentlich ist es ja theoretisch nicht so schwierig. Man darf nicht auf Dauer mehr ausgeben, als man einnimmt. Die Leute, die als überschuldet gelten, haben die das alle schlicht nicht begriffen?
Ulbricht: Ganz so einfach ist es nicht. Es kann im Prinzip jeden treffen, auch ganz vernünftig Planende. Meistens, und das sehen wir vor allen Dingen auch in unseren Daten – wir haben ein Panel von circa 50.000 überschuldeten Haushalten in Deutschland. Meistens geht Überschuldung darauf zurück, dass irgendwelche Ereignisse einem in den Weg kommen, beispielsweise eine Scheidung, eine Krankheit, Arbeitsplatzverlust, was heutzutage ja auch nicht mehr so selten ist. Insofern sind es durchaus Leute, die ganz vernünftige und normale Einkommen gehabt haben und dann einfach Pech hatten und plötzlich sich in einer Notlage befinden.

Es wäre gut, wenn man eine offizielle Statistik hätte

Kassel: Gibt es eigentlich eine ganz genaue Definition von "überschuldet"? Wie viele Schulden muss man haben, dass man wirklich als jemand gilt, der da nicht mehr selbst herauskommt?
Ulbricht: Die Zahl, die Sie genannt hatten, von 6,58 Millionen, geht auf die Definition der Kreditreform zurück, die vor allen Dingen auf Negativmerkmalen basiert, das heißt, wenn jemand jetzt mehrfach seine Zahlungen nicht erfüllt bis hin zu Haftbefehlen, also wegen juristischen Verfahren, sagen wir mal so, das ist dann die Definition. Tatsächlich mangelt es aber auch an einer wirklich offiziellen Statistik. Einfach nur die Anzahl der Restschuldbefreiungsverfahren, also der Überschuldungsverfahren zu zählen, würde auch nicht greifen. Es wäre ganz gut, wenn man eine offizielle Statistik dazu hätte.
Kassel: Ich habe das nicht nur gefragt, um einfach mal die Begriffe zu erklären – auch deshalb, aber auch aus einem anderen Grund: Wir haben heute Abend um 19:30 Uhr, ich werde das nachher noch erwähnen, ein Feature, das sich mit solchen Fällen beschäftigt, und da sind einige Beispiele darin, die einerseits sehr unterschiedlich sind, aber eines haben diese Menschen, die da beschrieben werden, alle gemeinsam. Sie haben selbst erst relativ spät begriffen, dass sie in eine Lage geraten sind, aus der sie nicht wieder ohne Hilfe herauskommen. Ist das nicht wirklich auch so ein Muster, das sich wiederholt, dass Menschen viel zu lange glauben, das ist sehr unangenehm, aber irgendwie geht das alles noch?

Wer Schulden hat, ist stigmatisiert

Ulbricht: Bestimmt. In Deutschland ist es auch tatsächlich stigmatisiert, überschuldet zu sein. Das sieht man auch daran, dass die Restschuldbefreiung im Gegensatz zu anderen Ländern bei uns sehr schwer zu erlangen ist. Sechs Jahre dauert es meistens, bis der ganze Prozess abgeschlossen ist, noch ein bisschen länger. Überschuldung bringt Scham, und da weigern sich die Leute, das zu akzeptieren. Dadurch wird das Problem aber teilweise noch viel größer. Weil, wenn die Schulden erst mal anfangen zu laufen, dann Inkassounternehmen dazukommen und Zinsen draufpacken, Anwaltskosten und Ähnliches, wird es nicht besser.
Kassel: Nun gibt es natürlich Schuldnerberatung in Deutschland. Sie haben ein Problem schon beschrieben: Es dauert sehr lange, ehe die Leute dahingehen, und dann müssen sie oft auch noch warten, weil die meistens sehr viel zu tun haben. Aber wenn man denn dran ist, wie kann einem eine Schuldnerberatung wirklich helfen? Was kann man wirklich machen in so einer Lage?
Ulbricht: Man muss gucken, dass man erstmal einen klaren Kopf bekommt, versucht, erstmal zu gucken, kann man da rauskommen, oder muss man vielleicht dann – bleibt einem vielleicht nur noch eine Restschuldbefreiung? Es ist häufig so, dass die Leute es einfach ignorieren. Das heißt, da kommen die bösen Briefe, die türmen sich da, und da kommt keine Struktur rein. Das heißt, ganz wichtig erstmal, dass man das Problem für sich erkennt, mithilfe von Leuten, die wirklich wissen, was man da macht, das angeht. Das ist eines. Das andere ist, dass teilweise auch Forderungen auf einen zukommen, wenn man erstmal Probleme hat, gerade wenn es in den Inkassobereich reingeht, kann es schon häufiger mal sein, dass sich die Kosten dann auch ohne, dass es wirklich begründet ist, auftürmen.
Das heißt, wenn man da was machen würde, dann würde es einem helfen. Ganz einfach zum Beispiel ist es auch, wenn Sie jetzt Post kriegen, einen gerichtlichen Mahnbescheid, der auf Sie gar nicht zutrifft, eine Forderung, die Sie eigentlich gar nicht zahlen müssten, dann müssen Sie reagieren, dann müssen Sie auf der Umseite, das Ding umdrehen und schreiben, nein, das ist nicht berechtigt, und wieder zurückschicken. Wenn Sie das nicht machen, dann wird das plötzlich tatsächlich eine beitreibbare Forderung. Das heißt, auch solche Sachen, da helfen die Schuldnerberater schon sehr. Leider sind die aber unterfinanziert, und es gibt viel zu wenige.

