Feuerwerk skurriler Einfälle

Andrej Kurkow schildert das Leben der unteren Mittelschicht in den Vororten der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Einige arbeiten als Sicherheitsleute und lösen gewalttätige Entwicklungen aus. Daneben gibt es aber auch reichlich absurde Momente wie in Muttermilch badende Politiker.
In jenem breiten Streifen Niemandsland, der sich auftut zwischen dokumentarischer Beschreibung der Gegenwart und einer erzählerischen Fantasie, die sich bis in absurde Höhen schwingen kann, wohnt die Literatur von Andrej Kurkow. Beide Grenzgebiete markieren in seinem neuesten Roman das Geschehen.

Da ist – auf der einen Seite – die atmosphärisch dichte Schilderung dessen, wie das Leben in der heutigen Ukraine sich "anfühlt". Beschrieben wird das am Beispiel einer Art etablierter unterer Mittelschicht, die die neuen Verhältnisse hervorgebracht haben. Man gehört zum unteren Teil der Mittelschicht, weil nicht daran zu denken ist, dass man sein Leben in der teuren Hauptstadt Kiew verbringen könnte, stattdessen wohnt man in den billigeren und primitiveren Vororten und –dörfern der Metropole. Und doch ist man etabliert, denn die Teilhabe am Wirtschaftskreislauf, den die Hauptstadt erzeugt, ist für den Moment gesichert. Nicht etwa in einem produzierenden Gewerbe, vielmehr im Dienstleistungssektor.

Praktisch alle männlichen Protagonisten dieses Romans sind Wachleute und Sicherheitspersonal auf verschiedenen Ebenen (Flughafen, Parlament, Politik), die Frauen arbeiten entweder gar nicht, als Aufsicht in einem Spielsalon oder sie verdienen sich etwas Geld, indem sie ihre überschüssige Muttermilch verkaufen.

In diesem Milieu, das durchaus vielfältige Berührungspunkte zu den mafiösen und politischen Spitzenbereichen der Gesellschaft aufweisen kann, entwickelt Kurkow seine Romanhandlung in drei Strängen, die er wechselseitig erzählt und immer stärker miteinander verschränkt.

Da ist Irina, eine junge alleinstehende Mutter, die sich täglich in aller Herrgottsfrühe nach Kiew aufmacht, um ihre Muttermilch in einem dubiosen Institut für Geld abpumpen zu lassen und der Meinung ist, diese Milch käme anderen Kindern zugute (was nicht der Fall ist).

Da ist Dima, ein Milizionär der Drogenfahndung am Flughafen, der sich dazu hinreißen lässt, einen höchst verdächtigen Koffer zu stehlen, in dem sich seltsame Ampullen befinden, deren Verkauf Mord und Totschlag nach sich zieht.

Und da ist Semjon, Sicherheitschef und rechte Hand eines Parlamentsabgeordneten, der entdeckt, dass er als Mondsüchtiger des Nachts offenbar ein regelrechtes Doppelleben führt.

Und hier kommt – auf der anderen Seite – jene Fantasie ins Spiel, die manchmal absurde Züge annimmt. Wundermittel, die sowohl heilen als auch den Gerechtigkeitssinn stärken, Katzen mit ausgeprägtem Beschützer- und Killerinstinkt, in Muttermilch badende Politiker, die mit dem Rohstoff auch noch eine Käseproduktion in Gang setzen, eine geheime Bruderschaft von Mondsüchtigen, die am Ende die Macht im Land übernimmt – Kurkow entzündet ein Feuerwerk skurriler Einfälle, um eine Gesellschaftssatire zu inszenieren, deren honigsüßes Happy-End eher bitter aufstößt.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Andrej Kurkow: Der Milchmann in der Nacht
Roman. Aus dem Russischen von Sabine Grebing
Diogenes Verlag, Zürich 2009
538 Seiten, 22,90 Euro