Figuren als Träger von Ideen

31.10.2006
Thomas Meinecke, Mitbegründer der Band FSK, untersucht in seinen Büchern den Zusammenhang von geschlechtlicher Konstruktion und deren Niederschlag im Pop. Um all seine Theorieversatzstücke und Anekdoten unterzubringen, sind seine Figuren notwendigerweise oft schlichte Charaktermasken. Die kurzen Erzählungen in "Feldforschung" entgehen aber der Falle, zur ermüdenden Ideenliteratur zu degenerieren.
Das Schaffen von Thomas Meinecke ist ziemlich einzigartig, nicht nur in der deutschsprachigen Literatur. "Es muss immer weitergeh'n, Musik als Träger von Ideen", sangen Kraftwerk in den Achtzigern - ein Satz, der sich ohne weiteres auch auf Meineckes Schaffen übertragen lässt. Nicht nur, weil Meinecke selbst auch Musiker ist. Seine Band FSK gibt es seit den frühen Achtzigern, sie ist einer der letzten Gruppen jener aufregenden Tage, die heute noch aktiv ist. Sondern auch, weil seine Romane "Tomboy" und "Hellblau" oder sein neuer Erzählungsband "Feldforschung" Ideenliteratur sind. Das bedeutet, dass Meinecke darin nachzeichnet, wie sich geschlechtliche oder ethnische Identitätskonstrukte mit Bildern und Klängen der Popkultur verbinden und verschalten, und wie flüssig dabei erstere werden können und wie durchlässig letztere.

Ein schönes Beispiel für Meineckes Methode findet sich in der Erzählung "Kings & Queens". Am Anfang steht eine Frage: Wie nennt man Frauen, die versuchen, über ihre Kleidung als Transvestiten durchzugehen? Frauen also, die sich wie Männer kleiden, die einer bestimmten Vorstellung von Überfeminisierung zu entsprechen versuchen. Drag King? Nein, das sind Frauen, die sich kleiden wie Männer. Drag Princess? Cross Dresser? Faux Queen? Lesbian Drag Queen?

Die Erzählung ist als Dialog geschrieben - Mütter, Drag-Aktivisten und Uni-Dozentinnen unterhalten sich - und je tiefer die Gesprächspartner in ihr Thema einsteigen, desto stärker verschwindet die mögliche Antwort in nicht auflösbaren komplizierten individuellen Konstruktionen von Identität, die sich ja nie bis ins letzte beschreiben lassen können.

Meineckes Bücher sind immer anregend, haben aber oft ein Problem: wer sich so intensiv mit der Dekonstruktion von Identität beschäftigt, kann natürlich keine im klassischen Sinne funktionierenden Charaktere aufrufen. Eine eindeutig festgezurrte Identität würde ja dem Erzählten widersprechen. Dementsprechend sind Meineckes Protagonisten meist schlichte Charaktermasken, Figuren, deren wesentliche Aufgabe darin besteht, den endlosen Strom von Erkenntnissen und Anekdoten, Theorieversatzstücken und Assoziationen zu ordnen, den Meinecke über die Seiten fließen lässt. Das kann seine ermüdenden Momente haben.

Das Schöne an dem Erzählband "Feldforschung" ist, dass Meinecke darin dieser Falle entgeht. Zum einen sind die Geschichten kurz, deshalb sind sie wesentlich fokussierter, als es ein Roman sein kann. Zum anderen erlauben sie es dem Erzähler, im gleichen thematischen Feld zu bleiben und trotzdem jedes Mal neu anzusetzen. Die elf Geschichten sind entstanden als erzählerische Begleitung zu der Ausstellung "Das Achte Feld. Geschlechter, Leben und Begehren in der Kunst seit 1960" in Köln, die sich Fragen der Konstruktion und Identität von Geschlecht in der Kunst widmet. Jede Erzählung handelt von einem kleinen Kippmoment in der Geschichte der sexuellen Kulturen, analog zum achten Feld eines Schachbretts, auf dem sich der Bauer in die zuvor geschlagene Dame verwandelt.

In einem Fall geht es um die Koinzidenz, dass die New Yorker Krawalle in der Christopher Street, die ein wichtiges Moment in der Geschichte der Schwulenbewegung bilden, unmittelbar nach der Beerdigung der Schwulenikone Judy Garland begannen. Ist so etwas wirklich nur Zufall?

In einem anderen um die Anzeige im Time Magazine, mit der Cindy Crawford und Richard Gere versuchten, den heterosexuellen Charakter ihrer Beziehung klarzustellen. Welche Missverständnisse sollen hier ausgeräumt werden? Oder um den Amoklauf eines homophoben Attentäters in einer Bar in einer amerikanischen Kleinstadt, dessen Erzählung die verschiedenen Verbindungen von Religion und Sexualität ausleuchtet.

Rezensiert von Tobias Rapp

Thomas Meinecke: "Feldforschung. Erzählungen"
edition suhrkamp,
144 S., 8,50 Euro