Mit finanzieller Allgemeinbildung ist es nicht getan

Kassel: Es gibt natürlich schon Menschen, ich glaube, komplett weglassen sollten wir das nicht, die Statistik sagt, das seien so ungefähr zehn Prozent dieser Menschen, die als offiziell überschuldet gelten, bei denen ist es nicht ein unvorhergesehenes Ereignis, einfach Pech im weitesten Sinne, da ist es das, was man so als Klischee im Kopf hat, dieses unvernünftige Konsumverhalten, also die drei Fernseher und sonstiger Quatsch. Ist denen leichter zu helfen oder schwerer? Rein rechnerisch kann man da ganz viel weglassen, und die Lebensqualität sinkt nicht. Aber wahrscheinlich sind die schwerer davon zu überzeugen, dass sie mal was weglassen sollten, oder?
Ulbricht: Das ist tatsächlich so. Es ist auch nicht mit finanzieller Allgemeinbildung, was man gern sagt, einfach getan. Das ist ein Stück weit das Gesellschaftsbild, das immer materialistischer wird. Es wird einem vorgelebt, was man alles haben muss, damit man dabei ist. Und ich denke, das zeigen auch internationale Studien, dass das wirklich ein Faktor ist, bei dem man dann halt einfach gesellschaftlich vielleicht da anders herangehen müsste.
Kassel: Gibt es eigentlich auch ein bisschen diesen Effekt – wenn ich ehrlich bin, ich denke mir das manchmal so –, wenn man sieht, dass Städte und Gemeinden, ganze Staaten, Unternehmen und Boris Becker, der eine oder andere Prominente, alle um einen rum, unfassbar viele Schulden haben, dass sich manch einer auch sagt, mein Gott, da kommt es doch auf meine 50.000 wirklich nicht an.
Ulbricht: Ja, das kann natürlich auch sein, aber Sie meinen jetzt, bevor er überschuldet ist, dass man sagt –
Kassel: Na ja, dass manche Leute einfach sagen, komm, lasst mir doch in Ruhe, ihr könnt ja am Ende eh nichts machen, ich habe kein Geld mehr, bei mir ist halt nichts zu holen. Gibt es diesen Typ nicht auch.
Ulbricht: Ja, sicher. Leider Gottes gibt es den immer häufiger, der zwar jetzt nicht im negativen Sinn sagt, rutsch mir den Buckel runter, sondern wir erleben ja zum Beispiel, dass seltsamerweise die Anzahl der Restschuldbefreiungsverfahren, also der Leute, die versuchen, ihre Schulden loszuwerden, in den letzten Jahren sinkt. Das hat aber eher was damit zu tun, dass die die Hoffnung fahren lassen. Die sagen, ich tu mir den Spaß an – was heißt, den Spaß –, ich tu mir dieses ganze Ding nicht an, weil seit Kurzem oder seit ein paar Jahren gibt es dieses sogenannte Pfändungsschutzkonto, sodass sie weiter am Bankverkehr teilnehmen können. Das war bisher immer die wesentliche Beschränkung, die man da hatte. Wenn Sie nicht überweisen können, keine Lastschriften nutzen können, dann sind Sie wirklich gesellschaftlich im Aus. Das ist jetzt erledigt. Und dann sagen die sich: Ich habe sowieso keine Chance, ich lass das jetzt einfach und arrangiere mich mit meiner Situation. Das ist ganz schlecht.
Kassel: Schwierig. Und es sind doch nicht alle gleich, die dieses Problem haben. Wir werden das heute Abend vertiefen. Aber erstmal vielen Dank an Dirk Ulbricht, den Direktor des Instituts für Finanzdienstleistungen. Danke fürs Gespräch, Herr Ulbricht!
Ulbricht: Gern, tschüs!
Kassel: Tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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