Filmfestspiele in Cannes

Viel Sex und doch kein Skandal

Schauspieler Gérard Depardieu lässt sich in Cannes mit FIFA-Präsident Sepp Blatter und dem Regisseur Frédéric Auburtin fotografieren.
Schauspieler Gérard Depardieu lässt sich in Cannes mit FIFA-Präsident Sepp Blatter und dem Regisseur Frédéric Auburtin fotografieren. © picture alliance / dpa / Julien Warnand
Moderation: Katrin Heise · 19.05.2014
In Cannes sorgt ein Film für Aufregung, der gar nicht im offiziellen Programm läuft. Einen echten Eklat schafft "Welcome to New York" mit Gérard Depardieu als Dominique Strauss-Kahn trotzdem nicht, meint Katja Nicodemus.
Katrin Heise: Im Programm der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes sind wieder viele ehemalige Goldene-Palme-Preisträger, zum Beispiel Ken Loach ist da, Mike Leigh, die Brüder Dardenne sind versammelt, das ist ja immer so eine Art Familientreffen. Aber vor allem ein Geschehen am Strand sorgt diesmal für Schlagzeilen in Cannes - und darüber hinaus!
Dort lief nämlich am Strand in einem Zelt ein Film, der gar nicht zum offiziellen Programm gehört, der außerhalb des Festivals gezeigt wurde: "Welcome to New York" von Abel Ferrara. Es geht um die Affäre Strauss-Kahn, in der Hauptrolle Gérard Depardieu. Vor der Sendung konnte ich unsere Filmkritikerin Katja Nicodemus in Cannes dazu befragen und wollte zuerst mal wissen: Frau Nicodemus, wie kann sich so ein Film nach Cannes einschmuggeln?
Katja Nicodemus: Ja, ich weiß gar nicht, ob schmuggeln so das richtige Wort ist, weil, eigentlich könnte man genauso gut versuchen, eine Mittelstreckenrakete unbemerkt nach Cannes zu schmuggeln! Es finden ja hier in Cannes jenseits des offiziellen Programms, das so in den Festivalkinos halt abläuft mit dem roten Teppich und so weiter, finden ja eine ganz große Anzahl von Vorführungen statt, hauptsächlich auf dem Filmmarkt, das ist hier sozusagen auch Tagesordnung. Zum Beispiel das größte Luxushotel hier, das Carlton, das hat quer auf seiner Fassade ein riesiges Werbebanner für den Film "The Expendabels III" mit Sylvester Stallone und Harrison Ford, und letztlich ist es so ähnlich hier mit "Welcome to New York".
Den wollte das Festival nicht im Wettbewerb zeigen, dann hat die Produktionsfirma halt ein Zelt, so eine Leinwand gemietet in einem kleinen Zelt am Strand, 500 Gäste eingeladen, das war eine grauenvolle Vorführungsqualität, man hörte so die Motorboote, man hörte Geschirrklappern von der Party nebenan, es war so ein bisschen eine Mehrzweckhallenatmosphäre im Kino, aber okay, auch das ist Cannes. Aber das ist letztlich auch so ein bisschen der Trash von Cannes.
"Nicht wirklich für Skandale gesorgt"
Heise: Jetzt wollen wir doch erst mal wissen, wie war denn dieser Film? Sorgt der auch inhaltlich für Skandale? Um das, was sich das sonst jetzt rankt, davon hören wir ja gleich, aber jetzt inhaltlich?
Nicodemus: Also, leider hat er nicht wirklich für Skandale gesorgt. Der Film ist ja ungefähr, finde ich, so wie sich jetzt Lieschen Müller das so vorstellt im Leben von Dominique Strauss-Kahn. Also, die erste Dreiviertelstunde besteht im Grunde nur aus ganz plump gefilmten Sexszenen. Also wenn zum Beispiel der Weltbankchef in New York in sein Büro geht, dann setzen sich natürlich sofort zwei Callgirls auf seinen Schoß, so ist das halt bei der Weltbank! Und wenn er ins Hotelzimmer geht, gibt es erst mal einen Blowjob. Danach wird gesoffen, man schüttet sich Champagner auf den Kopf, man verreibt Eiscreme auf Brüsten.
Das Ganze ist aber leider keine Satire und auch keine Stilisierung, auch nicht mal Trash, sondern ja eigentlich nur so ganz brav nacherzählt, dann der Skandal, dann tritt das farbige Zimmermädchen auf, es kommt zur Anklage, es gibt eine Ehekrise bei den Strauss-Kahns. Und dazwischen immer wieder so softpornografische Rückblenden, die Strauss-Kahn als Sexmonster zeigen. Und das Traurigste an dem Film ist eigentlich der Niedergang oder man kann auch sagen, ja, vielleicht das Ende des Niedergangs des Schauspielers Gérard Depardieu, denn der ist im Grunde nur so ein grunzender Fleischberg, eigentlich ein Superproll und man nimmt ihm nicht eine Sekunde ab, dass hier ein Weltbankchef spielt, der auch noch französischer Präsidentschaftskandidat werden wollte. Das ist eigentlich das Obszöne an diesem Film, wie er diesen Schauspieler alleine lässt.
