Fiktive Wirklichkeit statt Realismus
Der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa widmet sich in seinem 200 Seiten starken Großessay Victor Hugos Hauptwerk, den Monumentalroman "Die Elenden". Dabei will er vor allem das Urteil revidieren, dieser sei ein realistischer Roman, denn er weist zahlreiche historische Fehler nach. Vargas' Hauptthese: Es gehe Hugo nicht um Realismus, sondern um die "fiktive Wirklichkeit".
Warum Victor Hugo? Was mag den peruanisch-kosmopolitischen Schriftsteller Mario Vargas Llosa dazu getrieben haben, sich ausgerechnet Victor Hugo zuzuwenden in einem Großessay, der stramme 200 Seiten erreicht? Zumal der Autor selbst im Einleitungsabschnitt seines Essays die ernüchternde Schätzung des Hugo-Biographen Jean-Marc Hovasse ausbreitet, ein Leser, der sich vierzehn Stunden am Tag ausschließlich der Lektüre der Sekundärliteratur zu Victor Hugo widmen würde, wäre wohl rund zwanzig Jahre lang mit diesem Vollzeitjob (plus Überstunden) beschäftigt.
Hat es also ausgerechnet an Vargas Llosas Interpretation gefehlt? So vermessen ist unser Autor denn doch nicht, denn in jener Einleitung lesen wir sein Eingeständnis, auch nach jahrelanger Beschäftigung mit Hugo werde er wohl nie wissen, wer dieser Victor Hugo wirklich war. Das ist alles andere als ein Anspruch auf die letztgültige Deutung.
Auch die Vorlesungen, die Vargas Llosa 2004 als Gastprofessor an der Oxford University zum Thema gehalten hat und die den Grundstock für den vorliegenden Essay bildeten, liefern allenfalls eine äußere Begründung für eine derart innige Zugewandtheit.
Wir stoßen auf einen anderen Hinweis in der Einleitung: "Man kann sich heutzutage kaum noch vorstellen, welchen Bekanntheitsgrad Victor Hugo zu seiner Zeit (...) erreichte." Sollte hier der Schlüssel liegen? Hat sich der junge und überaus ehrgeizige Peruaner, der als junger Mann nach Paris kam mit dem festen Vorsatz, sein Berufsleben als Schriftsteller zu verbringen, früh am Beispiel eines seiner großen Vorgänger entzündet? Man darf es vermuten, denn die unverhohlene Bewunderung, die er dem Objekt seiner Untersuchung als erfolgreicher Literat, politischer Akteur und Pamphletist, als eigenständiger Denker und Liebhaber der Frauen entgegenbringt, lässt beinahe keinen anderen Schluss zu.
Und so lesen wir die Frage "Wer war Victor Hugo?" als die leicht camouflierte Version des eigentlichen Interesses: Wie hat er das gemacht?
Vargas Llosa hat sich Hugos Hauptwerk, den Monumentalroman "Die Elenden" vorgenommen, um dies zu ergründen. Er analysiert den Roman und hat dabei in erster Linie ein gut abgelagertes Fehlurteil im Blick, das den Roman seit seinem Erscheinen 1862 begleitet:
"Die Elenden" sei ein "realistischer" Roman, der die Zeit und das Geschehen mit hoher Genauigkeit abbilde. Vargas Llosa demontiert diese Zuschreibung, indem er zahlreiche "Gegenbeweise" anführt: Er macht als die eigentliche Hauptfigur den Erzähler mit all seiner "gottähnlichen" Willkür aus – einen "göttlichen Stenographen" tauft er diesen allwissenden, den Rhythmus und den Stoff nach eigenem Gutdünken steuernden, dosierenden, dabei beliebig abschweifenden, kommentierenden und dozierenden Erzähler.
Die zahlreichen umfangreichen Monologe der Romanfiguren seien eher wirklichkeitsfremd, historische Details deutlich verfremdet oder schlicht übergangen worden. Das Elend der "Elenden" sei völlig überzeichnet, beispielsweise sei es nachweislich falsch, dass jemand für den Diebstahl eines Brotes zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden wäre (wie es Jean Valjean im Roman widerfuhr). Die Barrikadenszenen – mit dem sympathisch-tragischen Gassenjungen Gavroche – deuteten allenfalls vage eine "linke" Utopie an, die historischen Hintergründe des Barrikadenaufstands blieben völlig unklar.
