Feuilletonistische Streifzüge durch eine vergangene Welt

20.12.2007
Tbilissi, das heutige Tiflis und Hauptstadt von Georgien, war durch die zahlreichen mongolischen, arabischen, persischen, türkischen Eroberer vielfältigen kulturellen Einflüssen ausgesetzt. Die Buntheit und Vielfalt der Traditionen, Lieder, Gedichte, aber auch der literarischen Boheme porträtierte Iosseb Grischaschwili 1927 in zahlreichen Feuilletons. Sie künden von einer Welt, die damals schon der Moderne gewichen war.
Wenn die Zeitläufte große Umwälzungen mit sich bringen, ist es eine durchaus noble Aufgabe der Literatur, das Vergehende in Texten festzuhalten, bevor es ganz verschwindet oder als marginalisierte Folklore "künstlich" wird. Als der Dichter, Theatermann und Literaturwissenschaftler Iosseb Grischaschwili (1889 -1965) seine Textsammlung "Die literarische Boheme des alten Tbilissi" (so der Originaltitel der vorliegenden Sammlung) 1927 publizierte, hatte sich eine solche Wandlung gerade vollzogen. Die anderthalb Jahrtausend alte Stadt mit ihrer bewegten Geschichte zwischen mongolischen, arabischen, persischen, türkischen Eroberern und entsprechend vielfältigen kulturellen Einflüssen war - unter russischer Vormacht - dabei, der europäischen Moderne entgegenzuschreiten. "In unser Leben ist die Technik eingedrungen: ein neuer Geist, ein neues Denken, kurz, ein neuer Mensch mit einer neukonstruierten Psyche", resümiert der Autor in seinem Nachwort und bedauert zugleich, wie jäh "der romantische Geist aus unserem Leben und aus der Literatur verschwunden" ist.

Tatsächlich porträtieren diese feuilletonistischen Streifzüge eine schon vergangene Welt. Der Verfasser stellt eine Art Bindeglied dar, allein dadurch, dass er mehrere der literarischen Bohemiens, über die er schreibt, selbst noch kennengelernt hat. Es geht allerdings nicht nur um die literarische Szene - Grischaschwili beschreibt eingehend jenen Boden, auf dem diese Szene gedeihen konnte. Und das sind historisch motivierte derbe Stadt- oder Stadtteilfeste, es sind Legenden, die über die Jahrhunderte mündlich überliefert wurden, bis sie schließlich jemand aufgezeichnet hat, es sind Hochzeitsbräuche und Bekleidungssitten, es ist ein städtisches Ambiente, das Handwerker und ihre strengen Zunftregeln prägen, das aber ebenso orientalische Üppigkeit ausstrahlt mit Hammel- und Schaschlikbratern, Badehäusern und - natürlich - Weinschänken.

Hier nun nähert sich Grischaschwili dem eigentlichen Zentrum seiner Recherchen, den literarischen Bohemiens. Denn diese Weinschänken sind für sie mindestens ein zweites Zuhause. Hier treffen sie ihr Publikum und ihre Kollegen, tragen vor, streiten viel und trinken. Nicht die akademischen Höhen der Dichtung sucht der Autor, sondern die "Niederungen" einer authentischen Volkskultur, geschrieben oft von Arbeitern, Handwerkern oder Kleinhändlern. Zahlreiche Beispiele von Gedichten, die oft auch gesungen wurden, illustrieren diesen Literatur-Basar, auf dem es thematisch alles gab: von der unverwüstlichen Liebeslyrik bis zum handfesten politischen Protest-Gedicht.

Grischaschwilis Feuilletons skizzieren einen gerade vergehenden und vielleicht schon ganz vergangenen Moment - eine Einladung womöglich, sich einer überaus fremden Kultur anzunähern. Eine Annäherung im übrigen, die schon einmal deutlich fortgeschrittener war als in der Gegenwart: Die Illustrationen dieses Bandes, Postkarten-Motive des Georgiendeutschen Oskar Schmerling (1863 - 1938), der diese Grischaschwili ausdrücklich für seine Publikation übergeben hat, sind ein Zeugnis davon.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Iosseb Grischaschwili: Niemals hat der Dichter eine Schönere erblickt ...
Mit Bildern aus dem alten Tbilissi von Oskar Schmerling
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Leonard Kossuth
Aus dem Russischen und Georgischen von Kristiane Lichtenfeld
NORA Verlag, Berlin 2007