Filmgeschichte

Der rote Laster der Nacht

Filmprojektor
Ein Filmprojektor aus den guten alten Tagen des Kinos. © dpa / picture alliance / Jens Wolf
Von Lenore Lötsch  · 26.07.2014
Ein Mann, ausgebildeter Musiker, baut einen Feuerwehr-LKW aus. Ein Freund, auch Musiker, hat die Idee: Warum zeigen wir nicht Filme und musizieren dazu? "Wanderkino" nennen die beiden Leipziger ihre Sommerbeschäftigung, seit 15 Jahren rollen sie durch die Republik.
Wer auf dieser frisch gemähten Wiese im sächsischen Lungkwitz landet, braucht echtes Gottvertrauen zu seinem Navigationsgerät, das einen über gesperrte Waldwege und löchrige Pfade führt. Oder er hat Ortskenntnis und weiß, dass einmal im Jahr Kinozeit auf dem Hügel hinterm letzten Bauernhof ist. Rika Mixa, die Herrin über Haus und Hügel, steht an der improvisierten Kinokasse und kann sich nicht mehr erinnern, ob es der Sommer vor sieben oder acht Jahren war, als alles begann:
"Ja, wir waren auf Hiddensee im Urlaub, und dort spielte das Leipziger Wanderkino, und da ist das zustande gekommen, diese Idee: Das könnte man doch hier auch mal machen, wo hier soviel Platz ist!"
Im Moment geht es allerdings darum, den richtigen, den ebenen Platz zu finden für die Feuerwehr. Gunthard Stephan sitzt in dem Oldtimer aus dem Jahr 1969, während sein Kollege Tobias Rank sich an der altertümlichen, in die Höhe gestreckten Lampe auf der Beifahrerseite festhält und ihn einweist. Einige Männer im Hintergrund beginnen selig zu lächeln bei diesem Sound:
"Magirus Deutz für den, den´s interessiert: zehn Liter Hubraum, 150 PS, ein luftgekühlter Motor. Was kann man noch sagen. − Hast du die Höchstgeschwindigkeit schon benannt? − Nein, die hab ich nicht genannt. 80! 80 km/h, das ist nicht wenig, 80. Die LKW fahren unwesentlich schneller."
Tobias Rank und Gunthard Stephan wirken wie ein schrulliges altes Paar, deren Liebeserklärung füreinander immer zur Frotzelei wird. Begeistert erzählen sie von ihren blauen Ohrenschützern aus dem Baumarkt, die den empfindlichen Musikerohren endlich Ruhe verschafft haben, wenn sie im Sommer mit der roten Feuerwehr über die Autobahnen tuckern. Kino in die entlegensten Ecken der Welt bringen – das ist ihr Sommerjob. Sie brauchen nur Strom:
"Und auch der lässt sich zur Not noch erzeugen. Wir haben alles dabei, da müssen nur die Leute kommen. − Wie viele Menschen jetzt heut Abend hier hochfinden, das wissen wir noch nicht genau, und trotzdem ist eigentlich schon abzusehen: Wenn wir spielen, wird's schön."
70 Jahre alte Koffer und hölzerne Stative
Es hat sich ein dritter Musiker angekündigt, und er war nicht bestellt: Der Regen tropft taktgebend auf das grüne Zeltdach, unter dem nachher das Piano steht und der Geiger links daneben.
"Welches Wetter soll denn werden? Bis Mitternacht regenfrei. Das wäre doch toll! Wenn's passt, ideal! Es klingt gerade nicht so, aber es regnet sich jetzt ab."
Die beiden sind mutig und bauen trotzdem schon mal auf; auch weil sie wissen: In den letzten 15 Jahren sind wenige Vorstellungen wegen Regen abgesagt worden, irgendeine Trockenvariante findet sich.
Aus der Feuerwehr werden 70 Jahre alte Koffer gezerrt, aus unerkannten Tiefen ziehen sie hölzerne Stative zum Aufklappen; direkt an die Feuerwehr schrauben sie aus Leisten einen rechteckigen Rahmen, auf den sie die doppelte Leinwand ziehen. Jeder Griff fördert eine untergegangene Kinowelt zu Tage:
"Projektionstisch Kaba Düsseldorf. Stative von der TK 35."
Die Liebe zu alten Dingen ist zur Philosophie geworden, sagt Gunthard Stephan:
"Dieses Handwerk, diese Mechanik, diese Begreifbarkeit der Dinge. Wie Einfachheit sich bewährt, und tatsächlich – je simpler eine Konstruktion ist, umso besser ist sie irgendwie auch, ja. Wenn man das merkt, das was funktioniert, gibt's erstmal keinen Grund, das zu ändern."