Mit all diesen (und vielen weiteren) Beispielen stützt Vargas Llosa vornehmlich seine Hauptthese: Es gehe nicht um den Realismus, sondern um die "fiktive Wirklichkeit", die der/ein Roman aufschichte. Dieses "subtil verzerrte Abbild der Gesellschaft" sei die Welt und Wirklichkeit des Romans, die Abweichungen von der wahren Wirklichkeit ergänzten diese und stellten sie in ein eigenes, dabei suggestiv strahlendes Licht.
An Hand des (dann nicht beendeten und nicht publizierten) "philosophischen Vorworts", das Hugo zu den "Elenden" verfasste, sowie unter Hinzuziehung vieler biographischer Details untermauert Vargas Llosa die Erkenntnis, dass es Hugo am wenigsten um den Realismus zu tun gewesen sei. Vielmehr habe der Autor selbst seinen Roman als "ein Drama, in dem das Unendliche die Hauptrolle spielt", gesehen.
Von tiefer Religiosität durchdrungen, politisch wandlungsbereit und –fähig (vom Monarchisten zum Liberalen zum anarchistisch beeinflussten Sozialdemokraten), von den Erkenntnissen der Naturwissenschaften angeregt, habe Hugo diesem "Unendlichen" doch eine Richtung abschauen und in seinem Roman gestalten wollen: einen allmählichen, aber doch erkennbaren Fortschritt der Menschheit.
Vargas Llosas Näherung an Victor Hugo ist in ihrer detaillierten Textkritik überaus materialreich und hat ihre besten Momente, wo sie zu einer Art "Werkstatt-Dialog" zwischen dem toten und dem lebenden Schriftsteller wird. Es ist solchen Versuchen aber wohl eingeschrieben, dass sie ihr Eigentliches immer nur einkreisen, aber nie wirklich erreichen können. Das ist hier nicht anders.
Leider vermisst man in diesem Essay einige naheliegende Aspekte, die der – wenn auch spekulierenden – Untersuchung wert gewesen wären: Mit keinem Wort äußert sich Vargas Llosa zu einem Phänomen wie der Inspiration (sein Essay handelt von jenen sprichwörtlichen 90 Prozent Transpiration des Kunstprozesses), und auch die Definition der Rolle von Literatur erscheint etwas dürftig:
"Tatsächlich aber lässt jedes literarische Werk den Leser `das Unmögliche´ leben, indem es ihn seines gewöhnlichen Ichs enthebt, die Schranken seines Daseins durchbricht und sein Leben durch die Identifikation mit den Figuren der Fiktion vielseitiger und intensiver macht oder auch verworfener und grausamer oder einfach nur anders, als es das Hochsicherheitsgefängnis des realen Lebens zulassen würde. Deshalb und dafür existiert die Literatur."
Mario Vargas Llosa: Victor Hugo und die Versuchung des Unmöglichen.
Essay. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006.
200 Seiten, 22,80 Euro.
Hat es also ausgerechnet an Vargas Llosas Interpretation gefehlt? So vermessen ist unser Autor denn doch nicht, denn in jener Einleitung lesen wir sein Eingeständnis, auch nach jahrelanger Beschäftigung mit Hugo werde er wohl nie wissen, wer dieser Victor Hugo wirklich war. Das ist alles andere als ein Anspruch auf die letztgültige Deutung.
Auch die Vorlesungen, die Vargas Llosa 2004 als Gastprofessor an der Oxford University zum Thema gehalten hat und die den Grundstock für den vorliegenden Essay bildeten, liefern allenfalls eine äußere Begründung für eine derart innige Zugewandtheit.
Wir stoßen auf einen anderen Hinweis in der Einleitung: "Man kann sich heutzutage kaum noch vorstellen, welchen Bekanntheitsgrad Victor Hugo zu seiner Zeit (...) erreichte." Sollte hier der Schlüssel liegen? Hat sich der junge und überaus ehrgeizige Peruaner, der als junger Mann nach Paris kam mit dem festen Vorsatz, sein Berufsleben als Schriftsteller zu verbringen, früh am Beispiel eines seiner großen Vorgänger entzündet? Man darf es vermuten, denn die unverhohlene Bewunderung, die er dem Objekt seiner Untersuchung als erfolgreicher Literat, politischer Akteur und Pamphletist, als eigenständiger Denker und Liebhaber der Frauen entgegenbringt, lässt beinahe keinen anderen Schluss zu.
Und so lesen wir die Frage "Wer war Victor Hugo?" als die leicht camouflierte Version des eigentlichen Interesses: Wie hat er das gemacht?
