Filmkritik zu "Still Alice"

Der Weg ins Vergessen

Mitten in der Vorlesung fällt Professorin Dr. Alice Howland (Julianne Moore) in "Still Alice" auf einmal ein Wort nicht mehr ein, die ersten Anzeichen ihrer Erkrankung.
Mitten in der Vorlesung fällt Professorin Dr. Alice Howland (Julianne Moore) in "Still Alice" auf einmal ein Wort nicht mehr ein, die ersten Anzeichen ihrer Erkrankung. © BSMStudio / Verleih Polyband
Von Patrick Wellinski · 05.03.2015
Julianne Moore spielt in "Still Alice - Mein Leben ohne Gestern" eine an Alzheimer erkrankende Linguistik-Professorin. Es ist ein beeindruckender Film, der auch davon erzählt, dass eine Krankheit neue Spielräume eröffnet. Die Schauspielerin erhielt für die Rolle ihren ersten Oscar.
Alice Howland (Julianne Moore) steht mitten im Leben. Sie gilt als führende Linguistikprofessorin des Landes. Sie hat drei erwachsene Kinder und lebt in einer harmonischen Ehe mit John (Alec Baldwin). Doch dann beginnen die Aussetzer. Beim Joggen verirrt sie sich. Sie vergisst Worte, Endungen, Rezepte. Ein Besuch beim Neurologen bestätigt die größten Befürchtungen. Obwohl noch relativ jung, leidet Alice an Alzheimer. Es beginnt der Weg dieser Frau ins Vergessen, der in diesem stillen Film eher ein Weg hin zu einem neuen Zusammenhalt der Familie ist.
"Still Alice" wird natürlich auf ewig der Film sein, für den die großartige Julianne Moore ihren ersten Oscar erhielt. Aber ist es ihre beste Performance? Ist es ein hervorragender Film? Das wird man sich wohl kaum fragen. Dabei ist der Mut, den "Still Alice" an den Tag legt, in vielerlei Hinsicht beeindruckend. Er nimmt uns nicht in emotionale Geiselhaft. Zwingt uns nicht, den Kreuzweg einer kranken Frau zu gehen. Er nimmt sich häufig sehr zurück und beobachtet genau, wie innerhalb der Howlandfamilie die Krankheit zu neuen Bündnissen führt. So nähert sich Alice der jüngsten Tochter, dem Problemkind der Familie, an. In ihrem Außenseitertum sind sich beide Frauen plötzlich sehr nah. Es sind genau diese sanften Figurenzeichnungen, die Richard Glatzers und Wash Westmorelands Film sehr interessant machen.
Noch einmal die brillante Rhetorikerin
Es ist aber dennoch schade, dass "Still Alice" am Ende der formale Mut fehlt, sich gegen die Konventionen des Krankheitsdramas durchzusetzen und sich zum Beispiel den Rhythmus der Alzheimererkrankung zu eigen zu machen. Nur einmal öffnet der Film die Tür in genau diese Richtung. Es ist der Moment, in dem Alice vor einer Gruppe Kranker spricht. Sie klammert sich hilfsbedürftig an ihre Notizen. Noch einmal will sie die brillante Rhetorikerin sein, die sie war. In ihrer Rede zitiert sie Elizabeth Bishops weltbekanntes Gedicht "Eine Kunst". Bishops Gedicht ist ein Verweis auf die Brüchigkeit unseres Lebens, das nur sehr lose von allen Einzelheiten der Wirklichkeit zusammengehalten wird. Mehr noch: Das Gedicht lässt uns begreifen, dass unser Leben von vornherein eine unaufhaltsame Abfolge des Verlierens ist. Dabei ist es egal, ob wir einen Job, eine Liebe oder eben unser Gedächtnis verlieren. In Bishops Zeilen liegt viel Trost. Vielleicht mehr, als es jeder Spielfilm leisten kann:
Die Kunst zu Verlieren ist nicht schwer zu fassen,
so viele Dinge legen's darauf an
verlor'n zu werden, man kann sie gehen lassen.
USA/Kanada 2014, Regie: Richard Glatzer und Wash Westmoreland, 101 Minuten, Mit u.a.: Julianne Moore, Alec Baldwin, Kristen Stewart.
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