Statt Cola gibt es beim Wanderkino Johanniwasser, und statt Popcorn balancieren die Freiluftkinofreunde selbstgebackene Kekse zu ihrer Biertischgarnitur. Es zeigt sich: Sachsen sind Wetteroptimisten. Um 21.30 Uhr reichen die Stühle nicht mehr und Tobias Rank muss die 30 Klappstühle – die Notreserve – vom Dach der Feuerwehr holen. Ihr musikalisches Stummfilmkinoangebot funktioniert da, wo Kino nicht mehr ist oder noch nie war. Aber nicht nur dort, sagt der 46-Jährige, dem die Haare strubbelig über die Ohren hängen:
"Vielleicht die Sehnsucht nach 'nem bestimmten Kino. Also es funktioniert ja auch in Städten, wo es viele Filmtheater gibt. Eher die Sehnsucht, genau das zu erleben: mit dem Projektor, der eben rattert und das Bild, was eben niemals so scharf ist wie im Cinemax und so."
Ludewig, Ranks sechsjähriger Sohn, der manchmal mitdarf und dann natürlich auch in der Feuerwehr übernachtet, sieht skeptisch über den Hügel, da wo die blaue Stunde entschieden zur schwarzen wird:
"Da hinten geht die Sonne schon unter, bald geht's los!"
Ein großer oranger Schirm beschützt den 16-Millimeter-Projektor, der in 1,80 Meter Höhe auf einem Dreifuß steht. Die gut 50 Kinobesucher haben die Decken und Jacken griffbereit und blicken auf die Leinwand, die von zwei im Gras versteckten Scheinwerfern angestrahlt wird. Der Himmel gibt heute den Kinovorhang im Hintergrund. Und Buster Keaton und sein Film "Garage" aus dem Jahr 1919 sind der Türöffner in die Stummfilmwelt.
Da wird gelacht
Tobias Rank am Piano hat den Schal eng um den Hals gewickelt und schaut ständig zur Leinwand, während er spielt:
"Die Filme sind uns wie die Noten. Da gibt's Absprachen zwischen uns: Hier spielst du vielleicht mal alleine weiter. Aber es ist schon jeden Abend sehr anders."
Eine Minute braucht es, und auch der skeptische Teenager in der zweiten Reihe, der von seinem Vater zum besonderen Kulturabend gelotst wurde, lacht aus vollem Hals:
"Das meiste, was man erlebt an Theater oder an Musik, das ist für ein gewisses Zielpublikum, und da gehen gewisse Leute sehr gern hin und gewisse Leute niemals."
Tobias Rank weist auf das Wanderkinopublikum, das inzwischen auf den zweiten Film wartet.
"Und das ist was sehr Verbindendes. Wo das völlig abgelegt ist, wo das gar nicht zur Frage gestellt wird: Ist das jetzt was für mich oder darf ich jetzt hier lachen? Oder entspricht das jetzt meinem geistigen Horizont? Sondern da wird gelacht, da wird hingegangen, da lässt man sich berühren. Das ist, glaube ich, das Wichtige."
Und Gunthard Stephan an der Geige sieht sich auch ein bisschen als Schatzgräber: Zwischen Buster Keaton und Charly Chaplin, zwischen rasant fallen und lustig laufen und leiden, versteckt er im Programm die experimentellen, avantgardistischen Perlen des letzten Kino-Jahrhunderts:
"Ja gibt es, einfach da Dinge zu zeigen, die man landläufig mit Stummfilm nicht in Verbindung bringt. Dass man also sowohl lacht als auch den Hans Richter sieht, der mit seinen Filmen Kunst gezaubert hat."
Der 20-minütige Film "Everyday" von Hans Richter aus dem Jahr 1929 mit den rasanten Schnitten wird an diesem Abend in Lungkwitz sogar zum 3D-Kino: Eine Fledermaus huscht über die Leinwand.
Wenn sie ihren Job gut gemacht haben, wissen die beiden Musiker und Wanderkinobetreiber, dann hat man nicht auf sie geachtet. Dann ist aus Kino mit Musik ein Abend der Bilder und Töne geworden. Und erst beim Schlussapplaus merkt man: Das war ein Liveerlebnis. Dieses Mal hat es funktioniert.
Besucherin: "Also ich fand's ganz großartig, ganz individuell auch in der Atmosphäre und diesem Surrounding: macht einem einfach klar, was man mit den Augen wahrnimmt und was man mit den Ohren hört, da hat die Musik diesen Blickeindruck noch verstärkt. Also, wenn sie weg wäre, würde aber deutlich was fehlen."