Filmtheoretiker

Vor 125 Jahren wurde Siegfried Kracauer geboren

Der Presseausweis von Siegfried Kracauer
Der Presseausweis von Siegfried Kracauer © picture-alliance / dpa / Daniel Reinhardt
Von Cornelie Ueding · 08.02.2014
Der Architekt, Journalist, Soziologe, Geschichtsphilosoph und Autor Siegfried Kracauer war der wohl wichtigste Filmtheoretiker des 20. Jahrhunderts. Seine von Alltagsbeobachtungen abgeleiteten Analysen und die erst im amerikanischen Exil entwickelte Filmtheorie haben auch heute an Aktualität nichts verloren.
"Ich war noch sehr jung, als ich meinen ersten Film sah ... Was mich so tief bewegte, war eine gewöhnliche Vorstadtstraße, gefüllt mit Lichtern und Schatten, die sie transfigurierten. Einige Bäume standen umher, und im Vordergrund war eine Pfütze, in der sich unsichtbare Hausfassaden und ein Stück Himmel spiegelten. Dann störte eine Brise die Schatten auf und die Fassaden unter dem Himmel begannen zu schwanken. Die zitternde Oberwelt in der schmutzigen Pfütze. Das Bild hat mich niemals verlassen."
Die Welt in filmische Bilder zu übersetzen und Filmbilder als Abdruck der Wirklichkeit zu dechiffrieren - das war Siegfried Kracauers herausragende Fähigkeit. Und auch sein Schicksal. Er war und blieb ein Beobachter. Ein Sonderling. In Frankfurt am Main am 8. Februar 1889 geboren und in kleinbürgerlichen jüdischen Verhältnissen aufgewachsen, musste er, der stotterte, sein Gesicht hässlich fand und seinen Vornamen hasste, auf Drängen der Eltern Architektur studieren, statt sich, seiner Neigung folgend, von Anfang an dem Schreiben, der Schriftstellerei und Philosophie widmen zu können.
Selbst später, im Umfeld der Frankfurter Schule, die sich ab Mitte der zwanziger Jahre konstituierte und der er nahestand, gehörte der Journalist, Schriftsteller, Philosoph und Soziologe Kracauer, dieser "Mensch ohne Haut", wie Adorno ihn nannte, nie ganz dazu.
So war seine langjährige Position als Redakteur der Frankfurter Zeitung schon vor 1933 zunehmend gefährdet. Rechtzeitig gewarnt, floh er nach Paris: Gleich nach dem Reichstagsbrand, dessen Wirkung er in einem seiner letzten Artikel für die Frankfurter Zeitung so beschrieb:
"Eine endlose Prozession von Menschen zieht sich um das isolierte Gebäude herum. Was an ihnen befremdet, ist ihr beharrliches Schweigen. Es berührt aber darum so merkwürdig, weil Fälle öffentlichen Unglücks in der Regel gerade das Mitteilungsbedürfnis der Massen erwecken. Dieser Brand dagegen lässt die Menge verstummen."
Als einer, dessen Lebensform ein einziger Transit-Zustand war, registrierte, sammelte und erforschte Kracauer unermüdlich die Exotik des Alltags, die Welt der kleinen Leute. Er protokollierte das Leben der Angestellten und ihr Freizeitverhalten in Büros, Kneipen Hinterhöfen; in Vergnügungsstätten und auf den Straßen. Er sah Wartende in ihnen. Als das Warten ein Ende hatte und die Faschisten Ziele setzten, blieb ihm der traurige Ruhm, alles bereits vorausgesehen, eingeordnet, verstanden zu haben.
Für ihn gab es nichts Unschuldiges, Ungefährliches: Schon in seinem 1927 erschienenen Essay "Das Ornament der Masse" sieht er die Ästhetik des Faschismus.
"Ein Blick auf die Leinwand belegt, dass die Ornamente aus Tausenden von Körpern bestehen, Körpern in Badehosen ohne Geschlecht. Es ist die Masse, die eingesetzt wird. Als Massenglieder allein, nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein glauben, sind die Menschen Bruchteile einer Figur."
1941, nach acht Jahren bitterster Armut in Paris, gelang ihm im letzten Augenblick die Flucht in die USA, wo er bis zu seinem Tod am 26. November 1966 lebte. Von da an schrieb Kracauer nur noch in englischer Sprache, analysierte die Filmpropaganda der Nazis und veröffentlichte sein filmsoziologisches Hauptwerk Von Caligari zu Hitler, das in vollständiger Übersetzung erst 1979 auch in Deutschland erscheinen konnte.
Seine kritischen Alltagsexplorationen konnte Kracauer aber weder in Frankreich noch in den USA fortsetzen, erläutert die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer: Kracauer hat durch die Exilierung, anders als die Dichter und Wissenschaftler deutscher Sprache, die sein Schicksal teilten, nicht nur das Tagespublikum der Zeitungen, sondern auch das Feld seiner Beobachtungen, die heimische Großstadt verlassen.
Kracauer, dessen Essays intellektuelle Erwiderungen auf Tagesereignisse waren, hatte mit der angestammten Sprache und Kultur seinen Gegenstand verloren.
Der deutsche Film wurde ihm im Exil als Medium sozialer Wahrnehmung und Reflexion wichtiger denn je - und begründete seinen Weltruhm als Filmtheoretiker. Die Rückkehr in die Welt seiner Beobachtungen schloss er aus:
"Wir waren nur drei Tage in Deutschland. Das war uns auch genug. Die Tatsache, dass es in Deutschland nie eine Gesellschaft gab, zeigt sich erschreckend. Die Leute sind alle völlig formlos und unkanalisiert. Sie haben kein Außen und ein ungeordnetes Innen. Es ist alles da, aber nichts am Platz. Daher das unechte, gekünstelte Benehmen. Diese "styled language". Die komplette Unsicherheit. Kurzum: ich traue ihnen nicht."