Anzeige wegen Verleumdung
Heise: Strauss-Kahn selber allerdings hat jetzt schon reagiert und es gibt jedenfalls die Meldung, er hätte Anzeige erstattet wegen Verleumdung. Ist das Festival Ihrer Meinung nach vielleicht zu vorsichtig gewesen und auch finanziell zu abhängig, als dass man sich mit dem politischen Establishment anlegen wollte? Oder warum wurde dieser Film nicht eingeladen?
Nicodemus: Ich finde es absolut richtig, dass der Film nicht eingeladen wurde, alleine aus ästhetischen Gründen. Wenn er eingeladen worden wäre, dann hätten alle Leute gezetert, mein Gott, wie kann man denn so einen Mist einladen, nur um einen Skandal auf dem roten Teppich zu provozieren? Im Grunde könnte es so, wie es jetzt gelaufen ist, den Festival-Organisatoren eigentlich nur recht sein, denn Cannes ... Wir denken immer, das ist der Tempel der Filmkunst nur oder der Heilige Gral, aber es ist ja auch eine riesige Medialisierungsmaschine!
Also, was jetzt hier so über den roten Teppich läuft, das hat oft mal gar nichts mit Kino zu tun! Also, amerikanische Serienstars, Models, Fußballergattinnen, Fernsehmoderatorinnen, und trotzdem, ja, da begreift man all das hier als eine Verlängerung des Rampenlichts, das dann auf die Filme im Programm, auf das Spektakel und auf das Event Cannes abstrahlt. Und so läuft das eben auch hier bei diesem Film.
Und der beste Beweis dafür ist eben die Tatsache, dass Thierry Frémaux, der künstlerische Leiter von Cannes, dass der es sich nicht nehmen ließ, gemeinsam mit Gérard Depardieu dann, dem Darsteller von Dominique Strauss-Kahn, zur Vorführung des Films zu kommen und den sozusagen inoffiziell dann abzusegnen wie so ein unehelicher Sohn, den man dann doch zum Familienfest einlädt. Alle reden über ihn, aber er sitzt doch am Katzentisch!
"Jean-Luc Godard hat schon mal Ähnliches versucht"
Heise: Jetzt kommt dieser Film überhaupt gar nicht wahrscheinlich in die Kinos, wir können ihn nämlich bereits im Internet uns anschauen. Entscheiden sich die französischen Filmverleiher Wild Bunch damit für ganz neue Verwertungsstrategien für Filme?
Nicodemus: Eigentlich ist das nicht eine richtig neue Verwertungsstrategie, weil, zum Beispiel haben ja Steven Soderbergh und auch Jean-Luc Godard in Cannes schon mal Ähnliches versucht, indem sie Filme direkt nach der Vorführung in Cannes versucht haben, im Internet zu zeigen. Und dass sozusagen dieses Video on Demand sich sozusagen verschaltet mit dem Festival, nimmt, glaube ich, immer mehr zu. Das ist, glaube ich, auch eine ganz konsequente Entscheidung des französischen Weltvertriebes Wild Bunch.
Heise: Können Sie dazu noch ein paar mehr Worte sagen? Wild Bunch, wer steckt dahinter?
Nicodemus: Das ist, ganz simpel gesagt, eigentlich der wichtigste französische Weltvertrieb auf internationaler Ebene. Diese Firma sitzt in Paris und sie hat vor allem ein Ziel, sie will nämlich französische Filme und französische Koproduktionen in die ganze Welt verkaufen. Und da ist natürlich Cannes ein ideales Pflaster. Man muss nur leider sagen, Wild Bunch hat Cannes eigentlich so ziemlich in der Hand, es gibt hier nämlich kaum einen Film im Wettbewerb, bei dem im Vorspann nicht das Logo Wild Bunch auftritt, und das bedeutet eben auch eine enorme Macht, einen festivalpolitischen Druck. Und der hat natürlich dann auch damit zu tun, dass der Film hier läuft und dass der künstlerische Leiter da brav marschiert und das Publikum dann grüßt.
"Wozu braucht es noch Festivals?"
Heise: Was gibt es Neues in Cannes, Diskussionen diesmal nicht nur über die Filme, sondern auch über die Art, wie sie zu uns, die Zuschauer, kommen. Frau Nicodemus, es scheint ja nicht mehr weit weg zu sein, dass wir demnächst Filme einfach eben mit einem Mausklick uns nach Hause holen, nicht mehr in die Kinos gehen. Aber wozu braucht es dann vor allem überhaupt noch Festivals?
Nicodemus: Na ja, Festivals müssen sich natürlich verändern. Sie können natürlich diese Entwicklungen nicht einfach so still über ihren Kopf ziehen lassen. Aber ein Festival, Venedig hat zum Beispiel schon damit experimentiert, auf diesem Feld. Da wurden Filme gezeigt aus Nebensektionen eben online für einen beschränkten, einen kleinen Kreis von professionellen Teilnehmern. Und das wird, glaube ich, immer mehr zunehmen, dass sozusagen nicht nur das Vernetzungspotenzial, nicht nur das Kommunikationspotenzial von Internet genutzt wird, sondern auch das Filmbildungspotenzial.
