Film der Woche: "Weichen des Lebens"

China im Wandel

07:36 Minuten
Szene aus dem Film „Mountains may depart”.
Träumen vom Aufbruch, Staub an den Schuhen: eine Szene aus "Weichen des Lebens" © imago / Everett Collection
Von Jörg Taszman · 26.05.2021
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Der chinesische Regisseur Jia Zhangke wirft mit seinem Film "Weichen des Lebens" einen kritischen Blick auf das zeitgenössische China und dessen Materialismus. Er erzählt, wie das Streben nach Wohlstand zum Verlust der eigenen Kultur führt.

Um was geht es?

1999 in einer Industriestadt im Norden Chinas. Kurz vor dem Neujahr tanzt man zu "Go West" von Village People. Tao, eine junge Frau, steht zwischen zwei Männern, die sie seit ihrer Kindheit kennt: dem introvertierten, aufrechten Liangzi und dem Angeber Jinsheng. Zunächst verbringen sie noch gemeinsam Zeit im knallroten deutschen Auto von Jinsheng, der ein cleverer Geschäftsmann ist und kurzerhand die Kohlegrube aufkauft, in der Liangzi arbeitet. Dann kommt es zum Bruch der drei Freunde, und Tao entscheidet sich für Jinsheng.
2014, nach langen Wanderjahren und mit neuer Familie, taucht Liangzi wieder auf. Er ist schwer erkrankt und braucht viel Geld für seine angegriffene Staublunge. Tao, die längst von Jinsheng geschieden ist, unterstützt ihn.
2025 in Australien. Der erwachsene Sohn von Tao und Jinsheng wird nur Dollar genannt, kann nur noch Englisch und hat sich von seinem nur chinesisch sprechenden Vater, der nach der Scheidung das Sorgerecht bekam, völlig entfremdet.

Was ist das Besondere?

Der 2015 gedrehte Film des chinesischen Meisterregisseurs Jia Zhangke spielt in der Vergangenheit, Gegenwart und unmittelbaren Zukunft. 1999 ist noch im klassischen 4:3 Academy-Format gedreht, 2014 dann im üblichen 16:9 Kinoformat und der schon fast als Epilog wirkende futuristische Schlusspunkt in Cinemascope.
Getarnt als Liebesdrama und Dreiecksgeschichte handelt "Weichen des Lebens" von Lebensträumen wie Reichtum, der Sehnsucht nach dem Westen und den beschränkten materiellen Möglichkeiten für ganz normale, hart arbeitende Lohnempfänger. Am Ende steht, fern von China, die totale Entfremdung und Entkoppelung von der eigenen Kultur und Vergangenheit.

Fazit

Ein stilistisch wie inhaltlich überzeugendes Werk, das sich bewusst Ellipsen leistet, nicht alle Lebenswege gleichberechtigt weiterverfolgt und damit den Zuschauer immer wieder überrascht und fordert.
Gelungen ist auch das vielschichtige Spiel der drei Hauptdarstellerinnen und -darsteller. Schon wegen der Formatwechsel ist das ambitionierte Werk ein Film für die große Leinwand.
2015 lief er beim Festival in Cannes, brachte es in Frankreich auf knapp 300.000 Zuschauer und ist in Deutschland weder im Kino zu sehen gewesen noch auf DVD erhältlich. Lediglich der Koproduzent ARTE versteckte das Werk 2019 im Nachtprogramm unter dem deutschen Titel "Weichen des Lebens". Der Arthouse-Streamingdienst "Sooner" zeigt Jia Zhangkes Film nun unter dem internationalen Titel "Mountains May Depart" im chinesischen Original mit deutschen Untertiteln.

"Weichen des Lebens"
(Originaltitel: Mountains May Depart)
Regie: Jia Zhangke
Mit Tao Zao, Yi Zhang, Jing Dong Liang
China, Japan, Frankreich 2015, 131 Minuten
Zu sehen im Stream auf www.sooner.de

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