Vargas Llosa hat sich Hugos Hauptwerk, den Monumentalroman "Die Elenden" vorgenommen, um dies zu ergründen. Er analysiert den Roman und hat dabei in erster Linie ein gut abgelagertes Fehlurteil im Blick, das den Roman seit seinem Erscheinen 1862 begleitet:
"Die Elenden" sei ein "realistischer" Roman, der die Zeit und das Geschehen mit hoher Genauigkeit abbilde. Vargas Llosa demontiert diese Zuschreibung, indem er zahlreiche "Gegenbeweise" anführt: Er macht als die eigentliche Hauptfigur den Erzähler mit all seiner "gottähnlichen" Willkür aus – einen "göttlichen Stenographen" tauft er diesen allwissenden, den Rhythmus und den Stoff nach eigenem Gutdünken steuernden, dosierenden, dabei beliebig abschweifenden, kommentierenden und dozierenden Erzähler.
Die zahlreichen umfangreichen Monologe der Romanfiguren seien eher wirklichkeitsfremd, historische Details deutlich verfremdet oder schlicht übergangen worden. Das Elend der "Elenden" sei völlig überzeichnet, beispielsweise sei es nachweislich falsch, dass jemand für den Diebstahl eines Brotes zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden wäre (wie es Jean Valjean im Roman widerfuhr). Die Barrikadenszenen – mit dem sympathisch-tragischen Gassenjungen Gavroche – deuteten allenfalls vage eine "linke" Utopie an, die historischen Hintergründe des Barrikadenaufstands blieben völlig unklar.
Mit all diesen (und vielen weiteren) Beispielen stützt Vargas Llosa vornehmlich seine Hauptthese: Es gehe nicht um den Realismus, sondern um die "fiktive Wirklichkeit", die der/ein Roman aufschichte. Dieses "subtil verzerrte Abbild der Gesellschaft" sei die Welt und Wirklichkeit des Romans, die Abweichungen von der wahren Wirklichkeit ergänzten diese und stellten sie in ein eigenes, dabei suggestiv strahlendes Licht.
An Hand des (dann nicht beendeten und nicht publizierten) "philosophischen Vorworts", das Hugo zu den "Elenden" verfasste, sowie unter Hinzuziehung vieler biographischer Details untermauert Vargas Llosa die Erkenntnis, dass es Hugo am wenigsten um den Realismus zu tun gewesen sei. Vielmehr habe der Autor selbst seinen Roman als "ein Drama, in dem das Unendliche die Hauptrolle spielt", gesehen.
Von tiefer Religiosität durchdrungen, politisch wandlungsbereit und –fähig (vom Monarchisten zum Liberalen zum anarchistisch beeinflussten Sozialdemokraten), von den Erkenntnissen der Naturwissenschaften angeregt, habe Hugo diesem "Unendlichen" doch eine Richtung abschauen und in seinem Roman gestalten wollen: einen allmählichen, aber doch erkennbaren Fortschritt der Menschheit.
Vargas Llosas Näherung an Victor Hugo ist in ihrer detaillierten Textkritik überaus materialreich und hat ihre besten Momente, wo sie zu einer Art "Werkstatt-Dialog" zwischen dem toten und dem lebenden Schriftsteller wird. Es ist solchen Versuchen aber wohl eingeschrieben, dass sie ihr Eigentliches immer nur einkreisen, aber nie wirklich erreichen können. Das ist hier nicht anders.
Leider vermisst man in diesem Essay einige naheliegende Aspekte, die der – wenn auch spekulierenden – Untersuchung wert gewesen wären: Mit keinem Wort äußert sich Vargas Llosa zu einem Phänomen wie der Inspiration (sein Essay handelt von jenen sprichwörtlichen 90 Prozent Transpiration des Kunstprozesses), und auch die Definition der Rolle von Literatur erscheint etwas dürftig:
"Tatsächlich aber lässt jedes literarische Werk den Leser `das Unmögliche´ leben, indem es ihn seines gewöhnlichen Ichs enthebt, die Schranken seines Daseins durchbricht und sein Leben durch die Identifikation mit den Figuren der Fiktion vielseitiger und intensiver macht oder auch verworfener und grausamer oder einfach nur anders, als es das Hochsicherheitsgefängnis des realen Lebens zulassen würde. Deshalb und dafür existiert die Literatur."
Mario Vargas Llosa: Victor Hugo und die Versuchung des Unmöglichen.
Essay. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006.
200 Seiten, 22,80 Euro.