Man kann sich ja auch vorstellen, dass hier mal ein Film von Jean-Luc Godard läuft oder von Almodóvar, und parallel man sich mit einem Verleih kurzschaltet und das gesamte Oeuvre dann im Internet zeigt, on demand. Und ich glaube auch, dass die kuratorische Funktion von Festivals immer wichtiger werden wird.
Heise: "Welcome to New York", dieser Film ist ja nicht nur vorbei quasi am Festival, sondern eigentlich auch vorbei an der Kritik zum Verbraucher gelangt, durchs Netz. Ist das eine Neuheit?
Nicodemus: Nicht wirklich, würde ich sagen. Ein bisschen schon, weil es jetzt sozusagen wirklich gleichzeitig gesehen werden konnte. Aber der zeitliche Abstand ist ja immer geringer geworden, wenn Sie sich vorstellen, jetzt sehen Sie morgens einen Film in Cannes und eine Stunde später, Quatsch, 20 Minuten später stehen schon die ersten Kritiken im Netz, die Tageszeitungen sind am Tag danach, die Radiosender eben auch, am selben Tag noch. Also, im Grunde ist das jetzt gar nicht so ein großer Unterschied, qualitativ gesehen.
"Wer soll diese Flut überhaupt noch sichten?"
Heise: Sie sagten gerade, warum sollten eigentlich Festivals oder warum wird die Funktion, die Auswahlfunktion, dieses Kriterium, bei Festivals besonders wichtig sein, wenn jeder sich anschauen kann, was er möchte?
Nicodemus: Ja, gerade weil es eine solche Überfülle oder Überflut von Filmen gibt, wird diese kuratorische Funktion, glaube ich, immer wichtiger. Sie müssen sich vorstellen: Jeder Film, der jetzt in Berlin läuft auf dem Festival oder in Cannes oder in Venedig, für den sind 100 Filme abgelehnt worden. Also, wer soll diese Flut überhaupt noch sichten?
Und diese Filterfunktion von Festivals ist, glaube ich, immer wichtiger geworden. Ich habe hier heute Morgen einen Verleiher getroffen, der sagt, ich bin immer noch so dankbar für ein Festival wie Cannes, ich sitze mit 2000 Leuten im Kino, ein Film, den ich vorher auf DVD gesehen habe und einladen wollte, der kam hier überhaupt nicht an; einen anderen Film, den ich sehr interessant fand, wo ich aber dachte, ach, der hat beim Publikum keine Chance, der ist dann in Cannes ganz plötzlich hier zum Hit geworden! Und diese Art von auch Filter durch das Publikum dann, nach dem kuratorischen Akt, wird, glaube ich, immer wichtiger, der ist einfach unverzichtbar.
Heise: Gucken wir mal kurz durch Ihren Filter auf die diesjährige Cannes-Ausgabe, bisher jedenfalls: Gab es schon Filme, für die sich die Anfahrt gelohnt hat?
"Insgesamt ein eher schwaches Festival bisher"
Nicodemus: Ich muss sagen, es war insgesamt ganz ehrlich ein eher schwaches Festival bisher. Aber man ist dann doch beglückt, wenn man hier morgens um acht mit schweren Lidern im Kinosessel sitzt und dann eben gemeinsam mit 2.000 Menschen die Augen auf einmal ein bisschen weiter aufmacht! Also, ich habe hier zum Beispiel am Anfang einen Film gesehen, der heißt "Timbuktu" von dem mauretanischen Regisseur Abderrahmane Sissako, der erzählt einfach von der Islamisierung eines kleinen Dorfes, einer Kleinstadt in Mali und vom ganz alltäglichen religiösen Terror. Ein Film mit großen Wüstenbildern, die wirklich für die große Leinwand gemacht sind. Oder "Winter Sleep" von dem türkischen Regisseur Nuri Bilge Ceyland, ein dreistündiger Film, spielt in der türkischen Provinz, der handelt von der Klassengesellschaft in der Türkei, von den Gegensätzen zwischen Arm und Reich, von Stadt und Land, von der ganz großen Sprachlosigkeit in dieser Gesellschaft.
Und wenn man sieht, was jetzt in der Türkei so los ist, nach diesen Grubenunglücken, wie da die Gesellschaftsschichten und das Establishment und die einfachen Leute aufeinanderknallen, da hat man wirklich das Gefühl, ja, man kann hier in Cannes Filme sehen, die einem noch mal ein anderes Weltverständnis bieten. Und ich würde mir den nicht drei Stunden lang im Netz anschauen, ich würde auch gar nicht auf den stoßen! Das meine ich mit dieser Filterfunktion.
Heise: Über die Bedeutung der Filmfestivals aus Cannes hörten wir dazu unsere Filmkritikerin Katja Nicodemus. Ich danke Ihnen ganz herzlich, Frau Nicodemus!
Nicodemus: Gerne!
Heise: Heute Abend in unserer Sendung "Fazit" gibt es natürlich mehr Berichterstattung noch aus Cannes!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema